Auslöser von Phantomschmerzen

Die Besteuerung von Reichtum in Deutschland

Während in Deutschland immer mehr Menschen in oder am Rande der Armut leben, konzentrieren sich zwei Drittel des gesamten Vermögens bei den reichsten zehn Prozent. Zentrale Ursache dafür ist eine Steuerpolitik, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Kapitalinteressen bedient hat.

Eine Besteuerung von Vermögensbeständen kann im deutschen Steuersystem durch vier Steuern erfolgen: die Grundsteuer, die Vermögensteuer, die Erbschafts- und Schenkungssteuer sowie eine Vermögensabgabe.

Die Grundsteuer besteuert das Eigentum an Grundstücken. Ihr Aufkommen steht den Städten und Gemeinden zu, für die sie mit gut 15 Milliarden Euro eine wichtige Einnahmequelle ist. Grundsteuer darf durch die Immobilienbesitzer umgelegt werden, wodurch die Mieter:innen die Grundsteuer als Teil der Nebenkosten zahlen. Dadurch besitzt die Grundsteuer keine nennenswerte umverteilende Wirkung. Anders sieht es bei den anderen drei vermögensbezogenen Steuern aus, zu denen trotz ihres Namens auch die Vermögensabgabe zählt. Im Unterschied zur jährlichen Vermögensteuer wird die Vermögensabgabe nur einmalig auf den aktuellen Vermögensbestand berechnet. In Deutschland gab es eine Vermögensabgabe auf Basis des Lastenausgleichsgesetzes aus dem Jahr 1952: Durch ihre Erhebung auf den Vermögensbestand des Jahres 1948 sollten Vermögensverluste oder sonstige Nachteile des Krieges ausgeglichen werden. Die Abgabe wurde nicht auf einen Schlag fällig, sondern über  30 Jahre in einen Ausgleichsfond eingezahlt.

Bis einschließlich 1996 wurde – zeitweise parallel zur Vermögensabgabe – eine Vermögensteuer erhoben. Das Bundesverfassungsgericht monierte im Jahr 1995 zu Recht eine Bevorteilung von Grund- und Immobilienvermögen gegenüber anderen Vermögensformen. Nach dem entsprechenden Urteil hätte die Vermögensteuer verfassungskonform reformiert werden müssen. Da die Regierung Kohl die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist verstreichen ließ, ist die Vermögensteuer seit 1997 ausgesetzt.

Seitdem wird nur noch die Erbschafts- und Schenkungssteuer erhoben. Erbschaften und Schenkungen werden in Deutschland in einem gemeinsamen Gesetz geregelt. Bei dieser Steuer handelt sich um eine Erbanfallsteuer, das heißt der Erbe oder Beschenkte muss gegebenenfalls Steuern auf seinen Erbteil oder die Schenkung zahlen. In einigen Staaten ist die Erbschaftssteuer als Nachlasssteuer ausgestaltet, in diesem Fall unterliegt der gesamte Nachlass des Verstorbenen der Erbschaftssteuer.

Wie Grafik 1 zu entnehmen ist, ist die Besteuerung von Vermögen durch den Lastenausgleich, die Vermögens- und die Erbschaftsteuer in Deutschland im Trend deutlich gesunken. Flossen im Jahr 1950 noch rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Form von vermögensbezogenen Steuern in die öffentlichen Kassen, sind es im Jahr 2023 noch gut 0,2 Prozent. Es ist angesichts einer solchen Entwicklung kein Wunder, dass die Vermögensungleichheit zugenommen hat. Verantwortlich dafür ist allerdings auch die Besteuerung der Einkommen.

Wechselwirkung zwischen Einkommens- und 
Vermögensverteilung

Je höher das laufende Einkommen einer Person oder eines Haushalts ist, desto größer ist in der Regel der Anteil, der zwecks Vermögensaufbau gespart wird. Die Sparquote, also der Anteil der Ersparnis am Einkommen, nimmt mit steigendem Einkommen zu. Erhöht sich aber das individuelle Vermögen durch hohe Ersparnisse, so wirft dieses in Zukunft höhere Kapitaleinkommen ab, was das Gesamteinkommen der entsprechenden Person weiter vergrößert.

In Deutschland nahmen Debatten um Steuersenkungen Mitte der 1990er Jahre stark zu. Insbesondere seitens der deutschen Industrie wurden – mit Verweis auf den globalen Wettbewerb und die angeblich bedrohte internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland – Forderungen nach einer tiefgreifenden Steuerreform laut. Die Politik kam diesen Forderungen in den kommenden Jahrzehnten nach. So wurde wie bereits erwähnt die Vermögenssteuer nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt. Vor allem die Regierung Schröder/Fischer reduzierte die Steuern auf hohe Einkommen und die Unternehmenssteuern in erheblichem Umfang. So verringerte die Koalition aus Grünen und SPD den Einkommensteuerspitzensatz von 53 auf 42 Prozent – aktuell liegt er inklusive der so genannten Reichensteuer bei 45 Prozent.

Gerade mit Blick auf die Besteuerung von Unternehmensgewinnen ist relevant, dass sie sich stark auf Personen bzw. Haushalte mit hohen Einkommen konzentrieren. So speisen sich die Einkommen der rund 29.400 Einkommensmillionäre in Höhe von insgesamt rund 75 Milliarden Euro im Jahr 2020 zu zwei Dritteln von Einkünften aus Gewerbebetrieben. Nehmen Gewinn- und Vermögenseinkommen aufgrund einer sinkenden Spitzenbesteuerung zu, wird dies zu verstärktem Sparen der reichen Haushalte führen und die Ungleichverteilung von Vermögen weiter erhöhen. Und sinken vermögensbezogene Steuern, dann steigert dies potenziell die Vermögens- und im zweiten Schritt auch die Einkommensungleichheit.

Umgekehrt könnte eine hohe Besteuerung von Vermögen egalitär auf Vermögens- und Einkommensverteilung wirken – hier aber war die Lobbyarbeit von Unternehmerverbänden so erfolgreich, dass dies selbst im Rahmen der immer noch erhobenen Erbschafts- und Schenkungsteuer kaum erfolgt.

Verschonung großer Erbschaften und Schenkungen

In Deutschland werden nach den verfügbaren Schätzungen jährlich mindestens 300 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt, dabei geht die Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen an die reichsten zehn Prozent der Begünstigten. Die Erbschaftssteuer sieht je nach Verwandtschaftsgrad verschiedene Steuerklassen vor, diese wiederum weisen verschiedene Freibeträge und unterschiedliche, mit der Höhe der Erbschaft steigende Steuersätze auf. Hinzu kommen viele Detailregelungen wie etwa großzügige Steuerbefreiung für selbstgenutzte Immobilien. Von Relevanz ist mit Blick auf Verteilungsfragen vor allem die Behandlung von Unternehmensvermögen, da diese in den besonders großen Erbschaften übertragen werden.

