Revolte gegen das System Mitsotakis

Eine tiefgreifende Unruhe hat die griechische Gesellschaft erfasst

Die Massendemonstrationen am 26. Januar 2025 waren kein Blitz aus heiterem Himmel.1 Die aktuellen Ereignisse sind eine Folge der Krise des neoliberalen Modells, das in Griechenland nur durch die Etablierung einer Diktatur der Gläubiger – repräsentiert durch die Troika aus IWF, der EZB sowie der EU – aufrecht erhalten werden konnte. Die Auswirkungen der EU-Krisenpolitik ab 2010, in deren Folge die griechische Ökonomie um mehr als ein Viertel einbrach, Arbeitslosigkeit, Armut und Verelendung immer neue Rekorde erreichten, haben tiefe Wunden in die griechische Gesellschaft geschlagen. Ebenso bleibt die brutale staatliche Repression gegen den massiven sozialen Widerstand – wiederholt wurden Regierungen gestürzt – im kollektiven Gedächtnis.

Der Versuch, im »Athener Frühling« 2015 mit veränderten parlamentarischen Mehrheiten eine Krisenpolitik im Interesse der Mehrheit der griechischen Bevölkerung durchzusetzen, scheiterte am ökonomischen und politischen Druck der EU unter maßgeblicher Führung des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Die nach den Wahlen im Januar gebildete Koalitionsregierung aus der Linkskoalition SYRIZA und den Unabhängigen Griechen (AnEl) vollzog im Sommer eine 180-Grad-Wende: Unter der massiven Drohung der Europäischen Zentralbank, die Geldzirkulation zusammenbrechen zu lassen, kapitulierte die Regierung Tsipras trotz eines mit über 60 Prozent gewonnenen Referendums bedingungslos.

Der lange Schatten
der Troika

Dieser Kotau vor der Troika hatte eine Parteispaltung und eine weitreichende Demobilisierung des sozialen Widerstandes und der gesamten politischen Linken zur Folge. Zwar konnte SYRIZA die Wahlen vom September 2015 noch gewinnen, mittelfristig verlor die Partei aufgrund ihres Glaubwürdigkeitsverlustes jedoch an Einfluss. Zwar war die Regierung Tsipras ein unwilliger Vollstrecker der Troika-Politik, aber sie setzte ihr keinen Widerstand entgegen. Das nahm vielen Menschen den Mut.

Vor diesem Hintergrund gewann 2019 die selbst angeschlagene konservative Nea Dimokratia (ND) die Wahlen und konnte die Politik der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Oberschicht sowie der Gläubiger fortsetzen. Flankiert wurde diese Politik durch eine Machtkonzentration auf einen kleinen Kreis von Funktionären rund um Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis: Im Sommer 2019 wurde das Gesetz über den Epiteliko Kratos, den Führungsstab-Staat, verabschiedet, der nicht zufällig an Offiziers- oder Krisenstäbe erinnert: So wurden verschiedene Institutionen der staatlichen Kontrolle und Verwaltung zur Nationalen Behörde für Transparenz EAD zusammengefasst und dem Ministerpräsidenten unterstellt, ebenso der öffentliche Rundfunksender ERT, der Geheimdienst EYP und die Athenisch-Mazedonische Presseagentur (APE-MPE).

Das war jedoch nur die legale Seite der neuen staatlichen Führungsstruktur: Im April 2022 wurde bekannt, dass zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens vom EYP abgehört worden waren. Neben Politikern der Oppositionsparteien waren Journalisten, hohe Militärs und Beamte, Geschäftsleute sowie führende, mit Staatschef Mitsotakis konkurrierende Funktionäre der regierenden ND unter den Abgehörten, darunter das halbe Kabinett. Selbst Außenminister Nikos Dendias gehörte zu den Ausgespähten, was zu diplomatischen Verstimmungen mit befreundeten Staaten führte. Besonders pikant: Eine hochrangige Ermittlerin der Polizei, die den Mord an dem Investigativ-Journalisten Giorgos Karaivaz aufklären sollte, zählte zu den Opfern der Überwachung. Karaivaz, auf Organisierte Kriminalität spezialisiert, war im April 2021 auf offener Straße ermordet worden.2

