Ein Votum für einen neuen europäischen Imperialismus?

Das Bundestagswahlergebnis und seine Folgen

Egal, ob sie Positives erreichen oder Negatives verhindern wollten, die Wahlberechtigten haben die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 sehr ernst genommen. Die Beteiligung lag bei 82,5 Prozent, über 49,6 Millionen Menschen gaben eine gültige Stimme ab. Da es keine Wahlpflicht gibt, haben sie sich alle aus eigenen, unterschiedlichen politischen Gründen aufgemacht.

Die Initiative für die beiden prägenden Ereignisse des Wahlkampfes gingen von (groß)bürgerlichen Parteien aus. Am Anfang stand der Austritt der FDP aus der Ampelregierung. Auf offener Bühne beging die Partei Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Ihre tiefe Verwirrung wird daran deutlich, dass sie ausgerechnet die Einhaltung der Schuldenbremse zum Scheidungsgrund machte. Parteiübergreifend wird überall nach Möglichkeiten gesucht, dieser Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit zu entkommen – aber die kleine FDP will alle auf sie vereidigen? Das war weder glaubwürdig noch zukunftsträchtig.

Zweieinhalb Monate später gelang es der CDU/CSU, der Endphase des Wahlkampfes einen ganz neuen Charakter zu geben. Sie versuchte, mit einer ausländerfeindlichen Agenda der AfD Stimmen abzujagen – während sie zugleich mit der Zustimmung der AfD die SPD und Grüne erpressen wollte. Das ist gescheitert. SPD und Grüne verweigerten die offene Kapitulation. Massendemonstrationen gegen Rechts füllten wieder – wie Anfang 2024 – Straßen und Plätze, auch jenseits der Großstädte. Abweichler in den Reihen der Union und der FDP erhielten von Angela Merkel, der »Oma gegen Rechts« (taz), öffentliche Rückendeckung. »Die Linke« im Bundestag hatte eine große Stunde. Selbst die Zustimmung der AfD und des BSW konnten dem Zustrombegrenzungsgesetz zu keiner Mehrheit verhelfen. Eine erfolgreiche Schandtat kann Zuspruch mobilisieren, ein gescheiterter Coup aber nicht. Die Union blieb unter 30 Prozent.

Elfmeter verwandelt

Für die Linkspartei war das letzte Jahr eine Nahtoderfahrung. Aber die Partei hat sich nach dem Austritt des BSW aufgerappelt. Schon im September, als der Vorstand der Grünen Jugend zurück- und mehrheitlich aus der Partei austrat, kündigten sich neue Perspektiven an. In ihrem sehr aktiven Wahlkampf konzentrierte sich die Linkspartei auf soziale Fragen wie Mieten und Preissteigerungen. Sie hat ihre Mitgliedschaft und ein Umfeld mobilisieren können. Das war die Basis, wichtig, aber allein nicht entscheidend. Der Wahlkampf hätte für sie auch ganz anders ausgehen können. Dann aber legte Friedrich Merz am 29. Januar den Ball auf den Elfmeterpunkt, »Die Linke« konnte verwandeln und wurde am Wahltag reich beschenkt. Für viele, die im letzten Jahr gegen Rechts demonstriert hatten, war endlich ein Bezugspunkt auszumachen.

Nun sind die Wahlen vorbei und die Frage bleibt, ob es der Linkspartei wie den Lottogewinnern ergeht, die ihren Gewinn wieder verspielen. Historische Analogien finden sich immer. Für die PDS wäre es die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2001, für »Die Linke« die Bundestagswahl 2009. In beiden Fällen jubelte die Partei über die Vergrößerung ihrer politischen Möglichkeiten und übersah die unveränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Für die aktuelle Lage müssen wir nur Spiderman etwas abwandeln: »Aus größerer Kraft folgt größere Verantwortung.«

Die nächste Regierung

Mit der lautstarken Verabschiedung der Ära Merkel hatten Merz & Co. ihre eigene Zeitenwende ausgerufen. Doch die CDU hat nicht gewonnen. Sie hat nur die Wahlverlierer beerbt. Am Tag danach erinnerte die Vorgängerin an das Wahlergebnis der rechten Konkurrenz am Ende ihrer Amtszeit: 2021 lag die AfD bei 10,3 Prozent. Am 23. Februar 2025 sind es 20,8 Prozent geworden.