Seit der vorletzten Reform der Erbschaftsteuer im Jahr 2009 bestehen erhebliche Verschonungsregeln für Betriebsvermögen, das seitdem ganz oder zumindest weitgehend steuerfrei übertragen werden kann. Hieran hat auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2014 nichts geändert, dass diese Privilegierung großer Erbschaften eigentlich für grundgesetzwidrig erklärt hatte. Unternehmenserbschaften werden auch nach der dann folgenden Reform im Jahr 2016 in extremer Form bevorzugt. So fallen für ein geerbtes Unternehmen bis zu einem Wert von 26 Millionen Euro keine Steuern an, wenn der Betrieb für sieben Jahre in der bestehenden Form – gemessen an der Lohnsumme der Beschäftigten – fortgeführt wird. Bei einem Unternehmenswert zwischen 26 und 90 Millionen Euro sinkt die Steuerbefreiung zwar kontinuierlich auf null. Allerdings muss der Erbende nur maximal 50 Prozent seines eigenen Privatvermögens für die Begleichung der Erbschaftsteuer a uf ein geerbtes Unternehmen einsetzen. Ein Kind, das über kein Privatvermögen verfügt, kann so im Extremfall ein Unternehmensvermögen in Milliardenhöhe von seinen Eltern durch Schenkung erhalten, ohne auch nur einen Cent Erbschaftsteuer zu zahlen. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die eigentlich progressiv ausgestaltete Erbschaftsteuer de facto regressiv wirkt – das heißt, sehr hohe Erbschaften und Schenkungen werden aufgrund der besonderen Regeln für Unternehmen geringer besteuert als weniger hohe Nachlässe.

Wachsende Ungleich-
verteilung und leere öffentliche Kassen

Angesichts der geschilderten Besteuerung von großen Vermögen ist eine hohe Ungleichverteilung des Reichtums in Deutschland kein Wunder (vgl. Abbildung 2). So verfügen die reichsten 10 Prozent über gut zwei Drittel des gesamten Nettovermögens (Bruttovermögen abzüglich Schulden). Beim reichsten Prozent ballt sich mehr als ein Drittel und bei den reichsten 0,1 Prozent ein Fünftel des Nettovermögens.

Neben der zunehmenden Ungleichverteilung von Reichtum hat der Verzicht auf jede auch nur moderate Besteuerung von großen Vermögensbeständen eine strukturelle Unterfinanzierung der öffentlichen Hand zur Folge. Das gilt mit Blick auf Erbschafts- und Vermögensteuer insbesondere für die Bundesländer, denn ausschließlich ihnen fließt das Aufkommen aus beiden Steuern zu. Indirekt hat dies auch Auswirkungen auf die Kommunen, da sich deren Einnahmen in erheblichem Umfang aus Zuweisungen der Bundesländer speisen. Kaputte Schulen, marode Hochschulgebäude, fehlendes Personal in Kitas oder fehlendes Geld für kommunale Kliniken hängen unmittelbar mit der Nicht-Besteuerung von großen Vermögen zusammen.

So weist der aktuelle Subventionsbericht der Bundesregierung die Privilegierung von Unternehmenserbschaften mit jährlich 4,5 Milliarden Euro als größten steuerlichen Subventionstatbestand aus. Laut einer Schätzung aus dem Jahr 2020 sind seit dem Jahr 2009 insgesamt rund 70 Milliarden Euro an Erbschaftsteuern aufgrund der geschilderten Unternehmensprivilegien nicht erhoben worden. Mit diesem Geld hätte der gesamte Investitionsstau im Bereich von Schulen und Kitas in Höhe von knapp 70 Milliarden beseitigt werden können.

Unternehmensverbände führen gegen vermögensbezogene Steuern gerne ins Feld, dass diese Betriebe und damit Arbeitsplätze gefährdeten. Denn Erbschafts- und Vermögenssteuern müssten gerade im Falle einer schwachen Ertragslage bzw. bei fehlenden liquiden Mitteln »aus der Substanz heraus« bezahlt werden. Diese Argumente laufen ins Leere, denn den vermeintlichen Problemen kann mit zwei Instrumenten begegnet werden: zum einen mit der Stundung von Steuerzahlungen, und zum anderen mit der Übertragung von Unternehmensanteilen an die öffentliche Hand.

Gegen eine höhere Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften wird außerdem häufig auf den internationalen Steuerwettbewerb verwiesen. Unter den fortgeschrittenen Industrieländern erheben in der Tat nur noch wenige eine Vermögensteuer, und dies auch dann meist nur in eingeschränkter Form (z.B. nur für juristische Personen). Im Gegensatz dazu findet sich die Erbschaftsteuer in der Mehrzahl dieser Länder – allerdings sind Ausnahmeregeln bei der Besteuerung von Unternehmenserbschaften sehr weit verbreitet. Aber das heißt nicht, dass vermögensbezogene Steuern Auslaufmodelle sein müssen: Denn tatsächlich gibt es kaum einen empirischen Beleg dafür, dass die Erhebung von Erbschafts- und Vermögensteuern massive Wohnsitz- oder Vermögensverlagerungen zur Folge hätte. Und außerdem verhindern in Deutschland verschiedene Regelungen ebendies. So macht etwa die Wegzugsbesteuerung den Umzug von reichen Personen ins Ausland extrem teuer –  laut Berechnungen von Oxfam müsste die BMW-Erbin Susanne Klatten in so einem Fall 6,5 Milliarden Euro ihres Vermögens bezahlen. Wer trotzdem an das Märchen der Steuerflucht glaubt, geht einer neoliberalen Propaganda auf den Leim, die in den vergangenen Jahrzehnten eine Besteuerung von großen Unternehmenserbschaften und Vermögen erfolgreich zurückgedrängt hat.

Kai Eicker-Wolf, Ökonom und Politikwissenschaftler, arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Frankfurt / Main.

Gegen die Wand unter politischer Anleitung

Haben Automobil-Hersteller in Deutschland etwas falsch gemacht?

Die Automobilindustrie befindet sich weltweit in einer Überproduktionskrise inmitten der Umstellung auf Elektroautos. Haben die Autokonzerne in Deutschland eine Strategie, mit der sie der Absatzkrise und der Arbeitsplatzverluste Herr werden könnten?

