Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ – Geschichten und Probleme
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 28
Thomas Pikettys neues Buch ist ein internationaler Bestseller. Der französische Ökonom, der seit dem Ende der neunziger Jahre mit Forschungen zur Entwicklung der Einkommens-Ungleichheit im Kapitalismus hervorgetreten ist, hat nun auch die Ungleichheit der Vermögen und den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum ausführlich behandelt. Seine zentrale Schlussfolgerung lautet: Ein unregulierter Kapitalismus untergräbt sich selbst. Am Ende entscheidet Erbe, nicht Leistung, über den Platz der Einzelnen in der Gesellschaft. Mit den Grundlagen innovativen Wettbewerbs und einer demokratischen Gesellschaft ist das nicht vereinbar. Piketty ist ein bekennender Freund von Marktwirtschaft und Privateigentum, der immer wieder seine Anhänglichkeit an die Grundwerte der bürgerlichen Revolutionäre des 18. Jahrhunderts betont. Deshalb wollte er eine überfällige Debatte über zunehmende Ungleichheit provozieren. Und das ist ihm in hervorragender Weise gelungen.
Nun bringt diese Debatte jeden Tag neue Texte hervor, zustimmende, präzisierende, kritische. Hier geht es nicht um ein voreiliges Resümee. Zunächst soll die politische wie wissenschaftliche Vorgeschichte einer großen Arbeit verhandelt werden, die nicht wie Kasper aus der Kiste sprang. Danach geht es um die Zuspitzung einiger zentraler Probleme und Positionen. Denn auf der einen Seite gehört der letzte Satz des Buches ins Poesiealbum aller Linken: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“ Andererseits ist die beste Landkarte zur Orientierung im Gelände nur dann hilfreich, wenn man die eigene Position mit ihr bestimmen kann. Der Standpunkt von Thomas Piketty ist durch seine Beschränkung auf Verteilungsfragen hinreichend umrissen: Arbeit ist für ihn ein technisches und kein gesellschaftliches Thema. Was die Produktion betrifft, guckt er immer aus dem ersten Stock des Verwaltungsgebäudes. Manches ist aus solch einer Perspektive gut sichtbar. Anderes nicht, darunter vieles, was für Verteilungsfragen relevant ist. Der Begriff „Arbeitszeit“ erscheint auf den hunderten Seiten nur einmal.
Gegen den Zeitgeist
In den neunziger Jahren war für die offizielle Ökonomenzunft wie für die Massenmedien Ungleichheit kein Thema. Nach dem Fall der Mauer war der Kommunismus tot – oder das, was man dafür hielt. Und nun würde es das Wachstum schon richten. Mit dem Tod des Kommunismus war und ist Thomas Piketty einverstanden. An der heilsamen Wirkung des Wachstums allerdings hatte er – wie seine Kollegen Emmanuel Saez und Anthony Atkinson – große Zweifel. Sie analysierten die Einkommensverhältnisse in Frankreich, den USA und Großbritannien anhand der amtlichen Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und – das war eine Neuerung – anhand der Unterlagen der Steuerbehörden. Sie konzentrierten sich auf die Vor-Steuer-Einkommen, sozusagen die Startdaten einer Steuererklärung. Als Indikator der Ungleichheit wählten sie den Anteil der Topverdiener – die am besten bezahlten Ein-Prozent – an den gesamten Einkommen. Sie konnten nachweisen, dass zwar bis Mitte des XX. Jahrhunderts die Einkommensungleichheit zurückgegangen war, in den angelsächsischen Ländern jedoch seit den späten siebziger Jahren wieder zugenommen hatte: ein großes U.[1] Den größten Beitrag zum Wiederaufstieg des großen Geldes machten steigende Gehälter der Topverdiener aus. Der moderne Kapitalismus braucht hochbezahlte Manager. In Anlehnung an die Hofberichterstattung bei Forbes schreiben Piketty/Saez von den „working rich“ – wenn auch in Anführungszeichen.
Auf jeden Fall war die optimistische Sicht des US-Ökonomen Simon Kuznets widerlegt. Er hatte aufgrund ähnlicher Analysen in den 1950er Jahren vermutet, die Ungleichheit im Kapitalismus würde zunächst im Zuge der Industrialisierung zunehmen – sich dann aber im reifen Kapitalismus wieder vermindern. Die Kurve, die Saez und Piketty fanden, geht andersherum. Sie fanden, dass rein marktwirtschaftliche Dynamik Ungleichheit vergrößert, statt sie zu verringern. Statt rein ökonomischer Gründe für die geringere Einkommensungleichheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts verwiesen Piketty und Saez schon damals auf politische Faktoren und soziale Normen, den Einfluss der beiden Weltkriege und der damit einher gehenden Steuerpolitik: Spitzensteuersätze, die in Friedenszeiten bei über 70 Prozent lagen, waren eine Erfindung der USA der dreißiger Jahre.