Die rechnerische Mehrheit von Union und AfD im Bundestag ist keine politische Mehrheit. Die Forschungsgruppe Wahlen meldet, das aktuell 67 Prozent der Befragten in der AfD »eine Gefahr für unsere Demokratie sehen«. Nach der Allensbach-Umfrage unter den deutschen »Eliten« wollten im Januar 2025 stolze 64 Prozent der Befragten in der Präsidentschaft Donald Trumps »eine Chance« erkennen. Bei einigen ist diese Antwort nur Ausdruck der Hoffnung, weiter in den USA gute Geschäfte zu machen. Bei anderen ist es Ausdruck der Hoffnung, in einem autoritären Staat weniger Rücksicht nehmen zu müssen: auf Beschäftigte, auf Gewerkschaften, die Umwelt und Konsumentenrechte. Nach Jahren der Stagnation macht sich die Kapitalseite ernsthaft Sorgen um ihren Standort Deutschland. Auch hierzulande suchen einige Unternehmenslenker nach »vernünftigen Leuten« von ganz rechts.

Das heißt aber nicht, dass man in größerem Umfang mit der AfD gemeinsame Sache machen kann. Ein Exportland, das sich von der Welt isoliert, wird nicht gut funktionieren. Jeden Tag liefert die Regierung Trump Gründe, sich von der einstigen Führungsmacht der freien Welt zu emanzipieren. Angesichts neuer geopolitischer Konflikte ist das Programm von Merz ein erfolgreiches Deutschland in einer erfolgreichen EU, ein neuer europäischer Imperialismus. Viele politische, wirtschaftliche und militärische Voraussetzungen dafür müssen erst noch geschaffen werden.

 Im Kampf um die Regierung hatte die CDU/CSU 2023 erfolgreich das Bundesverfassungsgericht angerufen, um den »Klima- und Transformationsfonds« der Ampelregierung zu verhindern. Damals ging es um 60 Milliarden Euro, heute um ganz andere Summen – aber auch um andere Zwecke. Eine massive Aufrüstung soll von den Auflagen der Schuldenbremse ausgenommen, daneben in zehn Jahren 500 Milliarden in verschiedene Bereiche der Infrastruktur gesteckt werden. Die SPD wird mittun. Seit Hartz-IV strukturell mehrheitsunfähig, befindet sie sich als kleinere Ergänzung zur CDU in einer babylonischen Gefangenschaft.

Ein Denkmal für St. Florian

Die meisten deutschen Wahlberechtigten sind älter als 50 Jahre. Man kann davon ausgehen, dass ihnen ein Spruch geläufig ist, der sich in ländlichen Gebieten noch an manchen Hauswänden findet: »Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!« Eine eingängige Formulierung für das Prinzip des Privateigentums: Jede/r sich selbst der oder die Nächste.

Eine politische Folge dieses Denkens ist auf den Karten mit den Wahlergebnissen zu sehen: Der ganze Osten um Berlin ist bei den Erststimmen »blau«, von Kap Arkona bis Plauen, von drei Wahlkreisen abgesehen. Und auch in Berlin ist es der AfD erstmals gelungen, ein Direktmandat zu erreichen (in Marzahn-Hellersdorf). Warum? In Frankreich hat es die Linke 2024 hinbekommen, einen Durchmarsch des Rassemblement National zu verhindern. Durch die Bildung einer gemeinsamen Plattform, durch Wahlabsprachen und vor allem durch eine sehr aufmerksame Wähler:innenschaft, die Prioritäten gesetzt hat. Die Rechten nicht zu wählen war ihnen wichtiger als der jeweils eigene Kirchturm. Hierzulande scheint so etwas nicht zu gehen. Das heißt etwas.

Selbstverständlich ist hier nicht nur »Die Linke« in der Verantwortung. Doch das »Der hat aber angefangen!«-Argument gehört in den Buddelkasten und wird der politischen Lage nicht gerecht. Der Wahlerfolg der AfD im Osten ist ein Denkmal für St. Florian.

