Mit dem Ölpreisverfall wird eine zweite Front gegen Russland errichtet
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 28
Alle relevanten Studien zur Weltwirtschaft, die bis Ende Oktober 2014 vorlagen, gingen für 2015 von einem Ölpreis in Höhe von rund 100 US-Dollar aus. So heißt es in der Analyse „Weltkonjunktur im Herbst 2014“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft vom September 2014: „Für die Prognose unterstellen wir, dass der Preis für ein Barrel Brent […] mit der Preisentwicklung in den USA steigt.“ Das Institut errechnete für den Jahresdurchschnitt 2015 einen Preis je Fass der Ölsorte Brent von 101 US-Dollar. Im jüngsten Report „World Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober 2014 heißt es, der IWF erwarte „für 2014 einen durchschnittlichen Ölpreis von 102,8 Dollar je Fass, der auf 99,4 Dollar je Fass im Jahr 2015 und auf 97,3 Dollar je Fass 2016 fallen könnte.“ An dieser Stelle gibt es die folgende ergänzende Passage: „Dieses Modell berücksichtigt bereits einen starken Anstieg der Nicht-OPEC-Ölproduktion“, womit der Fracking-Boom angesprochen wurde. In der IWF-Studie wird sogar die Möglichkeit eines Anstiegs des Ölpreises um bis zu 20 Prozent – aufgrund einer zugespitzten Krise im Irak und als Ergebnis von Engpässen bei Produktion und Transport – durchgespielt.
Tatsächlich durchbrach der Ölpreis im September die 100-Dollar-Marke, im Oktober die 90-Dollar-Marke, im November die 80-Dollar-Marke. Und im Dezember sogar die 60-Dollar-Marke. Binnen weniger Wochen kam es zu einem Ölpreisverfall von 45 Prozent. Was ist passiert? Immerhin pendelte der Ölpreis seit 2011 kontinuierlich in einer Bandbreite zwischen 100 und 120 Dollar. Ende 2014 gab es eher Faktoren, die für einen Ölpreisanstieg sprachen: Die Krise im Irak. Der Krieg in Syrien. Der Vormarsch der Terrorgruppe ISIS, die lange Zeit von Saudi-Arabien finanziert wurde. Die hiervon ausgehende Bedrohung der Stabilität in der gesamten Ölregion. Die Spannungen in der Ukraine. Die drohenden Begrenzungen von Gaslieferung nach Osteuropa seitens Russlands. Die Absage Putins zum Bau des South-Stream-Pipelineprojekts. Der Anstieg der Nachfrage nach Pkw in Nordamerika und Asien. Der bevorstehende Winter.
Nun gibt es Erklärungsversuche für den Ölpreisverfall, bei denen mit „Angebot und Nachfrage“ argumentiert wird. „Die USA wurden mit Fracking zum Energieexporteur – dadurch wurde das Angebot massiv erhöht“. Tatsächlich gab es in jüngerer Zeit Anzeichen dafür, dass die Perspektiven für Fracking deutlich ungünstigere sind als bislang behauptet, und dass die Förderung sich verteuert. „Die Nachfrage nach Öl ist rückläufig“. Tatsächlich blieb die Nachfrage bislang weitgehend stabil; sie wird vor allem durch das Wachstum der chinesischen Wirtschaft weiter steigen. Vor allem aber hätte eine leichte Kürzung des Angebots ausgereicht, um eine mögliche Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen und den Ölpreis zu stabilisieren.
Ende November gab es eine Konferenz der OPEC-Staaten, auf der die Mehrheit der Mitglieder dieses Kartells der ölexportierenden Länder – unterstützt von dem Nicht-OPEC-Land Russland – eine solche Drosselung der Förderung forderte, um den Preisverfall zu stoppen. Diese logische Reaktion eines Kartells konnte nicht umgesetzt werden, weil der weltweit größte Ölförderer, Saudi-Arabien, sich gegen jegliche Reduktion der OPEC-Förderung aussprach. Saudi-Arabien verfügt aufgrund seiner gigantischen Ölreserven und der großen ungenutzten Kapazitäten über eine sogenannte swing capacity. Damit ist gemeint: Das Land kann einen Ölpreisanstieg durch reduzierte Förderung ebenso herbeiführen wie durch das Hochfahren der eigenen Produktion einen Ölpreisverfall bewirken. Grundsätzlich besteht das ureigenste Interesse eines Ölförderlandes darin, für den Verkauf des eigenen Öls möglichst große Einnahmen zu erzielen und gleichzeitig die eigenen Ölreserven zu schonen. Derzeit passiert das Gegenteil: Es findet eine massive Ölförderung statt bei zugleich massiv reduzierten Einnahmen.