Die ersten Veröffentlichungen zur Einkommensungleichheit fielen in den New Economy Boom. Nach dem Platzen der Blase gab es plötzlich viele Fragen – und Piketty/Saez konnten Antworten geben, wo ihre etablierten Kollegen nichts zu bieten hatten. Sie forschten weiter, veröffentlichten ihre Daten und ermunterten zu wissenschaftlichen Kooperation.[2]
Piketty begann, die Analyse der Einkommensungleichheit durch eine Untersuchung der Vermögensverhältnisse zu ergänzen. Denn vorliegende Studien, einschließlich marxistisch orientierter Klassenanalysen[3], zeigten zwei Dinge: Ersten ist der Anteil der Vermögenseinkommen am Gesamteinkommen der Reichen, also – Gewinne, Zinsen, Dividenden, Pachten – um so höher, je höher die Einkommen sind. Zweitens sind Vermögen deutlich ungleicher verteilt, als Einkommen. Während die Top-1-% der Einkommensbezieher maximal 21 Prozent der Markteinkommen einstreichen konnte, gehörten dem Top-1-% der Vermögensbesitzer immer deutlich mehr als 20 Prozent aller Eigentumswerte. Dabei zählt Piketty als Vermögen oder Kapital – Piketty verwendet beide Begriffe gleichbedeutend – jeden handelbaren Vermögenswert, der Einkünfte bringt. Damit grenzt er sich von einem Konzept wie „Humankapital“ ab, weil die Fähigkeiten eines Menschen nicht verkauft werden können (genauer: nicht gehandelt werden sollen. In seinem Buch geht Piketty auf die Bedeutung von Sklavenhaltung und Sklavenhandel in den USA vor 1863 ein.)
Gleichzeitig schließt Piketty auch nicht produzierte Vermögen wie Finanzanlagen, Land und handelbare Naturressourcen in seine Betrachtung ein, bewertet zu Marktpreisen. Dieser Kapitalbegriff ist praktisch ein „Ertragswert“ und ganz auf die Betrachtung von Einkommensfragen zugeschnitten.[4] Ein Begriff wie das Marxsche „fiktive Kapital“ ist ihm fremd. Im Zentrum seines Interesse steht die Frage: Welche Mittel erhält ein Mensch durch seine Erwerbsarbeit – und was verdankt er seinem Erbe? Warum Menschen überhaupt sich die Früchte fremder Arbeit aneignen können, fragt er nicht.[5] Mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln hat Thomas Piketty kein Problem. Auf den gesamten 811 Seiten des Piketty-Werks diskutiert er nicht einmal die Unternehmenspolitik eines Konzerns.
Auch die Vermögensungleichheit hat sich im 20. Jahrhundert verändert. Sie ist nach Pikettys Forschungen nachhaltig zurückgegangen: Im Ergebnis der Umbrüche von 1914 bis 1950 seien die ganz großen Vermögen massiv beschädigt worden, und die veränderte Steuerpolitik hätte in der Nachkriegszeit eine Wiederherstellung ihrer Machtstellung nicht erlaubt. Diese Einschätzung traf allerdings auf mehrfache, teils heftige Kritik.[6] Tatsächlich entfällt der Rückgang der großen Vermögen in Pikettys Daten fast gänzlich auf die Zeit bis 1930. Wirtschaftliche Folgen des Zweiten Weltkriegs sind für die Superreichen bis 1960 nicht auszumachen. Das ist merkwürdig, zumal dem Ersten Weltkrieg eine so große Rolle zugeschrieben wird.
In der Beschreibung unstrittig ist, dass sich nach 1950 in den entwickelten Industrieländern eine neue Mittelklasse von etwa 40 Prozent aller Haushalte hat etablieren können, die mehr als Ketten zu verlieren hat. Neben der Durchsetzung der Manager als Element der herrschenden Klasse ist dies die zweite dauerhafte Veränderung in den Ungleichheitsverhältnissen in diesen Gesellschaften. Für die zweite, die untere Hälfte der Gesellschaft, hat sich allerdings finanziell wenig geändert. Ihr gehörte und gehört kein Vermögen.