In den sechziger Jahren schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch: »Macht hat in einem gewissen Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.« Er brachte damit ein wichtiges Argument für die Begrenzung von Macht und gegen autoritäre Modelle aller Art auf den Punkt: Leute, die zu viel Macht haben, müssen nichts lernen. Bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ihre Macht allein zum Machterhalt nicht mehr ausreicht – aber bis dahin geht meist viel kaputt. Karl W. Deutsch hat damit zugleich den kleinen Leuten eine Mahnung mitgegeben: So anstrengend Aufklärung, Lernen und Wissenschaft auch sind – und sie sind anstrengend – sie können es sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten. Solange sie versuchen, sich nur um ihre eigene kleine Welt zu kümmern, wird die große Welt mit ihren Umbrüchen alle Lebenspläne durcheinanderwirbeln. Am 23. Februar haben sich Millionen Menschen aufgemacht, um Positives zu erreichen oder  Negatives zu verhindern. Jetzt kommt es darauf an, was sie mit den Folgen ihrer Wahlentscheidung anfangen.

Scheinbar aus dem Nichts? Protestwelle in Griechenland zwei Jahre nach dem Zugunglück von Tempi

„Mein Kind fuhr auf einen Ausflug und ich bekam es in einem Leichensack zurück“

(Maria Karystianou, Mutter von Martha, die bei dem Zugunfall von Tempi ums Leben kam; sie ist Vorsitzende des Verein der Betroffenen des Zugunfalls „Tempi 2023“)

Es war wie das untergründige Grollen eines Vorbebens, das tektonische Verschiebungen gigantischen Ausmaßes in der Tiefe ankündigt: Am 26. Januar versammelten sich hunderttausende Menschen auf den zentralen Plätzen der Städte und Dörfer Griechenlands, um gegen die Vertuschung der Ursachen der Eisenbahnkatastrophe in der Nähe von Tempi vor zwei Jahren durch die griechische Regierung zu protestieren und Aufklärung zu verlangen. Selbst Dörfer auf abgelegenen Inseln mit nur wenigen hundert Einwohnern erlebten die vielleicht erste Kundgebung ihrer Geschichte. Es waren vergleichsweise stille, von Trauer und Wut gekennzeichnete Manifestationen, zu denen der Verein der Angehörigen der Opfer und der Überlebenden der Katastrophe aufgerufen hatte. Scheinbar aus dem Nichts erhob sich die griechische Bevölkerung, um eine scheinbare Selbstverständlichkeit zu fordern: Die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für das Verbrechen von Tempi.

Am 28. Februar 2023 war ein von Athen kommender Intercity in Mittelgriechenland mit einem entgegenkommenden Güterzug kollidiert. 57 Menschen starben, über 80 wurden teilweise schwer verletzt. Unter den Toten und Verletzten befanden sich viele Studierende aus Saloniki, die über das verlängerte Wochenenden die Hauptstadt besucht hatten. In den folgenden Tagen kam es zu spontanen Streiks, und es versammelten sich zehntausende Menschen, um das anzuprangern, was in Griechenland ein offenes Geheimnis ist: Seit den Jahren der Austeritätspolitik nach 2008 ist das Eisenbahnsystem in einem beklagenswerten Zustand. Digitale Sicherheitssysteme sind zwar installiert, aber teilweise außer Funktion; es fehlt überall an Personal, und diejenigen, die eingestellt werden, sind aufgrund von Patronage und Vetternwirtschaft nicht oder nur schlecht qualifiziert; Wartung und Überwachung von Zügen und Gleisen sind teilweise mangelhaft. Dass es nicht schon zuvor zu größeren Unfällen gekommen ist, lag einzig am Engagement derjenigen Eisenbahner, die mit Überstunden die Lücken im System zu kompensieren versuchten. Wiederholt hatte die Eisenbahner-Gewerkschaft auf die zahlreichen Sicherheitsmängel hingewiesen und diese auch zum Gegenstand von Arbeitskämpfen gemacht.