Ein Staat gegen
seine Bürger:innen

Das Agieren in diesem griechischen Watergate gab die Blaupause für alle weiteren Skandale ab. Ob Waldbrand-Katastrophen im Sommer oder Überschwemmungen im Winter, illegale Push-Backs von Migranten wie die Katastrophe von Pylos mit 600 Toten, die Novartis- und Siemens-Bestechungsskandale oder die Kooperationsbeziehungen der Polizei mit der Mafia: Es wurde vertuscht und verschleiert, Kritiker wurden bedroht, Opfer diffamiert oder gar kriminalisiert, Sündenböcke markiert und Verantwortliche nicht bestraft, sondern befördert. Die Verantwortung wurde bei ausländischen Mächten gesucht, etwa der Türkei und Russland, oder es wurde die Karte des Rassismus ausgespielt. Bei der Durchsetzung der Regierungsposition waren willfährige private Medien sowie der vom Premier und seinen Leuten kontrollierte staatliche Rundfunk ERT stets behilflich. Die Opposition im Parlament blieb zersplittert und zahnlos. Die außerparlamentarische Opposition wurde eingeschüchtert und b edroht.

Während ihrer ersten Legislaturperiode spielte der Regierung die Corona-Pandemie in die Hände. Mitsotakis und die hinter ihm stehenden Interessengruppen legten keine besondere Priorität auf die Bekämpfung der gesundheitlichen Risiken, sondern betrieben Symbolpolitik und nutzten die Pandemie als Vorwand für den weiteren Abbau der öffentlichen Infrastruktur, die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Einschränkung des Streikrechts. Die allgemeine Panikmache in den regierungsfreundlichen Medien ließ kritische Stimmen weitgehend verstummen. Im Fall von SYRIZA kulminierte die Zersetzung der parlamentarischen Linken im innerparteilichen Putsch des griechisch-US-amerikanischen Reeders und Investment-Bankers Stefanos Kasselakis – mit der Folge einer weiteren Parteispaltung.

Dennoch gab es immer wieder teilweise heftigen Widerstand. Der Versuch, die Demonstrationen zum 1. Mai 2020 zu verschieben, scheiterte ebenso wie die Einführung einer speziellen Polizeieinheit zur Überwachung der Universitäten 2021, mit der die Hochschulen als Ort sozialer Unruhe autoritär befriedet und der soziale Widerstand der Studierenden gegen die Privatisierung des Bildungssystems gebrochen werden sollten.3 Die spontanen, heftigen Streiks und Proteste nach der Katastrophe von Tempi im März 2023 bildete die nächste Etappe im Kampf gegen das System Mitsotakis.

Gegenöffentlichkeit

Die politische Initiative verlagerte sich immer weiter aus der Blase der Parteipolitik in den gesellschaftlichen Raum. Die Gegenöffentlichkeit, die sich in den sozialen Medien insbesondere seit 2008 entwickelt hat, spielte eine gewichtige Rolle dabei, das kritische Bewusstsein aufrecht zu erhalten. So ging 2023 anlässlich des Todes durch unterlassene Hilfeleistung an einem geistig behinderten Mann das Video des Satirikers Antonis Atzarakis viral, der jede mögliche und unmögliche Art und Weise aufzählte, auf die Menschen in Griechenland zu Tode kommen können.4 Ein anderes Beispiel ist Luben.TV, mit 1,5 Mio Zugriffen im Monat insbesondere junger Leute mittlerweile eine wichtige Stimme in Griechenland. Gegründet wurde der satirische Youtube-Kanal 2010 von Studierenden der Polytechnischen Hochschule Kreta in Chania. Der Slogan des Kanals »Fast so gut wie die griechische Wirklichkeit« ist programmatisch: Luben.TV schneidet Aussagen von Politikern und Prominenten  so mit Schnipseln aus der Kulturindustrie zusammen, dass die dahinter liegende Wahrheit kenntlich wird. So werden etwa in dem Video »Vertuschung – aber für einen guten Zweck« charakteristische Aussagen von Premier Mitsotakis über die angeblichen Verschwörungstheorien über die Katastrophe von Tempi mit seinen späteren Aussagen sowie denen von Kritikern montiert. Medienprojekte wie das 2010 gegründete ThePressProject5 und die 2012 aus der Krise der Tageszeitung Eleftherotypia hervorgegangene »Zeitung der Redakteure«6 gehören zum Kern des gesellschaftlichen Gegenbewusstseins.