Die Automobilindustrie, deren Produktion und Absatz sich in den vergangenen Jahrzehnten zu erheblichen Teilen nach China verlagert haben, ist wegen des Nachfragerückgangs weltweit nur gering ausgelastet. Die Zahl der weltweit produzierten Automobile stieg 2023/24 um rund zehn Prozent auf 80 Millionen PKW und lag damit weit unter der Produktionskapazität – um fünf Millionen Einheiten im Vergleich zu 2017. Die Automobilwerke in Deutschland waren im vergangenen Sommer nur zu zwei Drittel ausgelastet.

US-Präsident Donald Trump versucht mit politischen und militärischen Mitteln zurückzugewinnen, was die amerikanische Industrie durch mangelnde Produktivität an Absatz eingebüßt hat. Er setzt dabei auf Automobile mit Verbrennungsmotoren, deren Fertigung in den USA mit Hilfe von Zöllen und politischem Druck auf chinesische und europäische Hersteller wieder angekurbelt werden soll. Diese Strategie wird zu Preissteigerungen für die US-Konsumenten führen, zugleich aber, politisch erwünscht, zu mehr Beschäftigten und Lohneinkommen in den USA und Mexiko. Die Produktionskapazität für Automobile wird dadurch nochmals anwachsen und mehr Privat-Autos mit wachsendem CO2-Ausstoß auf die Straßen bringen.

Mit vollem Tempo
in die Krise

Hätte sich der Absatzrückgang der deutschen Automobilindustrie voraussehen und vermeiden lassen?

Bereits bei Antritt der Ampel-Koalition und erst recht nach Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine war absehbar, dass die deutsche Automobilindustrie keinen Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen leisten würde und wollte. Ein Tempolimit auf höchstens 130 Kilometer pro Stunde wurde nicht einmal erwogen.

Dabei haben ökonomische Interessen über physikalische Gesetzmäßigkeiten gesiegt: Der Energieverbrauch von Fahrzeugen wächst mit dem Quadrat der Geschwindigkeit und hängt von Gewicht und wirksamer Luftwiderstandsfläche ab. Ein Auto verbraucht aus physikalischen Gründen bei doppelter Geschwindigkeit viermal so viel Energie. Eine Begrenzung des Tempos auf den bundesdeutschen Autobahnen durch ein paar Schilder an den Grenzen hätte sofort den Energieverbrauch für den Verkehr und den CO2-Ausstoß erheblich gesenkt.

Die Entscheidung, Elektrofahrzeuge für Tempo über 130 mit einer akzeptablen Reichweite zu bauen, lädt den Fahrzeugen ein erhebliches Batteriegewicht auf, das aber immer mitgeschleppt werden muss, auch wenn sie nicht schneller als 130 Stundenkilometer fahren. Das Fahrzeuggewicht kann leicht zwei Tonnen oder mehr erreichen. Jede übergroße Batterie eines schweren Elektro-SUV reicht für vier bis fünf leichtere Elektrofahrzeuge, die bei Tempo 130 eine ähnliche Reichsweite erreichen wie die Straßenkampfpanzer.

Bei der Umstellung auf Elektro-fahrzeuge setzt die deutsche Automobilindustrie weiterhin auf schwere, spurtstarke und mit allen Spielzeugen ausgerüstete SUVs, die nun eben zu ihrem Gewichtsnachteil elektrisch betrieben werden. Auch Elon Musk verfolgt mit seinem Tesla die Strategie, die Reichen der Welt mit Elektrofahrzeugen zu bedienen. Insofern ist er – nicht nur in dieser Hinsicht – kein Innovator, sondern fährt mit Edelkarossen, von denen der Rest der Welt nichts hat als den Dreck und den Klimawandel, in eine Sackgasse des Verkehrswesens.

Ein Tempolimit hätte die Automobilindustrie auf einen zukunftssicheren Kurs gebracht, weil es ihr ermöglicht hätte, Automobile für die Welt insgesamt zu bauen oder wenigstens Anlagen zu deren Herstellung zu verkaufen.

Wenig Arbeit mit E-Autos

Welche Folgen haben schwere Elektroautos für Arbeitsplätze und Arbeitsvolumen?

Der Tarifvertrag bei VW und das Programm des kommenden Kanzlers Friedrich Merz setzen auf Kostenreduktion, Abbau von Produktionskapazitäten und geringere Einkommen für weniger Beschäftigte in der Automobilindustrie.

Ein E-Auto braucht im Gegensatz zu den mit Explosionsmotoren betriebenen Fahrzeugen keinen hochkomplexen Motor und das dafür notwendige Getriebe. Aufgrund ihrer Einfachheit können Elektrofahrzeuge viel leichter als Verbrennerfahrzeuge und weitgehend automatisch zusammengebaut werden. Ungefähr zwei Drittel des Arbeitsvolumens zum Bau eines Verbrennerautos fallen weg – und das sind gerade die anspruchsvollen, genaue Materialkenntnis und differenzierte Werkstoffbehandlung erfordernden Arbeiten.

Wollte man also den Produktionswert von Automobilen weitgehend durch den Bau von Elektroautos erreichen, müsste man mindestens drei- bis viermal so viele Automobile bauen wie gegenwärtig. Zurzeit verdeckt noch der überhöhte Preis den Umstand, dass sehr viel weniger Arbeit in einem mit Elektromotor betriebenen Fahrzeug und dessen Batterien steckt. Aber mit zunehmender Konkurrenz werden die bisherigen Preise nicht zu halten sein.

Fast 50 Prozent SUVs

War die Konzentration auf Sports Utility Vehicles eine gute Idee? Die deutschen Automobilhersteller haben ungeachtet des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 nicht auf Abgasreduktion und geeignete leichte und wenig PS-starke-Fahrzeuge gesetzt, sondern auf SUVs, die trotz hohem Gewicht und großem Luftwiderstand hohe Geschwindigkeiten erreichen. Gab es im Jahr 2000 noch kaum SUVs, machten sie 2023 mehr als die Hälfte der 14 Millionen von deutschen Herstellern produzierten PKW aus. So werden alle Abgasreduktionen ausgebremst, die durch Verbesserung der Wirkungsgrade erzielt wurden, und der CO2-Ausstoß für den Privatverkehr weiter gesteigert.

Deutschlands Autobauer halten daran fest, statt sparsamer moderner Autos für die ganze Welt teure Gefährte der Luxusklasse für die herrschenden Schichten in der ganzen Welt anzubieten. Wie das Institut der deutschen Wirtschaft feststellte, machten Fahrzeuge der mittleren und oberen Mittelklasse und der Oberklasse 2023 etwa 22 Prozent der Gesamtproduktion in Deutschland aus, ein extrem hoher Wert im Vergleich zu anderen Produktionsländern.

