Totes Pferd wiederbelebt

Das EU-MERCOSUR-Abkommen in der finalen Runde

Die Europäische Union plant bereits seit Längerem die Unterzeichnung eines Abkommens mit den MERCOSUR-Staaten, den Ländern des Gemeinsamen Marktes des Südens, Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Während die Europäische Kommission die Vorteile eines solchen Abkommens betont, mehren sich die kritischen Stimmen. In der öffentlichen Debatte werden vor allem negative Folgen für Umwelt und Landwirtschaft diskutiert. Die Probleme sind aber umfangreicher.

Lahme Ente

Deutschland übernahm im Juli 2020 die EU-Präsidentschaft mit dem Ziel, das EU-MERCOSUR-Abkommen noch in demselben Jahr in trockene Tücher zu bringen. Bereits 1995 wurde mit dem MERCOSUR, dem Mercado Commún del Sur, ein erstes Assoziationsabkommen unterzeichnet. Die südamerikanischen Länder wurden damals durchweg neoliberal regiert und setzten auf Weltmarktintegration. Den südamerikanischen Regierungen war aber die von der EU gebotene Erhöhung von Einfuhrquoten im Aus-tausch gegen Außenzollsenkungen des MERCOSUR nicht ausreichend. Die weiteren Verhandlungen verliefen im Sand.

Unter dem sogenannten „progressiven Zyklus“ lateinamerikanischer Linksregierungen in den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts war an eine Wiederbelebung des Prozesses nicht zu denken. Erst mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien im Jahr 2015 und dem Putsch gegen Dilma Rousseff ein Jahr später in Brasilien kamen wieder neoliberale Kräfte in den großen MERCOSUR-Ländern ans Ruder.

Infolgedessen wurden die Verhandlungen über das EU-MERCOSUR-Abkommen wieder aufgenommen und gelangten schließlich im Sommer 2019 zum Abschluss. Würde das Abkommen ratifiziert, beträfe es 780 Millionen Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks. Der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beider Blöcke belief sich im Jahr 2018 auf 88 Milliarden Euro bei Gütern und auf 34 Milliarden Euro im Dienstleistungsbereich.

Katze im Sack

Es ist das umfänglichste Handelsabkommen, das die EU je ausverhandelt hat. Die Verhandlungen wurden dabei auf EU-Ebene im Geheimen geführt, und Vertragstexte waren lange Zeit nicht öffentlich zugänglich. Bekannt ist, dass das Assoziationsabkommen aus zwei Teilen besteht, einem präferentiellen Handelsabkommen und einem politischen Abkommen, das die zukünftige Zusammenarbeit in unterschiedlichen Politikbereichen regelt. Vom ersteren sind einige Kapitel bisher unveröffentlicht, die Inhalte des politischen Abkommens liegen noch völlig im Dunkeln. Nicht nur aus diesem Grund könnten Gegenstimmen von nationalen Regierungsvertretern im Europäischen Rat die Ratifizierung des Abkommens noch verhindern, während es im MERCOSUR danach aussieht, dass alle Mitgliedsstaaten das Abkommen in Kraft setzen wollen.

Ein Kuhhandel

Die offizielle EU-Rhetorik betont, dass das Abkommen für beide Seiten Vorteile bringen wird. Das ist auch nicht falsch – mit der kleinen Einschränkung, dass auf beiden Seiten bestimmte Akteure die Gewinner sind. Mit der Ratifizierung des Abkommens verpflichten sich die MERCOSUR-Staaten, hohe Einfuhrzölle auf EU-Industrieerzeugnisse in den nächsten 10 bis 15 Jahren vollständig abzubauen (siehe Grafik 1). Aktuell gelten noch Zollsätze von 35 Prozent für Autos, 14 bis 18 Prozent für Autoteile, 14 bis 20 Prozent für Maschinen, bis zu 18 Prozent für Chemikalien, bis zu 14 Prozent bei Arzneimitteln und 35 Prozent für Kleidung und Schuhe. Auch für die Einfuhr von Agrargütern und Lebensmitteln aus der EU sollen die zollfreien Quoten erhöht werden. Der Wegfall dieser Handelsschranken ist im Sinne der neo-merkantilistischen Handelsstrategie der EU erstrebenswert, da viele Mitgliedsstaaten auf exportgetriebenes Wachstum statt auf die Stärkung der Binnennachfrage setzen. Auch für transnationale Konzerne mit Hauptquartier in der EU sind die Vorteile offensichtlich. Im Bereich der Industriegüter sind sie definitiv konkurrenzfähiger als Unternehmen aus Argentinien und Brasilien, die beide, im Unterschied zu Paraguay und Uruguay, über eine relativ diversifizierte Industriestruktur verfügen.

