Liebe Leserin, lieber Leser,
im Oktober 2019 warb der deutsche Gesundheitsminister in Mexiko um Pflegekräfte für deutsche Kliniken. Kurz zuvor hatte sein Ministerium die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegekräfte – DeFA – gegründet. Der umtriebige Herr Spahn lässt sich dabei nicht durch Kritik irritieren. Auch wenn es für denselben Zweck seit 2013 bereits eine andere, ebenfalls staatliche Struktur mit Namen triple win, u.a. getragen von der Bundesagentur für Arbeit, gibt. Schließlich geht es um einen Boom-Markt, in dem sich noch ein Dutzend private Vermittler tummeln. Während im Jahr 2012 „nur“ 500 ausländische Pflegekräfte eine Zulassung als Pflegekraft in Deutschland beantragten, waren es 2019 bereits 12.000. 2020 soll es laut Bundesgesundheitsministerium „trotz der Corona-bedingten Einschränkungen“ allein seitens der DeFA weitere „1600 Vereinbarungen für die Begleitung [entsprechender] Anerkennungsverfahren“ gegeben haben. Angeworben werden Pflegekräfte u.a. aus Serbien, Mexiko und Kolumbien. Die Vermittlungsgebühren, die Kliniken und Heime zahlen, liegen bei 10.000 bis 15.000 Euro pro Pflegekraft. Der Jahresumsatz im Vermittlungsmarkt beträgt mehr als 100 Millionen Euro.
Das Geschäft mit den Pflegekräften ist bereits in normalen Zeiten abstoßend und unter Epidemie-Bedingungen pervers. In den Ländern, in denen abgeworben wird, herrscht Pflegemangel. Die Epidemie wütet. Allein Mexiko hatte bis zum 1. Dezember 105.665 Corona-Tote zu beklagen – ein Drittel der Corona-Toten in der EU. Die Ärzte und das Pflegepersonal in den Krankenhäusern sind völlig überfordert. In einer solchen Situation wirbt der Christen-Politiker Menschen, die dort ausgebildet wurden, für deutsche Altenheime und Krankenhäuser ab. Nicht, weil es in Deutschland grundsätzlich zu wenige Pflegekräfte geben würde. Sondern einzig und allein deshalb, weil die Pflegekräfte in unserem Land so miserabel bezahlt werden und mit derartig harten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, dass es unter diesen konkreten Bedingungen nicht ausreichend eigenes Personal gibt. Wer zu dem Thema die Recherche des Correctiv-Teams* liest, der stellt im Übrigen fe st: Der Umgang mit den im Ausland angeworbenen Pflegekräften ähnelt der Art und Weise, wie die bulgarischen und rumänischen Werkvertragsarbeiter in der deutschen Fleischindustrie behandelt werden. Das Correctiv-Team zitiert dazu Christiane Brors, Professorin für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Oldenburg, wie folgt: „Das ist moderne Schuldknechtschaft.“ Ausführlich wird das Thema Pflege, Krankenhäuser und Corona auf den Seiten 30 bis 57 behandelt.
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Zum Jahresende legen wir uns richtig ins Zeug, um Ihnen eine nochmals bessere Zeitschrift zukommen zu lassen. Die gestalterischen Veränderungen, die es seit den letzten beiden Ausgaben gibt, werden weiter verfeinert. Ein neues Faltblatt, das für Lunapark21 wirbt, liegt diesem Heft bei. Im September wandten wir uns an alle, die ein Silber-Förder-Abo (50 Euro im Jahr) haben und warben für ein Upgrade zu einem Gold-Förder-Abo (100 Euro im Jahr) – erfreuliche zehn Prozent reagierten positiv. Ein Abonnent begründete das Upgrading politökonomisch wie folgt: „Ja, ich möchte mein Abo auf Gold hochstufen. Wo bekommt mensch sonst (beim aktuellen Goldpreis) so viel Gold wertes für so wenig Geld?“ Und als wir im Prozess der Heftproduktion feststellten, dass wir für den eigentlichen 68-Seiten-Heftumfang zu viel gutes Material haben, erhöhten wir die Seitenzahl auf 76 – ein X-mas-Surplus für Sie. Über eine Spende – unter anderem als kleine Su rplus-Kofinanzierung– freuen wir uns (siehe beiliegender Brief).
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Ich wünsche Ihnen – man muss in diesen Zeiten wohl hinzufügen: Ich wünsche das von Herzen und ganz ohne Sarkasmus – ein paar ruhige, erholsame Tage und neue Kraft für das gemeinsame, solidarische Engagement.
Winfried Wolf · Chefredakteur Lunapark21
Inhalt Heft 52
3 editorial
4 lunart Ein Wandbild
6 quartalslüge IV/MMXX „Die Corona-Epidemie kam von außen. Wir müssen damit leben“
8 kolumne winfried wolf Champagner-Politik für alle! Reichtum und Macht in der Corona-Krise
welt & wirtschaft
10 Scheitert die EU an nationalen Fliehkräften? · Hannes Hofbauer
14 Arbeitsunrecht & Wanderarbeit: Neoliberalismus in den baltischen EU-Staaten · Werner Rügemer
18 Das EU-MERCOSUR-Abkommen · Julia Eder
20 „Grüne Revolution“ in Afrika: Projekt gescheitert, Geld verbrannt · Peter Clausing
feminismus & ökonomie
23 Antifeministische Diskurse · Andreas Kemper
welt & bilder
26 23.11. – Paris: Die Nacht der Schande · Fotos der französischen Fotografin Anne Paq
historisch-kritisches wörterbuch des marxismus
spezial >> gesundheitssektor – epidemie – krankenschwestern
30 einleitung
31 „Uups, der Winter kommt!“ Die zweite Welle der Epidemie war lange angekündigt · Winfried Wolf
37 Kliniksterben in Coronazeiten: Krankenhaus-Schließungen gefährden Ihre Gesundheit! · Carl Waßmuth
38 Herrschende greifen aus dem Corona-Nebel an · Manfred Sohn
40 Der autoritäre Staat macht sich breit · Hannes Hofbauer
41 Warum Kulturarbeit bezahlt werden sollte · Jürgen Bönig
43 Pflege in Corona-Zeiten: Die Marktwirtschaft richtet das nicht · Wolfgang Hien & Hubertus von Schwarzkopf
48 Krankenschwestern 1: Eine kleine Geschichte eines radikal veränderten Berufsstands · Marcel van der Linden
56 Krankenschwestern 2: Vom fatalen Frauenbild zur Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ · Winfried Wolf
58 andré geicke: leseprobe „In der Männer-Republik“ Torsten Körner & „Revolte in Hongkong“ Au Loong-Yu
59 200 jahre engels quartalsbericht 04/2020
60 „…können wir nur selber tun!“ Zur Dialektik des Handelns · Jürgen Bönig
Kultur
62 Engels mit Brille: die Graphic Novel „Engels. Unternehmer & Revolutionär“ · Georg Fülberth
64 Ein Denkmal gegen Stuttgart21 · Winfried Wolf
ort & zeit
67 Der Spiegelsaal von Versailles · Christan Bunke
geschichte & ökonomie
70 Entstehung & Entwicklung des Deutschen Reichs · Thomas Kuczynski
73 geisterbahn Die Füße der Reichen · Jürgen Bönig
74 strichcode Kurzportraits der im Heft vetretenen Foto- und Kunstproduzierenden · Impressum
cover Joachim Römer auf Grundlage eines Fotos von Hans-Dieter Hey, R-mediabase (https://r-mediabase.eu, siehe Seite 74)