Abgesehen von den ökologischen Folgen dieser Schwerstfahrzeuge ist das Segment äußerst gefährdet: durch den Aufbau ähnlicher Produktion in China, die angesichts nachlassender Kaufkraft der dortigen Mittelklasse auf den internationalen Markt drängen wird, und durch Zölle, mit denen die USA die Produktion zurück ins Land holen wollen.

Elektronische statt mechanischer Steuerung

Hat sich die Automobilindustrie durch sinnvolle Innovationskraft hervorgetan, auf die Merz, Wirtschaftsinstitute und auch Gewerkschaften setzen?

Der Dieselskandal 2015 brachte nicht nur den Betrug fast aller deutscher Hersteller ans Licht. Zugleich wurde klar, dass sich im Fahrzeugbetrieb und im Fahrzeugbau etwas grundlegend geändert hat. Die Behörden, die Auto-Typen genehmigen sollten, wurden durch eine Software getäuscht, die nur und spezifisch auf den Fahrzyklus des Abgastests reagierte. Das bedeutet, dass Automotoren heute nicht mehr so gesteuert werden wie vor Einführung elektronischer Schaltungen. Statt wie früher mechanisch geregelt, werden nun von Sensoren im Motor Werte ermittelt, die über elektronische Schaltkreise Zündung, Benzineinspritzung und weitere Funktionen auslösen.

Was für das Produkt gilt, gilt auch für Maschinen und Maschinenanlagen zu deren Herstellung. Letztere machen einen bedeutenden Anteil des Exports der deutschen Industrie aus. Wir befinden uns nicht in einer Industrie 4.0 der Vernetzung elektronischer Regelungssysteme, sondern immer noch in der dritten industriellen Revolution, in der mechanische Steuerungen für Maschinen und Anlagen durch elektronische Regelungen ersetzt werden. Schrittmotoren machen Maschinen dazu fähig, präzise Bewegungen auszuführen und jederzeit und schnell Produkte in einer bestimten Stückzahl herzustellen.

Kern der ersten industriellen Revolution waren nicht die Dampfmaschinen, sondern Werkzeugmaschinen, die Teile fertigten, aus denen dann Verarbeitungsmaschinen gebaut werden konnten, die Handgriffe von Menschen maschinell erledigten.

Durch elektrischen Antrieb und Schaltungen konnten in der Industrie 2.0 die mechanischen Steuerungen und deren Antrieb qualitativ verändert werden. Aber erst Computer und elektronische Signalverarbeitung ermöglichen es, Informationen und Steuerimpulse zu konfigurieren, so dass sie über Schrittmotoren und andere Steuergeräte den Herstellungsprozess automatisch vollziehen können – und das an beinahe jedem Ort der Welt, denn die Daten zur Konfiguration lassen sich einfach übermitteln.

Unter Einsatz elektronisch gesteuerter Werkzeugmaschinen und Montageanlagen erfordert die umfangreiche mechanische Fertigung von Fahrzeugen und deren Teilen, auch von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren, ein deutlich geringeres Arbeitsvolumen.

In einem Automobil steckt heute trotz größerer Komplexität viel weniger an menschlicher Arbeitskraft. Sollte im Fahrzeugbau die gleiche Anzahl an Menschen beschäftigt werden wie bisher, müsste ein Vielfaches der gegenwärtigen Produktionsmenge gebaut und verkauft werden.

Durch die Digitalisierung in Kommunikation und Produktion sind die Produktivkräfte erneut an die Grenze der Produktionsverhältnisse gestoßen. Nur, weil Kapital sich verwerten muss, sollen mehr Automobile produziert und die Welt kaputtgefahren werden, statt die Möglichkeiten einer größeren Produktivität als sinnvolle freie Zeit zu genießen.

Freizeit oder Jobverlust

Helfen Innovationen gegen den Absatzrückgang? Industrie und Politik behaupten angesichts des Absatzrückganges, Innovationen könnten und müssten zu einer Steigerung der Produktion und des Produktionswertes führen. Für den Wert eines Produktes in Geld ist das Gegenteil der Fall: Innovationen, die zur Einsparung von Arbeiten und Arbeitsvolumen führen, bewirken langfristig einen Fall des Wertes des Produktes – dem nach anfänglichem Widerstand der Produzenten zur Erhaltung von Extraprofiten die Preise folgen. Technisch anders hergestellte Produkte sollen ja gerade nicht teurer sein, sondern billiger als die der Konkurrenten.

Innovationen können nur auf einem Umweg zur Steigerung des Wertes der Gesamtproduktion führen – indem das innovative Unternehmen dank eines geringeren Preises mehr von dem Produkt absetzt als die Konkurrenten – auf deren Kosten. Innovationen bedeuten immer auch, dass, infolge der Konkurrenz unter den Herstellern, Produktionsanlagen entwertet und zerstört werden – nämlich die der unterliegenden Konkurrenten. Auf Innovationen gegen die Konkurrenz zu setzen, bedeutet, die Zerstörung der Welt zu beschleunigen.

Wir stehen vor der Entscheidung, ob wir der Welt zumuten wollen, die Produktivität des Elektrofahrzeugbaues und der elektronisch gesteuerten Maschinen durch ein Vielfaches an Produkten auszugleichen, um die gleiche Menge an Beschäftigten in Arbeit zu halten oder weniger zu arbeiten und andere sinnvolle Produkte mit den überflüssig werdenden Produktionsanlagen herzustellen.

Jürgen Bönig arbeitet für Lunapark21 mit an der Aktionszeitung – für eine Verkehrsindustrie mit Zukunft, deren zweite Ausgabe zum 1. Mai 2025 verteilt werden soll.

Bestellungen an: heinoberg38@gmail.com

Ein Votum für einen neuen europäischen Imperialismus?

Das Bundestagswahlergebnis und seine Folgen

Egal, ob sie Positives erreichen oder Negatives verhindern wollten, die Wahlberechtigten haben die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 sehr ernst genommen. Die Beteiligung lag bei 82,5 Prozent, über 49,6 Millionen Menschen gaben eine gültige Stimme ab. Da es keine Wahlpflicht gibt, haben sie sich alle aus eigenen, unterschiedlichen politischen Gründen aufgemacht.

Die Initiative für die beiden prägenden Ereignisse des Wahlkampfes gingen von (groß)bürgerlichen Parteien aus. Am Anfang stand der Austritt der FDP aus der Ampelregierung. Auf offener Bühne beging die Partei Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Ihre tiefe Verwirrung wird daran deutlich, dass sie ausgerechnet die Einhaltung der Schuldenbremse zum Scheidungsgrund machte. Parteiübergreifend wird überall nach Möglichkeiten gesucht, dieser Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit zu entkommen – aber die kleine FDP will alle auf sie vereidigen? Das war weder glaubwürdig noch zukunftsträchtig.