Die Proteste vom Frühjahr 2023 verebbten jedoch; die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) versprach eine rückhaltlose Aufklärung des Unfalls, betrieb jedoch faktisch das Gegenteil. Mehr noch, den Angehörigen der Opfer wurde vorgeworfen, mit ihrer Forderung nach Aufklärung lediglich hohe Entschädigungszahlungen erzielen zu wollen. Die Proteste seien „gesteuert“ und würden von der Opposition „instrumentalisiert“. Bei der – zutreffenden – Behauptung, bei dem Unfall sei es zu einer Explosion gekommen, handele es sich um eine Verschwörungstheorie. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verstieg sich sogar zu der Aussage, es habe im Güterzug keinen 13. Wagon mit illegaler Fracht gegeben – eine glatte Lüge, wie sich herausstellen sollte.

Die Taktik der Regierung schien zunächst aufzugehen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2023 erzielte die ND aufgrund des Mehrheitsbonus die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Selbst der für die Eisenbahn zuständige Verkehrsminister Kostas Achilleas Karamanlis, ein Cousin des ehemaligen Ministerpräsidenten, konnte seinen Wahlkreis im nordostgriechischen Serres gewinnen. Nur wenige Tage vor der Katastrophe bei Tempi im Februar 2023 hatte Karamanlis auf eine Frage der Opposition nach der Sicherheit im Schienenverkehr geantwortet: »Ich schäme mich dafür, dass Sie Sicherheitsfragen aufwerfen und möchte, dass Sie diese sofort zurücknehmen. Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit im Schienenverkehr gewährleisten.«1

Am ersten Jahrestag des Zugunfalls kam es erneut zu Protesten, bei denen zahlreiche Widersprüche bei den Ermittlungen der Behörden aufgeworfen wurden. Konsequenzen hatte das jedoch nicht, nur vereinzelt wurden in den Medien die Ungereimtheiten der Ermittlungsarbeit thematisiert.

„Ich habe keinen Sauerstoff“

Die im Verein „Tempi 2023“ organisierten Überlebenden der Katastrophe und Angehörigen der Opfer gaben jedoch nicht auf. Anfang diesen Jahres veröffentlichte der von ihnen beauftragte Gutachter Vasilis Kokotsakis einen Bericht, der es in sich hatte: Kokotsakis konnte nachweisen, dass die Mehrzahl der Opfer nicht durch den Zusammenstoß der Züge, sondern durch Sauerstoffmangel, der infolge der Explosion und des Brandes des Güterzuges entstanden war, ums Leben kamen. Bei ihren Anrufen in der Notrufzentrale, die routinemäßig aufgezeichnet werden, sagten die im Zug eingeklemmten Opfer, dass sie keinen Sauerstoff bekämen – und nicht etwa, dass sie nicht atmen könnten. In Verbindung mit Aufnahmen von der Explosion an der Unfallstelle konnte Kokotsakis zeigen, dass dieser Sauerstoffmangel in den entgleisten Waggons eine Folge der Explosion und des nachfolgenden Brandes gewesen ist.2

Dieser Nachweis ist nicht nur deswegen brisant, weil Mitsotakis zuvor behauptet hatte, es gebe keinen 13. Waggon, sondern weil dieser Waggon mit leicht entflammbarem Material – es handelt sich um Xylol und Toluol, Kohlenwasserstoffe, die als Lösungsmittel dienen – entgegen der Sicherheitsbestimmungen im Zug mitgeführt wurde. Auf einem Video-Mitschnitt der Rettungskräfte sind zudem Personen am Unfallort zu sehen, die nicht zu den Rettungskräften gehören und die die Unfallstelle absuchen.

Im Zuge der Proteste wurde deutlich, dass die Ermittlungen zum Tathergang systematisch verschleppt und behindert worden sind: Beweismittel wurden im großen Stil vernichtet oder manipuliert. So wurden die Blutproben der Opfer, in denen toxische Substanzen hätten nachgewiesen werden können, vorschriftswidrig vernichtet. Aus dem Mitschnitt des Funkverkehrs zwischen dem Lokführer und dem Stellwerk wurden elf Minuten herausgeschnitten, zudem wurde die Aufnahme manipuliert. Die Aufnahmen der Überwachungskameras auf den Bahnhöfen, die Aufschluss über die Beladung und Fahrt des Güterzuges hätten geben können, wurden gelöscht. Lediglich die Überwachungskamera eines Mini-Markets zeigt, dass ein in den Frachtpapieren nicht auftauchender Waggon Teil des Zuges war. Die Trümmer der Züge wurden samt der sterblichen Überreste der Opfer innerhalb kürzester Zeit an einen unbekannten Ort verbracht, die Unfallstelle ausgekoffert und zubetoniert, der Aushub ebenfalls an unbekanntem Ort entsorgt.