Zu einem Zentrum des Widerstandes entwickelte sich der Verein der Überlebenden und Angehörigen der Opfer »Tempi 23«,7 der konsequent die Aufklärung der Katastrophe verfolgt und schließlich Mitsotakis zur öffentlichen Korrektur zwang. Unterstützt wird der Verein von der außerparlamentarischen Linken, der sich als ein untergründig ebenso einflussreicher wie stabiler Faktor erwiesen hat. Dazu gehören neben den Basisgewerkschaften eine Vielzahl von Organisationen, von denen ANTARSIA ein wichtiger Akteur ist.8 Hinzu kommen Künstler, Kulturschaffende, zahlreiche Einzelpersonen und nicht zuletzt die kommunistische Partei KKE, die sich traditionell als antagonistischer Faktor im politischen Leben Griechenlands versteht.

Die Manifestationen am 26. Januar 2023, die innerhalb weniger Tage organisiert worden waren, sind eine Konsequenz des zähen Widerstandes gegen das System Mitsotakis, der von der sozialen Krise genährt wird. Die für den Jahrestag des Verbrechens von Tempi geplanten Streiks und Proteste am 28. Februar bilden die nächste Etappe des Kampfes für die Demokratie und gegen den autoritären Maßnahmenstaat á la Mitsotakis. Das Motiv der Plakate zur Mobilisierung – eine gestreckte Faust – belegt das erstarkte Selbstbewusstsein der Bewegung.

Gregor Kritidis, Jahrgang 1971, war Redakteur des Magazins Sozialistische Positionen.

Anmerkungen:

1 lunapark21.net/zwei-jahre-nach-tempi

2 2023 wurden Karaivaz mutmaßliche Auftragsmörder festgenommen, im Juli 2024 wurden sie von einem Schwurgericht in Athen mehrheitlich für nicht schuldig befunden und freigelassen. Von dem Drahtzieher des Mordes fehlt bis heute jede Spur.

3 Rückzieher der Regierung: Aus für die »Griechische Universitätspolizei«. https://griechenlandsoli.com/2023/07/16/ruckzieher-der-regierung-aus-fur-die-griechische-universitatspolizei/

4 In Griechenland sterben. https://griechenlandsoli.com/2023/09/16/in-griechenland-sterben/

5 https://thepressproject.gr/

6 https://www.efsyn.gr/

7 https://tempi2023.gr/

8 https://www.kathimerini.gr/society/563447503/to-chroniko-tis-anazopyrosis-poioi-kai-pos-gemisan-tis-plateies/

»Matzpen« in Israel

Internationalismus als permanente Provokation

»Unser Recht, uns vor der Vernichtung zu schützen, gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung bedeutet Fremdherrschaft. Fremdherrschaft bedeutet Widerstand. Widerstand bedeutet Unterdrückung. Unterdrückung bedeutet Terror und Gegenterror. Die Opfer des Terrors sind meist unschuldige Menschen. Wenn wir an den besetzten Gebieten festhalten, werden wir zu einer Nation von Mördern und Mordopfern. Lasst uns sofort aus den besetzten Gebieten verschwinden.«

Dieser Aufruf zur sofortigen Beendigung der militärischen Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens erschien m 22. September 1967 in der israelischen Zeitung Haaretz, unterzeichnet von der Israelischen Sozialistischen Organisation, bekannt als »Matzpen«, dem Namen ihrer Zeitschrift, zu deutsch Kompass.