Zweieinhalb Monate später gelang es der CDU/CSU, der Endphase des Wahlkampfes einen ganz neuen Charakter zu geben. Sie versuchte, mit einer ausländerfeindlichen Agenda der AfD Stimmen abzujagen – während sie zugleich mit der Zustimmung der AfD die SPD und Grüne erpressen wollte. Das ist gescheitert. SPD und Grüne verweigerten die offene Kapitulation. Massendemonstrationen gegen Rechts füllten wieder – wie Anfang 2024 – Straßen und Plätze, auch jenseits der Großstädte. Abweichler in den Reihen der Union und der FDP erhielten von Angela Merkel, der »Oma gegen Rechts« (taz), öffentliche Rückendeckung. »Die Linke« im Bundestag hatte eine große Stunde. Selbst die Zustimmung der AfD und des BSW konnten dem Zustrombegrenzungsgesetz zu keiner Mehrheit verhelfen. Eine erfolgreiche Schandtat kann Zuspruch mobilisieren, ein gescheiterter Coup aber nicht. Die Union blieb unter 30 Prozent.

Elfmeter verwandelt

Für die Linkspartei war das letzte Jahr eine Nahtoderfahrung. Aber die Partei hat sich nach dem Austritt des BSW aufgerappelt. Schon im September, als der Vorstand der Grünen Jugend zurück- und mehrheitlich aus der Partei austrat, kündigten sich neue Perspektiven an. In ihrem sehr aktiven Wahlkampf konzentrierte sich die Linkspartei auf soziale Fragen wie Mieten und Preissteigerungen. Sie hat ihre Mitgliedschaft und ein Umfeld mobilisieren können. Das war die Basis, wichtig, aber allein nicht entscheidend. Der Wahlkampf hätte für sie auch ganz anders ausgehen können. Dann aber legte Friedrich Merz am 29. Januar den Ball auf den Elfmeterpunkt, »Die Linke« konnte verwandeln und wurde am Wahltag reich beschenkt. Für viele, die im letzten Jahr gegen Rechts demonstriert hatten, war endlich ein Bezugspunkt auszumachen.

Nun sind die Wahlen vorbei und die Frage bleibt, ob es der Linkspartei wie den Lottogewinnern ergeht, die ihren Gewinn wieder verspielen. Historische Analogien finden sich immer. Für die PDS wäre es die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2001, für »Die Linke« die Bundestagswahl 2009. In beiden Fällen jubelte die Partei über die Vergrößerung ihrer politischen Möglichkeiten und übersah die unveränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Für die aktuelle Lage müssen wir nur Spiderman etwas abwandeln: »Aus größerer Kraft folgt größere Verantwortung.«

Die nächste Regierung

Mit der lautstarken Verabschiedung der Ära Merkel hatten Merz & Co. ihre eigene Zeitenwende ausgerufen. Doch die CDU hat nicht gewonnen. Sie hat nur die Wahlverlierer beerbt. Am Tag danach erinnerte die Vorgängerin an das Wahlergebnis der rechten Konkurrenz am Ende ihrer Amtszeit: 2021 lag die AfD bei 10,3 Prozent. Am 23. Februar 2025 sind es 20,8 Prozent geworden.

Die rechnerische Mehrheit von Union und AfD im Bundestag ist keine politische Mehrheit. Die Forschungsgruppe Wahlen meldet, das aktuell 67 Prozent der Befragten in der AfD »eine Gefahr für unsere Demokratie sehen«. Nach der Allensbach-Umfrage unter den deutschen »Eliten« wollten im Januar 2025 stolze 64 Prozent der Befragten in der Präsidentschaft Donald Trumps »eine Chance« erkennen. Bei einigen ist diese Antwort nur Ausdruck der Hoffnung, weiter in den USA gute Geschäfte zu machen. Bei anderen ist es Ausdruck der Hoffnung, in einem autoritären Staat weniger Rücksicht nehmen zu müssen: auf Beschäftigte, auf Gewerkschaften, die Umwelt und Konsumentenrechte. Nach Jahren der Stagnation macht sich die Kapitalseite ernsthaft Sorgen um ihren Standort Deutschland. Auch hierzulande suchen einige Unternehmenslenker nach »vernünftigen Leuten« von ganz rechts.

Das heißt aber nicht, dass man in größerem Umfang mit der AfD gemeinsame Sache machen kann. Ein Exportland, das sich von der Welt isoliert, wird nicht gut funktionieren. Jeden Tag liefert die Regierung Trump Gründe, sich von der einstigen Führungsmacht der freien Welt zu emanzipieren. Angesichts neuer geopolitischer Konflikte ist das Programm von Merz ein erfolgreiches Deutschland in einer erfolgreichen EU, ein neuer europäischer Imperialismus. Viele politische, wirtschaftliche und militärische Voraussetzungen dafür müssen erst noch geschaffen werden.

 Im Kampf um die Regierung hatte die CDU/CSU 2023 erfolgreich das Bundesverfassungsgericht angerufen, um den »Klima- und Transformationsfonds« der Ampelregierung zu verhindern. Damals ging es um 60 Milliarden Euro, heute um ganz andere Summen – aber auch um andere Zwecke. Eine massive Aufrüstung soll von den Auflagen der Schuldenbremse ausgenommen, daneben in zehn Jahren 500 Milliarden in verschiedene Bereiche der Infrastruktur gesteckt werden. Die SPD wird mittun. Seit Hartz-IV strukturell mehrheitsunfähig, befindet sie sich als kleinere Ergänzung zur CDU in einer babylonischen Gefangenschaft.

Ein Denkmal für St. Florian

Die meisten deutschen Wahlberechtigten sind älter als 50 Jahre. Man kann davon ausgehen, dass ihnen ein Spruch geläufig ist, der sich in ländlichen Gebieten noch an manchen Hauswänden findet: »Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!« Eine eingängige Formulierung für das Prinzip des Privateigentums: Jede/r sich selbst der oder die Nächste.