Nicht überall wurde die massive Vermögenskonzentration als ein Skandal angesehen. Während das Wall Street Journal sein Misstrauen angesichts des unhöflichen Interesses am großen Geld schon nicht mehr verbergen konnte, präsentierten andere ihren enormen Reichtum noch während der Immobilienblase als berechtigte Erfolgsprämie. Mitte Juli 2007 verglich die New York Times die aktuellen Superreichen der USA mit ihren Vorgängern zu Beginn des XX. Jahrhunderts, dem „Gilded Age“. In der Berichterstattung griff sie auch auf die Daten von Piketty/Saez über die Einkommensmillionäre zurück: „Im Jahr 2005 erhielten die 14488 Familien, die mehr als 9,5 Millionen verdienten, 5 Prozent aller Einkommen.“ Nur wurde daraus keine Kritik, sondern ein Porträt stolzer Sieger, die sich selbst in der Tradition der Rockefeller, Morgan und Carnegie sahen.[7] Zwei Wochen später brach die Finanzkrise aus.
Krise und Ungleichheit
Was Piketty und Co. über Jahre wissenschaftlich betrieben hatten, wurde nun zum Allgemeinplatz: die Kritik an übermäßig hohen oder leistungslosen Einkommen und Vermögen. Doch ihr Programm einer Bändigung des Kapitalismus durch höhere Steuern nahmen die Eliten nicht auf. Warum sollten sie? Gerade die Analysen von Piketty und Saez zeigten doch, wie die da oben vom Lauf der Dinge profitieren. Nur außerhalb des Establishments, im zentralen Slogan von „Occupy Wallstreet“ prägten die Analysen der Forschergruppe aktuelle Politik: „Wir sind die 99 Prozent!“
In den Daten zeigte sich die Krise als Verminderung der Ungleichheit: In den USA sank der Anteil der Top-1% an allen Markteinkommen 2007 bis 2009 von 23,5 auf 18,1 Prozent: Noch deutlicher als 2000 bis 2002, diesmal allerdings nicht für lange. Schon 2010 erholten sich die US-Kapitalisten wieder. Der krisenbedingte Rückgang in den Indikatoren für Ungleichheit war zu erwarten gewesen. Die Schwankungen der Profite im Verlauf der Wirtschaftsgeschichte sind stets deutlich größer, als die Veränderungen der Lohn- und Gehaltssummen. Leid tun müssen die Bosse ihren Beschäftigen deshalb noch lange nicht, denn auch in einer Krise bleibt für die Chefs noch genug übrig: Keine Spur von einer Einschränkung ihrer Lebenshaltung in der Krise, zumeist können sie durch Verminderung der aktuellen Investitionen ihre Einkommensverwendung dem Rückgang der Profite anpassen, ohne das Zuhause oder den Privatjet verkaufen zu müssen. Bei Erwerbslosen und vielen Beschäftigten ist das ganz anders: Schon ein geringer Rückgang ihrer Einnahmen trifft sie existenziell. Nur tauchen die Selbstmorde prominenter Banker eher in den Nachrichten auf, als die Verzweiflungstaten kleiner Leute. Im Kleinen zeigt sich hier, was Piketty im Großen für den Zeitraum 1914 bis 1950 beunruhigt: Die kapitalistischen Wege zur Herstellung von Ungleichheit sind menschenfeindlich. Die kapitalistischen Wege zur Verminderung von Ungleichheit sind auch menschenfeindlich.
Wohin geht es?
Pikettys Antwort auf die Weltwirtschaftskrise ist sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Der 2013 zunächst auf französisch vorgelegte Band stellt mehr dar als eine Zusammenfassung von 15 Jahren kollektiver empirischer Forschung. Piketty versucht eine Verallgemeinerung der gefundenen Ergebnisse. Dazu werden sie in den Kontext der wirtschaftlichen Veränderungen der letzten 200 Jahre gestellt und im Lichte der neoklassischen Wachstumstheorie interpretiert. Doch sollen es nicht die mathematischen Modelle sein, die die Theorie bestimmen, sondern die realen Probleme. Dazu werden nicht nur viele Daten benutzt, die sich – wie weitere Quellen – komplett auf der Webseite des Autors finden.[8] Sondern Piketty kombiniert vielfältigste Beobachtungen, von der Romanliteratur des bürgerlichen XIX. Jahrhunderts bis hin zu Stellungnahmen des marxistischen Gelehrten Jürgen Kuczynski. Breit sind die behandelten Themen, von der demographischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte bis zur Inflation, dem Einfluss einzelner steuerlicher Regelungen und der Austeritätspolitik in der Eurozone.