Ausgerecht die extreme Zuspitzung in der israelisch-palästinensischen Konfrontation hat in den vergangenen 20 Jahren in Israel das Interesse an der früheren linken anti-zionistischen Opposition in Israel geweckt, zuletzt im Juli 2024 sogar in einer Theateraufführung in Tel Aviv unter Beteiligung von Veteranen dieser Gruppe. Davon zeugt auch ein israelischer Film von 2003 sowie ein lesenswertes Buch aus Deutschland aus dem Jahr 2017.

Matzpen – Entstehung der Gruppe

Die Matzpen-Gruppe entstand 1962 in Folge von zahlreichen Ausschlüssen und Austritten aus der israelischen Kommunistischen Partei (Maki). Sie wurde spätestens mit dem Beginn der Besatzungspolitik zum Zentrum der radikalen linken Opposition in Israel. In den Jahren zwischen 1962 und 1967 erarbeitete die Gruppe eine entschieden anti-zionistische und internationalistische Programmatik, wobei dies anfangs gar nicht im Mittelpunkt stand. Die Kritik an der Kommunistischen Partei rührte aus deren Weigerung, sich mit dem stalinistischen Erbe auseinanderzusetzen und auch aus ihrer zurückhaltenden Kritik am staatsoffiziellen Gewerkschaftsbund Histadrut.

Moshe Machover, neben dem Gewerkschafter Akiva Orr einer der Gründer der Gruppe, nannte es später ein großes Glück, fünf Jahre Zeit gehabt zu haben, sich programmatisch intensiv mit dem Zionismus in all seinen Varianten auseinandergesetzt zu haben. So wurde Matzpen schon vor 1967 zum Kristallisationspunkt über die Kreise der Kommunistischen Partei hinaus. Es kamen Menschen aus der älteren Generation hinzu – Aktivisten der 1930er Jahre, etwa Jakob Taut und andere aus trotzkistischer Tradition, aber auch der arabische Marxist Jabra Nicola. In der Gründungsphase schloss sich auch Tikva Honig-Parnass an, bis dahin führendes Mitglied der linkszionistischen Partei Mapam. Sie war zeitweilig Generalsekretärin der Mapam gewesen und hatte 1948 als Soldatin auf israelischer Seite gekämpft. 

Internationalismus als permanente Provokation

Mit dem Juni-Krieg und dem Beginn der Besatzung 1967 wurde Matzpen zu einer permanenten Provokation in Israel. Die Wirkung der Gruppe stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Größe. Fast jede Aktion und jedes öffentliche Statement, nicht selten in Haaretz dokumentiert, führte zu teils heftigen Reaktionen von Seiten des Staates, der Armee und den Parteien. Auch international war die Wirkung, gemessen an der Größe der Gruppe, die nie viel mehr als 150 Mitglieder gehabt haben soll, erheblich. Matzpen wurde international zum Bezugspunkt von Aktivisten der Neuen Linken – und zugleich Stachel für Verteidiger Israels als auch für militante Vertreter der arabischen Linken.

Stein des Anstoßes war immer wieder die geradezu unbeirrbar internationalistische Position Matzpens: Die Gruppe sah Perspektiven nur in einem multinationalen sozialistischen Gemeinwesen – und das möglichst über die Grenzen von »Erez Israel« hinaus. Sie beharrte auf »nationaler Selbstbestimmung« auch für die jüdische Bevölkerung, was etlichen Linken auch in der PLO zuwiderlief.

Nationale Selbstbestimmung, von Moshe Machover bis heute vertreten, bedeutet eben nicht zwingend ein Staat je Nation. Die Idee eines gemeinsamen sozialistischen Gemeinwesens, das nicht Halt machen sollte vor den bestehenden nationalstaatlichen Grenzen auf arabischer Seite, verband Matzpen nun wieder mit der palästinensischen Linken.