Eine politische Folge dieses Denkens ist auf den Karten mit den Wahlergebnissen zu sehen: Der ganze Osten um Berlin ist bei den Erststimmen »blau«, von Kap Arkona bis Plauen, von drei Wahlkreisen abgesehen. Und auch in Berlin ist es der AfD erstmals gelungen, ein Direktmandat zu erreichen (in Marzahn-Hellersdorf). Warum? In Frankreich hat es die Linke 2024 hinbekommen, einen Durchmarsch des Rassemblement National zu verhindern. Durch die Bildung einer gemeinsamen Plattform, durch Wahlabsprachen und vor allem durch eine sehr aufmerksame Wähler:innenschaft, die Prioritäten gesetzt hat. Die Rechten nicht zu wählen war ihnen wichtiger als der jeweils eigene Kirchturm. Hierzulande scheint so etwas nicht zu gehen. Das heißt etwas.

Selbstverständlich ist hier nicht nur »Die Linke« in der Verantwortung. Doch das »Der hat aber angefangen!«-Argument gehört in den Buddelkasten und wird der politischen Lage nicht gerecht. Der Wahlerfolg der AfD im Osten ist ein Denkmal für St. Florian.

In den sechziger Jahren schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch: »Macht hat in einem gewissen Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.« Er brachte damit ein wichtiges Argument für die Begrenzung von Macht und gegen autoritäre Modelle aller Art auf den Punkt: Leute, die zu viel Macht haben, müssen nichts lernen. Bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ihre Macht allein zum Machterhalt nicht mehr ausreicht – aber bis dahin geht meist viel kaputt. Karl W. Deutsch hat damit zugleich den kleinen Leuten eine Mahnung mitgegeben: So anstrengend Aufklärung, Lernen und Wissenschaft auch sind – und sie sind anstrengend – sie können es sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten. Solange sie versuchen, sich nur um ihre eigene kleine Welt zu kümmern, wird die große Welt mit ihren Umbrüchen alle Lebenspläne durcheinanderwirbeln. Am 23. Februar haben sich Millionen Menschen aufgemacht, um Positives zu erreichen oder  Negatives zu verhindern. Jetzt kommt es darauf an, was sie mit den Folgen ihrer Wahlentscheidung anfangen.

Scheinbar aus dem Nichts? Protestwelle in Griechenland zwei Jahre nach dem Zugunglück von Tempi

„Mein Kind fuhr auf einen Ausflug und ich bekam es in einem Leichensack zurück“

(Maria Karystianou, Mutter von Martha, die bei dem Zugunfall von Tempi ums Leben kam; sie ist Vorsitzende des Verein der Betroffenen des Zugunfalls „Tempi 2023“)

Es war wie das untergründige Grollen eines Vorbebens, das tektonische Verschiebungen gigantischen Ausmaßes in der Tiefe ankündigt: Am 26. Januar versammelten sich hunderttausende Menschen auf den zentralen Plätzen der Städte und Dörfer Griechenlands, um gegen die Vertuschung der Ursachen der Eisenbahnkatastrophe in der Nähe von Tempi vor zwei Jahren durch die griechische Regierung zu protestieren und Aufklärung zu verlangen. Selbst Dörfer auf abgelegenen Inseln mit nur wenigen hundert Einwohnern erlebten die vielleicht erste Kundgebung ihrer Geschichte. Es waren vergleichsweise stille, von Trauer und Wut gekennzeichnete Manifestationen, zu denen der Verein der Angehörigen der Opfer und der Überlebenden der Katastrophe aufgerufen hatte. Scheinbar aus dem Nichts erhob sich die griechische Bevölkerung, um eine scheinbare Selbstverständlichkeit zu fordern: Die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für das Verbrechen von Tempi.

Am 28. Februar 2023 war ein von Athen kommender Intercity in Mittelgriechenland mit einem entgegenkommenden Güterzug kollidiert. 57 Menschen starben, über 80 wurden teilweise schwer verletzt. Unter den Toten und Verletzten befanden sich viele Studierende aus Saloniki, die über das verlängerte Wochenenden die Hauptstadt besucht hatten. In den folgenden Tagen kam es zu spontanen Streiks, und es versammelten sich zehntausende Menschen, um das anzuprangern, was in Griechenland ein offenes Geheimnis ist: Seit den Jahren der Austeritätspolitik nach 2008 ist das Eisenbahnsystem in einem beklagenswerten Zustand. Digitale Sicherheitssysteme sind zwar installiert, aber teilweise außer Funktion; es fehlt überall an Personal, und diejenigen, die eingestellt werden, sind aufgrund von Patronage und Vetternwirtschaft nicht oder nur schlecht qualifiziert; Wartung und Überwachung von Zügen und Gleisen sind teilweise mangelhaft. Dass es nicht schon zuvor zu größeren Unfällen gekommen ist, lag einzig am Engagement derjenigen Eisenbahner, die mit Überstunden die Lücken im System zu kompensieren versuchten. Wiederholt hatte die Eisenbahner-Gewerkschaft auf die zahlreichen Sicherheitsmängel hingewiesen und diese auch zum Gegenstand von Arbeitskämpfen gemacht.

Die Proteste vom Frühjahr 2023 verebbten jedoch; die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) versprach eine rückhaltlose Aufklärung des Unfalls, betrieb jedoch faktisch das Gegenteil. Mehr noch, den Angehörigen der Opfer wurde vorgeworfen, mit ihrer Forderung nach Aufklärung lediglich hohe Entschädigungszahlungen erzielen zu wollen. Die Proteste seien „gesteuert“ und würden von der Opposition „instrumentalisiert“. Bei der – zutreffenden – Behauptung, bei dem Unfall sei es zu einer Explosion gekommen, handele es sich um eine Verschwörungstheorie. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verstieg sich sogar zu der Aussage, es habe im Güterzug keinen 13. Wagon mit illegaler Fracht gegeben – eine glatte Lüge, wie sich herausstellen sollte.

Die Taktik der Regierung schien zunächst aufzugehen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2023 erzielte die ND aufgrund des Mehrheitsbonus die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Selbst der für die Eisenbahn zuständige Verkehrsminister Kostas Achilleas Karamanlis, ein Cousin des ehemaligen Ministerpräsidenten, konnte seinen Wahlkreis im nordostgriechischen Serres gewinnen. Nur wenige Tage vor der Katastrophe bei Tempi im Februar 2023 hatte Karamanlis auf eine Frage der Opposition nach der Sicherheit im Schienenverkehr geantwortet: »Ich schäme mich dafür, dass Sie Sicherheitsfragen aufwerfen und möchte, dass Sie diese sofort zurücknehmen. Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit im Schienenverkehr gewährleisten.«1

Am ersten Jahrestag des Zugunfalls kam es erneut zu Protesten, bei denen zahlreiche Widersprüche bei den Ermittlungen der Behörden aufgeworfen wurden. Konsequenzen hatte das jedoch nicht, nur vereinzelt wurden in den Medien die Ungereimtheiten der Ermittlungsarbeit thematisiert.