Mit der Wachstumstheorie rückt eine neue Größe ins Zentrum von Pikettys Interesse: das Verhältnis des Kapitalstocks zum Nettoprodukt, der Kehrwert der Kapitalproduktivität, Pikettys Abkürzung mit dem griechischen Buchstaben ß Diese Größe verbindet seine beide „Grundgesetze des Kapitalismus“.[9] Sie verkörpert für ihn die Macht des Kapitals – und ihr Wachstum die Grundlage für wachsende Ungleichheit: weil die Kapitalrendite regelmäßig über der Wachstumsrate liegt, nimmt die wirtschaftliche Ungleichheit zu. Nur mit politischen Mitteln könne hier gegen gesteuert werden.
Vor 150 Jahren hat schon einmal ein Wissenschaftler die Aussichten des Kapitalismus mit einem Bruch beschreiben wollen. Es war Karl Marx, der Bruch war die Profitrate, und am Ende ist Marx nicht zu einem Schluss gekommen, sondern hat sich in den verschiedenen Möglichkeiten verschiedener Entwicklungen und seinen Berechnungen verheddert. So hat er nicht bemerkt, dass die Schwierigkeit noch viel tiefer lag: Man kann nicht beweisen, was nicht stimmt. Und die Profitrate muss im Kapitalismus nicht fallen.[10]
Zweifellos ist Thomas Piketty ein besserer Mathematiker als Marx. Er verheddert sich nicht in seinen Berechnungen, sondern in seinen Voraussetzungen. Denn er importiert in die Wachstumstheorie einen Kapitalbegriff, der nur Einkommensquellen zusammenfasst, aber nichts mit Produktionsmöglichkeiten zu schaffen hat und sich auch nicht aus Investitionen („Sparen“) ergibt. Damit wird es unmöglich, mit einem solchen Kapitalbegriff ökonomische Dynamik darzustellen.
Auch für sein ß stellt Piketty im 20. Jahrhundert eine U-Kurve fest. Schon der Blick auf die Grafiken in Pikettys Buch – siehe das Beispiel Großbritannien in der Grafik 3 – macht deutlich, dass sich darin zunächst der massive Verfall der Preise für landwirtschaftlich genutzte Flächen niederschlägt, und im Wiederanstieg ab Mitte des Jahrhunderts sich eine massive Erhöhung der Immobilienpreise zeigt.[11] Nach einer Weltwirtschaftskrise, die nicht nur in den USA mit dem Platzen einer Immobilienblase zusammenhing, hätte dieser Befund vielleicht ausführlicher analysiert und nicht zu einer historischen Tendenz des Kapitalismus ausgerufen werden sollen. Eine Frage wäre, ob nicht Wohnen statt einer Investition vielmehr ein Bedürfnis darstellt und selbstgenutzte Wohnungen daher nicht wirklich als Kapitalanlage taugen und gezählt werden sollten. Die Bau- und Anlageinvestitionen und die Entwicklung des Kapitalstocks der Produktion – bei Piketty eingeordnet unter „anderes inländisches Kapital“ – haben mit den großen Veränderungen von Pikettys ß nichts zu tun und zeigen eine ganz andere Dynamik.
Sehnsucht nach dem goldenen Käfig
Die Diskussion zu diesem Punkt ist nicht abgeschlossen. Aber bereits jetzt ist zu erkennen, dass sie die großen Prognosen des Autors nicht unbeschädigt lässt. Bleibt nur die Frage: Warum er selbst diesen Punkten keine Aufmerksamkeit zuwendet, sondern sich immer wieder auf ganz andere Fragen konzentriert. Da zeigt sich ein ideologisches und ein politisches Problem.
Grundvorstellung des französischen Ökonomen ist eine Wirtschaft, die von dem Gesetz von „Angebot und Nachfrage“ reguliert wird. Selbst wenn er den goldenen Käfig der Neoklassik verlässt, weil die Fakten zu deutlich den Dogmen widersprechen, hat er doch Heimweh nach den gewohnten Begriffen, den Elastizitäten, optimalen Gleichgewichten, marginalen Erträgen und der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Deshalb muss er z.B. umfangreich erörtern, warum ein Überangebot an Kapital doch nicht zu einer Senkung des Faktoreinkommens (=Profit) führen muss. Ohne „Substitution von Arbeit und Kapital“ kann er sich die Stabilität eines Wachstumspfads nicht vorstellen. Piketty nimmt Realitäten zur Kenntnis, die der Neoklassik widersprechen. Aber keine Theorien, die der Neoklassik widersprechen, weder Piero Sraffa, noch Marx.[12] Als wolle er die Theorien von Thomas Kuhn über die Beständigkeit von Paradigmen in der Wissenschaft beweisen, doktert er so lange an den alten Modellen herum, bis sie doch irgendwie zu den Fakten passen. Solche Abschnitte haben wohl nur für wenige Leserinnen und Leser einen Erkenntnis- oder Unterhaltungswert.