Nun gibt es die Behauptung, die Regierung in Riad wolle mit dem Ölpreisverfall die Fracking-Konkurrenz in den USA ausschalten. Tatsächlich gibt es zwischen Washington und Riad eine enge politische und militärische Zusammenarbeit; im Zweifelsfall garantiert die US-Regierung den Machterhalt des fundamentalistisch-islamischen Herrscherhauses der Saudis. Warum sollte Riad offen eine Politik gegen Washington betreiben? In Wirklichkeit führt der Ölpreisverfall nicht zur Einstellung von Fracking, sondern zur Neuordnung dieser Branche. Wenn in den nächsten Monaten in den USA ein paar Fracking-Unternehmen Pleite gehen, so kann das den Großen im Ölgeschäft recht sein. Die Fracking-Branche besteht überwiegend aus mittelgroßen und kleinen Unternehmen. Eine tiefe Krise und viele Pleiten im Fracking-Business ergeben für Exxon, Chevron & Co. die Chance, sich profitable Technologie und zukunftsträchtige Kapazitäten für Schnäppchenpreise einzuverleiben. Es kommt zu einer klassischen Marktbereinigung und Kapitalkonzentration auf einem Gebiet mit neuer Technologie, wo zuerst einige eher kleine Unternehmen als Trüffelschweinchen vorgeschickt und dann geschlachtet werden.
In Wirklichkeit, so die konservative Tageszeitung Die Welt am 13. Dezember 2014, ziele die Operation Ölpreisverfall auf Putin: „Befeuert wurde diese Theorie von einem Statement, das US-Außenminister John Kerry kürzlich nach einem Besuch in Riad der amerikanischen Presse in den Notizblock diktierte. Die Saudis seien sich ´sehr, sehr bewusst´ darüber, welchen Einfluss sie auf die Entwicklung des Ölpreises hätten, sagte Kerry und lächelte.“ Tatsächlich spricht alles dafür, dass die USA und die Saudis mit einer abgestimmten Politik drei politische Ziele verfolgen: Sie schaden damit erstens dem Iran und Venezuela, den gemeinsamen Feinden von USA und Saudi-Arabien. Für diese Länder hat ein niedriger Ölpreis mittelfristig katastrophale Folgen. Zweitens wirken niedrige Ölpreise wie ein Frontalangriff auf die Herausforderer der Ölwirtschaft, auf die Anbieter von nachhaltiger Energieproduktion aus der Wind- und Solarenergie-Branche. Und auf diejenigen, die den größten „Markt“ in der Energieeinsparung sehen. Es ist ja schon originell, dass der völlig überraschende Ölpreisverfall termingerecht im Vorfeld der – dann erneut ergebnislosen – Weltklimakonferenz in Lima stattfand. Drittens schließlich wird mit dem Ölpreisverfall eine zweite Front gegen Russland errichtet – nach der fatalen Politik der Sanktionen, die seit Frühjahr 2014 verfolgt wird. Die russische Ökonomie ist von Energieexporten abhängig; der Staatshaushalt Russlands ist nur dann ausgeglichen, wenn der Ölpreis bei mindestens 100 US-Dollar je Barrel liegt.
Schon einmal habe es einen vergleichbaren Ölpreisverfall gegeben, schrieb Martin Wolf am 3. Dezember 2014 in Financial Times. Ein solcher Rohölpreissturz fand Mitte der 1980er Jahre statt. Damals, so der Starökonom der britischen Wirtschaftszeitung, sei dieser Ölpreisverfall „nicht zufällig dem Zusammenbruch der Sowjetunion“ vorausgegangen. Der damalige massive Ölpreisverfall (siehe Grafik) führte auch dazu, dass der Iran, der zuvor vom irakischen Regime unter Saddam Hussein überfallen und in einen Krieg gezwungen wurde, geschwächt wurde. Im August 1990 ließ Saddam Hussein, der damals vom Westen unterstützt und dessen Offiziere bei der deutschen Bundeswehr ausgebildet wurden, seine Truppen in Kuweit einmarschieren. Das Ziel war: Die irakische Position in der OPEC zu verstärken, dem Ölkartell selbst mehr Wirksamkeit zu verleihen und einen höheren Ölpreis zu erreichen. Kuweit war zuvor maßgeblich daran beteiligt, durch zusätzliche Ölförderungen den Ölpreis auf dem extrem niedrigen Niveau zu halten. Tatsächlich wurde der Diktator in eine Falle gelockt. Washington und – verzögert – die europäischen Regierungen nahmen eine politische Kehrtwende vor. Eine westliche Armee mit 470000 Soldaten marschierte am Golf auf. Es kam zum neuen Irak-Krieg. Der damalige US-Präsident George Bush senior führte diesen Krieg unter der Losung: „We create a new world order“.
Martin Wolf argumentierte in dem zitierten Artikel, der neue Ölpreisverfall träfe „Regimes wie dasjenige von Wladimir Putin, die man liebend gern geschwächt sehen“ würde. Allerdings sei zu bedenken, dass ein niedrigerer Ölpreis „den Revanchismus Putins nochmals verstärken“ könnte. Es könnte gefährlich werden, „wenn Despoten in die Ecke gedrängt“ werden.
Das gleiche Schachbrett. Ein ähnliches Spiel.
Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21. Er gründete zusammen u.a. mit Joachim Römer, dem Gestalter dieser Zeitschrift, im Jahr 1991 die Antikriegszeitung „desert!“, die während des Irak-Kriegs 1990/91 als Wochenzeitung erschien und die das Thema „Krieg um Öl“ ins Zentrum rückte. Wolf verfasste mehrere Bücher zum Zusammenhang von Öl und Krieg, so Händler des Todes – Bundesdeutsche Rüstungs- und Giftgasexporte im Golfkrieg und nach Libyen (Frankfurt/M. 1989), Afghanistan, der Krieg und die neue Weltordnung (Köln 2002) und Sturzflug in die Krise – Die Weltwirtschaft. Das Öl. Der Krieg (Köln 2003).