„Ich habe keinen Sauerstoff“

Die im Verein „Tempi 2023“ organisierten Überlebenden der Katastrophe und Angehörigen der Opfer gaben jedoch nicht auf. Anfang diesen Jahres veröffentlichte der von ihnen beauftragte Gutachter Vasilis Kokotsakis einen Bericht, der es in sich hatte: Kokotsakis konnte nachweisen, dass die Mehrzahl der Opfer nicht durch den Zusammenstoß der Züge, sondern durch Sauerstoffmangel, der infolge der Explosion und des Brandes des Güterzuges entstanden war, ums Leben kamen. Bei ihren Anrufen in der Notrufzentrale, die routinemäßig aufgezeichnet werden, sagten die im Zug eingeklemmten Opfer, dass sie keinen Sauerstoff bekämen – und nicht etwa, dass sie nicht atmen könnten. In Verbindung mit Aufnahmen von der Explosion an der Unfallstelle konnte Kokotsakis zeigen, dass dieser Sauerstoffmangel in den entgleisten Waggons eine Folge der Explosion und des nachfolgenden Brandes gewesen ist.2

Dieser Nachweis ist nicht nur deswegen brisant, weil Mitsotakis zuvor behauptet hatte, es gebe keinen 13. Waggon, sondern weil dieser Waggon mit leicht entflammbarem Material – es handelt sich um Xylol und Toluol, Kohlenwasserstoffe, die als Lösungsmittel dienen – entgegen der Sicherheitsbestimmungen im Zug mitgeführt wurde. Auf einem Video-Mitschnitt der Rettungskräfte sind zudem Personen am Unfallort zu sehen, die nicht zu den Rettungskräften gehören und die die Unfallstelle absuchen.

Im Zuge der Proteste wurde deutlich, dass die Ermittlungen zum Tathergang systematisch verschleppt und behindert worden sind: Beweismittel wurden im großen Stil vernichtet oder manipuliert. So wurden die Blutproben der Opfer, in denen toxische Substanzen hätten nachgewiesen werden können, vorschriftswidrig vernichtet. Aus dem Mitschnitt des Funkverkehrs zwischen dem Lokführer und dem Stellwerk wurden elf Minuten herausgeschnitten, zudem wurde die Aufnahme manipuliert. Die Aufnahmen der Überwachungskameras auf den Bahnhöfen, die Aufschluss über die Beladung und Fahrt des Güterzuges hätten geben können, wurden gelöscht. Lediglich die Überwachungskamera eines Mini-Markets zeigt, dass ein in den Frachtpapieren nicht auftauchender Waggon Teil des Zuges war. Die Trümmer der Züge wurden samt der sterblichen Überreste der Opfer innerhalb kürzester Zeit an einen unbekannten Ort verbracht, die Unfallstelle ausgekoffert und zubetoniert, der Aushub ebenfalls an unbekanntem Ort entsorgt.

Eine auf Betreiben der Opposition eingeleitete parlamentarische Untersuchung lief ins Leere. Der „Untersuchungsausschuss der Schande“ beerdigte alle offenen Fragen in den Archiven des Parlaments, die beteiligten Abgeordneten der ND wurden später für ihre offensichtliche Obstruktion mit Ministerposten belohnt. Auch die gerichtliche Untersuchung hat bisher keine substantiellen Ergebnisse gebracht. Die mutmaßlich Verantwortlichen sind nach wie vor nicht belangt, teilweise nicht einmal befragt worden. Faktisch sind alle Details erst durch die Recherchen der Angehörigen oder mutiger Journalisten ans Licht gekommen.

Demokratie und Aufklärung als Luft zum Atmen

Nach den Protesten vom 26. Januar gab Ministerpräsident Mitsotakis dem Sender Alfa ein Interview, bei dem er sich ahnungslos gab und die Verantwortung für die Desinformationen der Feuerwehr und der Betreiberfirma Hellenic Train, einer Tochterfirma der italienischen Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane, zuzuschieben versuchte. Zudem bemühte er sich, die politische Verantwortung auf enge Mitarbeiter und politische Freunde abzuwälzen. Im Kreuzfeuer der Kritik stehen nun der ehemalige Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, Christos Triantopoulos,3 der ehemalige Parlamentspräsident und Kandidat der ND für das Amt des Staatspräsidenten, Konstantinos Tasoulas, sowie der Vorsitzende der Untersuchungskommission zum Unfall bei Tempi, Dimitris Markopoulos.

Triantopoulos wird vom Untersuchungsgericht die „Veränderung des Tatortes“ und die Vernichtung möglicher Beweismittel zur Last gelegt. Tasoulas wird vorgeworfen, Ermittlungsakten und Anzeigen der Eltern von Opfern dem Parlament vorenthalten zu haben. Und Markopoulos hat als Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission eine zentrale Rolle bei der Verhinderung der Aufklärung der Katastrophe gespielt. Unter dem Druck der Massenproteste und immer neuer Enthüllungen in den Medien haben die Parteien der Opposition nun einen neuen Untersuchungsausschuss beantragt.4 Die Wahl von Tasoulas zum Staatspräsidenten zieht sich vor diesem Hintergrund bereits über drei Wahlgänge, bei denen er jedes Mal gescheitert ist. Doch die Hürde sinkt im vierten Wahlgang auf eine einfache Mehrheit, die zur Wahl benötigt wird. Wenn die Regierungspartei am 12. Februar zusammenhält, kann er es schaffen.

Die Staatskrise in Griechenland – um nichts geringeres handelt es sich – ist im deutschsprachigen Raum bisher kaum ein Thema gewesen. Die Dimensionen des Eisenbahnunfalls von Tempi könnten größer nicht sein. Die Berichterstattung der Medien in Deutschland über die Massenproteste in Griechenland vom vor-vergangenen Sonntag steht in umgekehrten Verhältnis zu deren Bedeutung. Praktisch werden nur den Sachverhalt völlig verkürzende Agenturmeldungen verbreitet. Der Schweizer Rundfunk SRF bildet eine Ausnahme, auch wenn die angegebene Zahl von 30.000 Demonstranten in Athen Polizeiangaben sind – es waren mindestens zehnmal so viel.5

Gegenwärtig überschlagen sich die Ereignisse, und es ist nicht absehbar, was noch alles ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wird und wer dabei unter die Räder kommt. Ministerpräsident Mitsotakis, soviel steht fest, ist angezählt.

Die Berichterstattung wird in Heft 64 von Lunapark21 fortgesetzt. Schon (wieder) Abonnent:in?