Auf Seiten der MERCOSUR-Länder ist vor allem das sogenannte Agrobusiness an der Umsetzung des Abkommens interessiert. Zollbegünstigte Quoten für Exporte in die EU würden für Rindfleisch und Hühnerfleisch um jeweils knapp 50 Prozent erhöht (siehe Grafik 2). Für pflanzliches Ethanol würden sie gar auf das Siebenfache heraufgesetzt. Auch Sojaexporteure rechnen bei Abschluss des Abkommens mit gesteigerten Ausfuhren in die EU. Die Industrieverbände und Gewerkschaften der MERCOSUR-Länder waren hingegen lange Zeit skeptisch. Während das für die großen Gewerkschaftsverbände noch immer gilt, kam es in den Reihen der Industrie zu einem Meinungswandel. Die beiden großen Industrieverbände Brasiliens – CNI und FIESP – gaben schon 2013 den Widerstand auf. Auch in Argentinien ist die strikte Ablehnung des Unternehmerverbandes UIA einer ambivalenten Position gewichen. Es versprechen sich also auch im MERCOSUR manche Unternehmen Vorteile vom Ab kommen. Und so konnte die Verhandlung des Abkommens dieses Mal weiter voranschreiten als während der 1990er Jahre.

Pferdefuß

Kaum thematisiert werden von Seiten der Europäischen Kommission die negativen Auswirkungen des Abkommens – insbesondere im MERCOSUR. Die zu erwartenden vermehrten Agrarexporte aus dem MERCOSUR werden zur Ausweitung von Weide- und Anbauflächen vor Ort führen, was wiederum die Waldrodung im Amazonas, im Pantanal und im Gran Chaco beschleunigen und die Menschen- und Landrechte, vor allem von indigenen Völkern, missachten und verletzen wird. Gesteigerter transatlantischer Handel wird zudem zusätzliche CO2-Emissionen verursachen.

Außerdem stellen sich Fragen aus der Perspektive des Verbraucherschutzes. Im MERCOSUR sind viele Regulierungen weniger strikt als in der EU, etwa im Bereich des gentechnisch veränderten Saatguts oder der Pestizide, sowie für den Einsatz von Antibiotika und Wachstumshormonen in der Rinderzucht.

Während die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern im MERCOSUR-Raum im Wettbewerb mit der hochsubventionierten EU-Landwirtschaft kaum werden bestehen können, würden kleine landwirtschaftliche Existenzen in der EU unter zusätzlicher Konkurrenz durch das südamerikanische Agrobusiness leiden. Zugleich würden im MERCOSUR Industriekapazitäten zerstört, ohne die eine nachholende Entwicklung unmöglich wird. Massive Arbeitsplatzverluste würden die Folge sein. Allein in Argentinien wird seitens der Gewerkschaften der Wegfall von 186.000 Industriearbeitsplätzen befürchtet.

Sterbender Schwan

Anfang September dieses Jahres haben sich die EU-Landwirtschaftsminister öffentlich gegen das EU-MERCOSUR-Abkommen ausgesprochen. Außerdem sind mehrere EU-Mitgliedsstaaten gegen das Abkommen in seiner aktuellen Form, darunter Österreich, Frankreich und Polen. Zum Todesstoß für das Abkommen könnte aber letztendlich die Corona-Pandemie werden. In den nächsten Jahren ist kein reißender Absatz von EU-Industriegütern in den MERCOSUR-Ländern zu erwarten. Die Lobbygruppen hinter der EU-Kommission könnten deshalb aus den falschen Gründen das Richtige tun und das Abkommen stoppen.

Julia Eder lebt in Wien und forscht schwerpunktmäßig zu Industrie- und Handelspolitik. In ihrer Doktorarbeit vergleicht sie die gemeinsame Industriepolitik der Eurasischen Wirtschaftsunion mit jener des Gemeinsamen Marktes des Südens. Sie war mehrmals in Argentinien, Brasilien und Uruguay und führte dort zu Forschungszwecken Interviews durch.