Eine auf Betreiben der Opposition eingeleitete parlamentarische Untersuchung lief ins Leere. Der „Untersuchungsausschuss der Schande“ beerdigte alle offenen Fragen in den Archiven des Parlaments, die beteiligten Abgeordneten der ND wurden später für ihre offensichtliche Obstruktion mit Ministerposten belohnt. Auch die gerichtliche Untersuchung hat bisher keine substantiellen Ergebnisse gebracht. Die mutmaßlich Verantwortlichen sind nach wie vor nicht belangt, teilweise nicht einmal befragt worden. Faktisch sind alle Details erst durch die Recherchen der Angehörigen oder mutiger Journalisten ans Licht gekommen.

Demokratie und Aufklärung als Luft zum Atmen

Nach den Protesten vom 26. Januar gab Ministerpräsident Mitsotakis dem Sender Alfa ein Interview, bei dem er sich ahnungslos gab und die Verantwortung für die Desinformationen der Feuerwehr und der Betreiberfirma Hellenic Train, einer Tochterfirma der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, zuzuschieben versuchte. Zudem bemühte er sich, die politische Verantwortung auf enge Mitarbeiter und politische Freunde abzuwälzen. Im Kreuzfeuer der Kritik stehen nun der ehemalige Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, Christos Triantopoulos,3 der ehemalige Parlamentspräsident und Kandidat der ND für das Amt des Staatspräsidenten, Konstantinos Tasoulas, sowie der Vorsitzende der Untersuchungskommission zum Unfall bei Tempi, Dimitris Markopoulos.

Triantopoulos wird vom Untersuchungsgericht die „Veränderung des Tatortes“ und die Vernichtung möglicher Beweismittel zur Last gelegt. Tasoulas wird vorgeworfen, Ermittlungsakten und Anzeigen der Eltern von Opfern dem Parlament vorenthalten zu haben. Und Markopoulos hat als Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission eine zentrale Rolle bei der Verhinderung der Aufklärung der Katastrophe gespielt. Unter dem Druck der Massenproteste und immer neuer Enthüllungen in den Medien haben die Parteien der Opposition nun einen neuen Untersuchungsausschuss beantragt.4 Die Wahl von Tasoulas zum Staatspräsidenten zieht sich vor diesem Hintergrund bereits über drei Wahlgänge, bei denen er jedes Mal gescheitert ist. Doch die Hürde sinkt im vierten Wahlgang auf eine einfache Mehrheit, die zur Wahl benötigt wird. Wenn die Regierungspartei am 12. Februar zusammenhält, kann er es schaffen.

Die Staatskrise in Griechenland – um nichts geringeres handelt es sich – ist im deutschsprachigen Raum bisher kaum ein Thema gewesen. Die Dimensionen des Eisenbahnunfalls von Tempi könnten größer nicht sein. Die Berichterstattung der Medien in Deutschland über die Massenproteste in Griechenland vom vor-vergangenen Sonntag steht in umgekehrten Verhältnis zu deren Bedeutung. Praktisch werden nur den Sachverhalt völlig verkürzende Agenturmeldungen verbreitet. Der Schweizer Rundfunk SRF bildet eine Ausnahme, auch wenn die angegebene Zahl von 30.000 Demonstranten in Athen Polizeiangaben sind – es waren mindestens zehnmal so viel.5

Gegenwärtig überschlagen sich die Ereignisse, und es ist nicht absehbar, was noch alles ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wird und wer dabei unter die Räder kommt. Ministerpräsident Mitsotakis, soviel steht fest, ist angezählt.

Die Berichterstattung wird in Heft 64 von Lunapark21 fortgesetzt. Schon (wieder) Abonnent:in?