1 Zitiert nach Neues Deutschland vom 19.5.2023.

2 Diese These wird vom Vorab-Bericht einer Untersuchung der Universität Gent bestätigt. Kathimerini vom 5.2.2025: https://www.kathimerini.gr/visual/infographics/563453143/tempi-olo-to-apokalyptiko-porisma-gia-tis-ekrixeis-to-chroniko-tis-fotias-meta-ti-sygkroysi/; ebenso vom Draft der Nationalen Organisation zur Aufklärung von Luftfahrt- und Eisenbahnunfällen sowie Sicherheit des Verkehrs (EODASAAM). Zeitung der Redakteure vom 3.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/461799_kaiei-proshedio-gia-porisma-soreia-lathon-kai-paraleipseon

3 Nach den Wahlen vom 25. Juni 2023 wechselte Triantopoulos auf den Posten des Staatssekretärs im Ministerium für Klimakrise und Zivilschutz. Am 6. Februar 2025 kündigte er seinen Rücktritt.

4 Zeitung der Redakteure vom 4.2.2025: https://www.efsyn.gr/politiki/boyli/461982_pasok-zita-proanakritiki-kata-triantopoyloy-gia-mpazoma-sta-tempi

5 SRF vom 29.1.2025: https://www.srf.ch/news/international/proteste-in-griechenland-massenproteste-fuer-aufklaerung-von-zugkatastrophe-ein-ueberblick

Hamburg überlässt den Hafen der Familie Aponte

Was beim Verkauf der HHLA an MSC herausgekommen ist

Für einen undurchsichtigen Deal ist die Regierung der Hansestadt Hamburg bereit, die öffentliche Kontrolle des Hafens aufzugeben. Über die Containerterminals, den Kern des Hamburger Hafens, soll künftig MSC, die größte Reederei der Welt, bestimmen – wie das Hamburger Parlament am 5. September 2024 entschieden hat.

Der MSC-Konzern ist im Besitz der Familie Aponte in der Schweiz. Der Hamburger Senat vergibt die Aktien des Hafenbetreibers HHLA an die Familie Aponte zum geringstmöglichen Preis, legt zu den von MSC gewünschten Investitionen etwas mehr aus Steuermitteln drauf, verzichtet im Streitfall auf die Anrufung bürgerlicher Gerichte und lässt ein Schiedsgericht nach ausschließlich wirtschaftlichen Kriterien in geheimer Verhandlung entscheiden auf Grundlage eines Vertrages, der 40 Jahre gelten soll, zuvor nicht geändert werden kann und dessen wesentliche Teile der Öffentlichkeit nicht bekannt sind.

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Das China-Syndrom

Kapitalistische Krise unter kommunistischer Führung

Als die Welt angesichts der rasanten Entwicklung Chinas noch den Atem anhielt, erklärte Xi Jinping, Wachstum sei nicht seine Hauptsorge. Das war im Jahr 2017 und schien einen Paradigmenwechsel anzukündigen.

Im Jahr darauf ließ Xi die Begrenzung seiner Amtszeit als Staatspräsident aus der Verfassung streichen. Nun steht er seit über elf Jahren an der Spitze des riesigen Landes und wird über Haupt- und Nebensorge manches gelernt haben.

China erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seit den Reformen Deng Xiaopings vor gut vierzig Jahren. Mit dem Zusammenbruch der Baukonzerne Evergrande und Country Garden, mit unbezahlten Schulden in Höhe von einer halben Billion Dollar, endete der Bauboom, den China mit einem gigantischen Investitionsprogramm zur Überwindung der Finanzkrise nach 2008 initiiert hatte. Allein zwischen 2011 und 2013 verbrauchte China mehr Zement als die USA im gesamten 20. Jahrhundert.

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Das deutsche Exportmodell

Wie immer ist in einem Bild auch das wichtig, was fehlt. Wenige Tage, bevor die FDP aus der Bundesregierung flüchtete, hatte sie bereits einen Abschiedsbrief übergeben: die Ausarbeitung des Bundesfinanzministeriums Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit. In diesem 18-seitigen Dokument kommen die Worte Außenhandel, Export, Exportüberschuss und Auslandsvermögen nicht vor. Einen Prüfling würden deutsche Oberlehrer mit der Bemerkung nach Hause schicken: Thema verfehlt, sechs.

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Außenpolitik als Naturwissenschaft auf dem Bierdeckel

Ein kritischer Blick auf den britischen Experten für foreign affairs Tim Marshall

Beginnen wir mit einem Zitat des Dichters Peter Hacks: „Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose. Wenn die Innenpolitik die Durchsetzung von Gedanken zwar nicht zum Ziel hat, so arbeiten doch die Klassen, wenn sie ihre Machtkämpfe betreiben, unbewußt und nebenher an einem Gesamtgefüge, dem Staat. So ein Staat hat eine Grenze, die ist der Rand, bis zu dem man gehn kann, und der Rahmen, innerhalb dessen Fortschritte sich abstecken und messen lassen.

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Woher? Wohin?

Wirtschaftliche und politische Fragen im Sommer 2023

Der Winter des Missvergnügens ist vorüber. Wohl vermeldete das Statistischen Bundesamtes am 25. Mai, das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei „preis-, saison- und kalenderbereinigt“ zwei Quartale in Folge gesunken. Die Zahl der neuen Insolvenzverfahren im ersten Quartal 2023 ist um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Die Inflationsrate, das heißt der Anstieg des Verbraucherpreisindex zum Vormonat, betrug im Mai 6,1 Prozent. Verglichen mit den Vormonaten ist der Kaufkraftverlust nur etwas geringer ausgefallen. Aber der Arbeitsmarkt ist stabil.

Und obgleich die Spitzenvertreter der deutschen Industrie keine Gelegenheit verpassen, um über ruinöse Bedingungen zu jammern, schauen die Kapitalanleger positiv in die Zukunft. Der Dax hat Mitte Juni die alten Höchststände vom Herbst 2021 wieder erreicht.  Im Herbst 2022 hatten offizielle wie selbsternannte Experten aller politischen Lager noch einen möglichen Zusammenbruch der Energieversorgung und einen sicheren Einbruch der Industrieproduktion vorhergesehen. Nichts davon ist eingetreten. 

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Gefahr erkannt, …

Finanzbeschiss mit Credit Suisse

Vier Banken mussten seit März die Schalter schließen. Drei mittelgroße US-Banken kippten einfach um, als Kunden ihr Geld plötzlich abzogen: Die Silicon Valley Bank, die Signature Bank sowie die First Republic. Die vierte war die Schweizer Credit Suisse, die als nicht weniger solide galt als die drei US-Banken.

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