Trennen und Bleiben

Selbst eine deutlich größere Gruppe wäre mit solchen Ansprüchen in durchweg feindlicher Umgebung wahrscheinlich überfordert. Die international eskalierenden Auseinandersetzungen und überhitzten Debatten in der alten und Neuen Linken zogen tiefe Spuren in der Matzpen-Gruppe. Ab 1970 kam es zu Trennungen, Spaltungen, zunächst einer kleineren trotzkistischen Gruppe. Dann löste sich eine weitere Gruppe von Matzpen um Ilan Halévy, dem späteren Vertreter der PLO in Frankreich und dann stellvertretender Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ihm ging es um einen engeren Anschluss an die palästinensische Bewegung.

1972 kam es schließlich zur folgenreichsten Abspaltung einer Gruppe, die sich der trotzkistischen Vierten Internationale anschloss. Noch zehn Jahre konnte die deutlich geschrumpfte Organisation wirken. 1982, in Folge des Libanon-Krieges und der massenhaften Opposition in Israel, durfte man noch einmal auf eine Chance hoffen: Die erfolgreiche Bildung einer linken Parlamentsliste mehrerer Gruppen kam zustande, aber nicht die organisatorische Einheit. Matzpen löste sich im selben Jahr auf.

Etliche Mitglieder blieben nicht nur in konkreten Arbeiten beisammen. Die Verwüstungen, die die israelische Politik hinterlassen hat, führt ihre Kritiker immer wieder zusammen – und das weit über den Kreis der früheren Matzpen-Gruppe hinaus.

Ein Film und ein Buch

20 Jahre nach der Auflösung der Gruppe brachte der Filmemacher Eran Torbiner ehemalige Aktive zusammen. Daraus entstand der Film »Matzpen – Anti-Zionistische Israelis«. In beeindruckenden Interviews und zeitgenössischen Aufnahmen werden die Etappen der innerisraelischen und regionalen Konflikte nachgezeichnet und das Bemühen um eine radikale Veränderung in Israel für eine gemeinsame Zukunft von jüdisch-israelischen und arabisch-palästinensischen Menschen verdeutlicht.

Angeregt auch durch den Film, hat Lutz Fiedler über die Matzpen-Gruppe eine Doktorarbeit geschrieben. Das umfangreiche Buch ist ungewöhnlich sensibel in Beziehung zu Themen und handelnden Personen geschrieben. Eine Organisationsgeschichte ist es nicht, aber ein thematisch gegliederter Durchgang durch fast alles, worum es bei Matzpen ging: von den Gründungsgründen über die Kolonialismus-Begriffe, die »Erfindung einer hebräischen Gegenwart« bis hin zum übergreifenden Thema sowohl hier wie dort: »Jenseits des Holocausts – Jüdische Vergangenheit, hebräische Gegenwart, sozialistische Zukunft…«

Martin Dieckmann, Jahrgang 1956, bis zum Ruhestand ver.di-Gewerkschaftssekretär, wurde in den 1970er Jahren auf Matzpen aufmerksam gemacht und blieb in deren Sinn engagiert in Debatten über Israel und Palästina.

Buch und Film:

Lutz Fiedler: »Matzpen. Eine andere israelische Geschichte«. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 25, Göttingen 2017.

Link zum Film: https://matzpen.org/english/eran-torbiners-film-about-matzpen/

No Other Land

Palästinensisches Leben in der Westbank

Am 4. Februar 2025 erklärte US-Präsident Donald Trump  seine Absicht, den Gazastreifen zu übernehmen und alle palästinensischen Menschen zu vertreiben. Von der folgenden öffentlichen Empörung und diplomatischen Kritik lässt er sich nicht beeindrucken. Vor einem Jahr hatte auf der Berlinale 2024 der israelisch-palästinensische Film »No Other Land« den Preis für den besten Dokumentarfilm und 2025 den Oscar. Er beschreibt den seit über 20 Jahren währenden Kampf der in den südlich von Hebron gelegenen Hügeln von Masafer Yatta lebenden Palästinenser mit den israelischen Behörden um ihre Heimat.

Zwei der Filmemacher stammen aus der Region, die anderen beiden sind Israelis. Basel Adra aus Masafer Yatta und Yuval Abraham aus Israel sind selbst in dem Film zu sehen.