1 Zitiert nach Neues Deutschland vom 19.5.2023.

2 Diese These wird vom Vorab-Bericht einer Untersuchung der Universität Gent bestätigt. Kathimerini vom 5.2.2025: https://www.kathimerini.gr/visual/infographics/563453143/tempi-olo-to-apokalyptiko-porisma-gia-tis-ekrixeis-to-chroniko-tis-fotias-meta-ti-sygkroysi/; ebenso vom Draft der Nationalen Organisation zur Aufklärung von Luftfahrt- und Eisenbahnunfällen sowie Sicherheit des Verkehrs (EODASAAM). Zeitung der Redakteure vom 3.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/461799_kaiei-proshedio-gia-porisma-soreia-lathon-kai-paraleipseon

3 Nach den Wahlen vom 25. Juni 2023 wechselte Triantopoulos auf den Posten des Staatssekretärs im Ministerium für Klimakrise und Zivilschutz. Am 6. Februar 2025 kündigte er seinen Rücktritt.

4 Zeitung der Redakteure vom 4.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/boyli/461982_pasok-zita-proanakritiki-kata-triantopoyloy-gia-mpazoma-sta-tempi

5 SRF vom 29.1.2025: https://www.srf.ch/news/international/proteste-in-griechenland-massenproteste-fuer-aufklaerung-von-zugkatastrophe-ein-ueberblick

Hamburg überlässt den Hafen der Familie Aponte

Was beim Verkauf der HHLA an MSC herausgekommen ist

Für einen undurchsichtigen Deal ist die Regierung der Hansestadt Hamburg bereit, die öffentliche Kontrolle des Hafens aufzugeben. Über die Containerterminals, den Kern des Hamburger Hafens, soll künftig MSC, die größte Reederei der Welt, bestimmen – wie das Hamburger Parlament am 5. September 2024 entschieden hat.

Der MSC-Konzern ist im Besitz der Familie Aponte in der Schweiz. Der Hamburger Senat vergibt die Aktien des Hafenbetreibers HHLA an die Familie Aponte zum geringstmöglichen Preis, legt zu den von MSC gewünschten Investitionen etwas mehr aus Steuermitteln drauf, verzichtet im Streitfall auf die Anrufung bürgerlicher Gerichte und lässt ein Schiedsgericht nach ausschließlich wirtschaftlichen Kriterien in geheimer Verhandlung entscheiden auf Grundlage eines Vertrages, der 40 Jahre gelten soll, zuvor nicht geändert werden kann und dessen wesentliche Teile der Öffentlichkeit nicht bekannt sind.

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Das China-Syndrom

Kapitalistische Krise unter kommunistischer Führung

Als die Welt angesichts der rasanten Entwicklung Chinas noch den Atem anhielt, erklärte Xi Jinping, Wachstum sei nicht seine Hauptsorge. Das war im Jahr 2017 und schien einen Paradigmenwechsel anzukündigen.

Im Jahr darauf ließ Xi die Begrenzung seiner Amtszeit als Staatspräsident aus der Verfassung streichen. Nun steht er seit über elf Jahren an der Spitze des riesigen Landes und wird über Haupt- und Nebensorge manches gelernt haben.

China erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seit den Reformen Deng Xiaopings vor gut vierzig Jahren. Mit dem Zusammenbruch der Baukonzerne Evergrande und Country Garden, mit unbezahlten Schulden in Höhe von einer halben Billion Dollar, endete der Bauboom, den China mit einem gigantischen Investitionsprogramm zur Überwindung der Finanzkrise nach 2008 initiiert hatte. Allein zwischen 2011 und 2013 verbrauchte China mehr Zement als die USA im gesamten 20. Jahrhundert.

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Das deutsche Exportmodell

Wie immer ist in einem Bild auch das wichtig, was fehlt. Wenige Tage, bevor die FDP aus der Bundesregierung flüchtete, hatte sie bereits einen Abschiedsbrief übergeben: die Ausarbeitung des Bundesfinanzministeriums Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit. In diesem 18-seitigen Dokument kommen die Worte Außenhandel, Export, Exportüberschuss und Auslandsvermögen nicht vor. Einen Prüfling würden deutsche Oberlehrer mit der Bemerkung nach Hause schicken: Thema verfehlt, sechs.