Hier zeigt sich ein Dilemma, dem Piketty nicht entkommen ist. Zweifellos ist gerade das marktwirtschaftliche Argumentieren eine Bedingung für den immensen Erfolg des Buches. Beständig bezieht sich der Autor auf all das, was doch „eigentlich“ von allen anerkannt wird, auf die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit, Demokratie, Wettbewerb. Aber irgendwie passt die Wirklichkeit nicht zu diesen Idealen. Warum nur? Marx hatte darauf eine Antwort. Nach seiner Theorie unterscheiden sich die objektiven Ergebnisse des Handelns in der bürgerlichen Gesellschaft von den persönlichen Absichten der Handelnden nicht zufällig, sondern prinzipiell: Er nannte „Entfremdung“, dass den Menschen die Ergebnisse ihres Handelns als fremde Macht entgegentreten. Und er wusste, dass die wissenschaftliche Erklärung des Gegensatzes den Gegensatz in der Wirklichkeit noch lange nicht beseitigt.
Thomas Piketty fehlt diese Einsicht. Deshalb appelliert er immer wieder an die Einsicht der Eliten, deshalb warnt er vor sozialen Unruhen. In einer Diskussion an der New School University in New York am 3. Oktober 2014 räumte Piketty ein, dass er vielleicht den Gewerkschaften in seinem Buch eine größere Beachtung hätte zuwenden sollen. Sicher habe die geringere Einkommensungleichheit in den Metropolen nach dem Zweiten Weltkrieg auch mit Tarifauseinandersetzungen, und nicht nur mit Steuergesetzen zu tun. Inhaltlich konnte er mit den sehr höflich vorgetragenen Beiträgen eines Marxisten (Anwar Shaikh) jedoch nichts anfangen.[13] Da er nicht zur wirklichen Arbeit forscht, kann er auch zu Macht und Ohnmacht von Beschäftigten nichts sagen. Aber das ist seine Sache. Die Linke sollte die Herausforderungen seiner Analysen annehmen.
Anmerkungen:
[1] Zusammenfassung: Thomas Piketty/ Emmanuel Saez: Income Inequality in the United States 1913-1998. National Bureau of Economic Ressearch Working Paper 8467, September 2001.
[2] Die aktuellen Ergebnisse dieses „work in progress“ finden sich im Netz: http://topincomes.parisschoolofeconomics.eu/
[3] Edward N. Wolff/Ajit Zacharias: Class Structure and Economic Inequality, Levy Institutes Working Paper 487, Januar 2007.
[4] James K. Galbraith: Unpacking the first fundamental law, real-world economics review, Issue no. 69, 7 October 2014, Special issue on Piketty’s Capital. www.paecon.net/ PAEReview/issue69/whole69.pdf
[5] Anders Marx: „Die Erbschaft erzeugt nicht diese Macht der Übertragung der Früchte der Arbeit des einen in die Tasche des andern, sie bezieht sich nur auf den Wechsel der Personen, welche jene Macht ausüben.“ http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_367.htm
[6] Gérard DUMÉNIL/Dominique LÉVY: The Economics and Politics of Thomas Piketty’s Theses. I—Critical analysis; http://www.jourdan.ens.fr/levy/biblioa.htm
[7]Louis Uchitelle: The Richest of the Rich, Proud of a New Gilded Age. New York Times, 15. Juli 2007.
[8] http://piketty.pse.ens.fr/en/capital21c
[9] 1. Grundgesetz: Anteil der Vermögenseinkommen am Gesamteinkommen = Kapitalrendite mal ß. 2. Grundgesetz: ß = Sparrate geteilt durch Wachstumsrate.
[10] Sebastian Gerhardt: Auf der Suche nach der historischen Tendenz. http://planwirtschaft.wordpress.com/oekonomiekritik/
[11] Merijn Knibbe: The growth of capital: Piketty, Harrod-Domar, Solow and the long run development of the rate of investment, real-world economics review, Issue no. 69, 7 October 2014, Special issue on Piketty’s Capital. www.paecon.net/ PAEReview/issue69/whole69.pdf.
[12] Piero Sraffa kommt gar nicht vor. Marx schon, und Piketty hat ihn auch gelesen, wie im Technischen Anhang deutlich wird (Piketty2014 TechnicalAppendix.pdf – siehe Webseite). Aber z.B. die zentrale Rolle, welche die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit in Marxens Darstellung der Akkumulation spielt, ist ihm völlig entgangen.
[13] Mitschnitt auf youtube.com