Die Palästinenser lebten schon lange vor der Staatsgründung Israels dort zunächst in Höhlen, später in armseligen Häusern. Die Existenz ihrer Dörfer wurde von Israel nie anerkannt. 1980 erklärte die israelische Regierung die Region zum militärischen Manövergebiet. Schon zuvor hatte der spätere Premierminister Ariel Sharon klargestellt, dass diese Zonen ausschließlich dazu dienen würden, dort israelische Siedlungen zu bauen – also die Palästinenser von dort zu vertreiben; der zwischen 2019 und 2023 gedrehte Film zeigt die Konsequenzen.

Nachdem schon Ende der 1990er Jahre über tausend Bewohner durch Israels Armee gewaltsam fortgeschafft worden waren, jedoch einen vorläufigen Schutz erstreiten und zunächst zurückkehren konnten, ist der Rechtsweg seit zwei Jahren erschöpft, und die Armee macht in unmittelbarer Nähe der Dörfer regelmäßig Übungen mit scharfer Munition und schickt Soldaten, die die Häuser der Dörfler zerstören.

Die Bagger der Armee sind in dem Film das wiederkehrende Ereignis; alle Häuser sind von Zerstörung bedroht. Szene: Welches Haus wird es heute treffen? Hektisch versuchen die Menschen aus dem betroffenen Haus zu retten, was zu retten geht. Manchmal gelingt das nicht rechtzeitig, dann geht alles verloren, was drinnen geblieben war. Diese Situation betrifft nicht nur einzelne Familien, sondern die ganze Dorfgemeinschaft – alle sind betroffen und alle versuchen, sich zu wehren. Szene: Sie protestieren, schreien die Soldaten an, »was würdest Du tun, wenn man Dein Haus zerstört?«, stellen sich ihnen in den Weg. Aber sie haben keine Chance.

Da es für Palästinenser keine Baugenehmigungen gibt, bauten sie die Schule für ihre Kinder eben »illegal« – am Tage die Frauen, nachts die Männer, damit es nicht gleich bemerkt wird. Szene: Endlich ist sie fertig! Die Kinder freuen sich auf die Schule, drängen den Vater, sie hinzufahren und singen froh auf dem Weg – um wieviel schrecklicher ist es für sie, es mitzuerleben, dass ihre Schule wieder zerstört wird. Die Soldaten, die die Abrissbagger begleiten, erscheinen als Unpersonen, nichts Menschliches geht von ihnen aus, wie Maschinen verrichten sie ihr Zerstörungswerk – alles, was sich ihnen entgegenstellt, wird beiseite geräumt. Die Soldaten sagen nicht viel, außer »Zurück!« oder »Dies ist israelisches Land!« oder »Wir setzen nur einen Gerichtsbeschluss um«.

Wenn die Dörfler gegen die Zerstörung demonstrieren, setzt die Armee Tränengas ein, wenn jemand sich den Soldaten protestierend nähert, wird er verhaftet und wenn einer sein Hab und Gut verteidigen will, wird geschossen. Und wenn die Siedler kommen und gewalttätig werden, schauen die Soldaten tatenlos zu.

Szene: Einmal kommt der frühere britische Premierminister Tony Blair zu Besuch, begleitet von vielen Kameras, und prompt stellt das Militär die Zerstörungen ein, natürlich nur vorübergehend. Internationale Aufmerksamkeit ist nicht erwünscht, und ständig kommen Soldaten auf die Kamera zu, halten die Hand davor, schubsen die Filmenden weg.