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Außenpolitik als Naturwissenschaft auf dem Bierdeckel

Ein kritischer Blick auf den britischen Experten für foreign affairs Tim Marshall

Beginnen wir mit einem Zitat des Dichters Peter Hacks: „Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose. Wenn die Innenpolitik die Durchsetzung von Gedanken zwar nicht zum Ziel hat, so arbeiten doch die Klassen, wenn sie ihre Machtkämpfe betreiben, unbewußt und nebenher an einem Gesamtgefüge, dem Staat. So ein Staat hat eine Grenze, die ist der Rand, bis zu dem man gehn kann, und der Rahmen, innerhalb dessen Fortschritte sich abstecken und messen lassen.

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Woher? Wohin?

Wirtschaftliche und politische Fragen im Sommer 2023

Der Winter des Missvergnügens ist vorüber. Wohl vermeldete das Statistischen Bundesamtes am 25. Mai, das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei „preis-, saison- und kalenderbereinigt“ zwei Quartale in Folge gesunken. Die Zahl der neuen Insolvenzverfahren im ersten Quartal 2023 ist um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Die Inflationsrate, das heißt der Anstieg des Verbraucherpreisindex zum Vormonat, betrug im Mai 6,1 Prozent. Verglichen mit den Vormonaten ist der Kaufkraftverlust nur etwas geringer ausgefallen. Aber der Arbeitsmarkt ist stabil.

Und obgleich die Spitzenvertreter der deutschen Industrie keine Gelegenheit verpassen, um über ruinöse Bedingungen zu jammern, schauen die Kapitalanleger positiv in die Zukunft. Der Dax hat Mitte Juni die alten Höchststände vom Herbst 2021 wieder erreicht.  Im Herbst 2022 hatten offizielle wie selbsternannte Experten aller politischen Lager noch einen möglichen Zusammenbruch der Energieversorgung und einen sicheren Einbruch der Industrieproduktion vorhergesehen. Nichts davon ist eingetreten. 

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Gefahr erkannt, …

Finanzbeschiss mit Credit Suisse

Vier Banken mussten seit März die Schalter schließen. Drei mittelgroße US-Banken kippten einfach um, als Kunden ihr Geld plötzlich abzogen: Die Silicon Valley Bank, die Signature Bank sowie die First Republic. Die vierte war die Schweizer Credit Suisse, die als nicht weniger solide galt als die drei US-Banken.

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„Sehr, sehr stabiles System“

Steigende Zinsen treiben erste Banken in die Krise

Mit erstaunlicher Verspätung produziert der internationale rasante Zinsanstieg die befürchtete Bankenkrise. Es tritt das ein, was die jahrelange Nullzinspolitik verhindern sollte.

Am 19. März übernahm die größte Schweizer Bank UBS die zweitgrößte Credit Suisse zu einem Spottpreis von drei Milliarden Schweizer Franken. Es handelt sich um einen Notverkauf, abzulesen daran, dass der Deal am heiligen Sonntag und nur dank einer Garantie von neun Milliarden Franken vom Staat und einer Liquiditätshilfe von 100 Milliarden Franken seitens der Schweizer Notenbank über die Bühne ging. Die Schweizer Großbanken sind nicht so solide, wie sie tun. Vor 15 Jahren während der großen Finanzkrise musste die UBS, damals der größte Vermögensverwalter der Welt (oder des weltweiten Kapitalismus), von der Notenbank vor dem Untergang gerettet werden.

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Alarmstufe Rot

Kipppunkte, Krieg und die Letzte Generation

Allein 636 Lobbyisten für Öl und Gas nahmen im November vergangenen Jahres an der 27. Uno-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich teil – mit „Erfolg“. Außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5-Grad-Ziels und vagen Zusagen für Almosen an die Opfer der Klimakatastrophe, brachte die Konferenz kein Umsteuern zuwege.

Weder der mit dem Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) ausgerufene Alarm, noch die Warnung des Uno-Generalsekretärs António Guterres, „Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle, – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, führte letztlich zu verbindlichen Resultaten. Das gastgebende, vom Westen unterstützte Militärregime tat zudem alles, um substantielle Ergebnisse zu verhindern. So wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert.

Deutschland bahnte erfolgreich Erdgaslieferungen aus Afrika an und auch in Katar, dem Gastgeber der nächsten Uno-Klimakonferenz, war man damit erfolgreich. Es scheint sich eine Allianz zwischen reichen Öl- und Gasförderstaaten und westlichen Industrieländern zu etablieren.

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