Wir sehen, wie ein israelischer Journalist, Yuval Abraham, in das Dorf kommt, um über die Ereignisse zu berichten. Von den Einheimischen wird er ironisch »human-rights-Israeli« genannt, denn was soll seine Aktivität schon bewirken? Er kommt in Kontakt mit Basel Adra, einem Dorfbewohner, der Jura studiert hat, aber in der aktuellen Situation keine Arbeit findet. Wie sie sich einander nähern, einen Dialog beginnen und ihn aufrechterhalten, obwohl ihre Lebenswirklichkeit so verschieden ist, ist bewegend. Immer wieder bilden die Gespräche der beiden einen Ruhepunkt zwischen den Bildern der Gewalt. Basel fragt Yuval, wer dessen Berichte denn lesen wird, und Yuval muss zugeben: Nicht viele. Und dann kann er abends wieder nach Hause in Israel fahren, was für Palästinenser völlig ausgeschlossen ist. Allein die Farbe des Ausweises oder des Nummernschilds am Auto zeigt jedem, wo sein Platz in diesem System der Ungleichbehandlung ist; und das betrifft die Bewegungsm_ f6glichkeit ebenso wie die Arbeitsbedingungen oder das Rechtssystem.

 Zunehmend gerät Adra ins Visier des Militärs. Nachts tauchen Soldaten auf, die das Haus seiner Familie nach ihm durchsuchen, sein Vater wird verhaftet. Der Film fängt die Zermürbung ein, den psychologischen Preis für die, die noch ein Dach über dem Kopf haben. Und dennoch: Alle Menschen, auch und besonders die Frauen, beweisen täglich ihre Standhaftigkeit, die auch ich während meiner Besuche in der Westbank immer wieder erlebt habe.

Szene: Und wieder kommen die Soldaten mit den Baggern ins Dorf, ein nächstes Haus ist an der Reihe. Diesmal zerstören sie auch die Schafställe und sogar die Außentoilette, es soll kein Stein auf dem anderen bleiben. Als die Soldaten auch einen Generator konfiszieren, der die einzige Stromquelle für die Familie ist, wehrt sich der Besitzer vehement, wird von den Soldaten angeschossen und bleibt querschnittsgelähmt zurück. Zwei Jahre später stirbt er an den Folgen der Verletzung.

Die Wasserleitung des Dorfes wird zerschnitten, der Brunnen zubetoniert – es soll kein Leben mehr möglich sein in Masafer Yatta. Die Menschen ziehen sich in die Höhlen zurück, in denen ihre Großeltern gelebt hatten. Und doch weigern sie sich, wegzugehen. Wo sollen sie auch hin? Sie haben kein anderes Land. Sie sind hier verwurzelt. Basel sehnt sich nach einem Leben in Sicherheit und Frieden, einem eigenen Staat, aber er weiß, dass man einen langen Atem brauchen wird. Man merkt ihm an, wie die Situation an ihm zerrt, wieviel Kraft sie kostet, und immer wieder sagt er, wie leer seine »Batterie« sei.

Szene: Und dann kommen die Siedler ins Dorf, werfen mit Steinen auf die Menschen, zerstören Fensterscheiben. Schließlich wird der Cousin von Basel von einem Siedler auf offener Straße erschossen. Das ist das Zeichen für einige aus dem Dorf, ihre Habe und die Schafe auf Lastwagen zu packen und wegzugehen. Die meisten aber wollen immer noch bleiben. Wie lange?

Die israelische Association for Civil Rights in Israel (ACRI) schrieb zu der Entwicklung: »Die Umsiedlung von Zivilbevölkerung widerspricht dem Völkerrecht, das die erzwungene Umsiedlung einer geschützten Zivilbevölkerung durch eine Besatzungsmacht verbietet, und stellt ein Kriegsverbrechen dar.«

Yuval Abraham sagt: »Wir Israelis müssen dieser Situation ins Auge sehen, um sie zu verändern. Der Film ist dafür ein hilfreiches Medium.«

Andreas Grüneisen war nach seiner Tätigkeit als Arzt 2009/10 Teilnehmer des Ökumenischen Begleitprogramms des Weltrats der Kirchen (EAPPI) in Palästina.

4050 Stunden

Auch 21 Jahre nach dem abgebrochenen IG-Metall-Streik keine 35-Stunden-Woche im Osten

Im Sommer 2003 brach der 1. Vor-
sitzende der IG Metall den laufenden Streik für die Einführung einer 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektrobranche Ost (Berlin, Brandenburg, Sachsen) kraft seiner Wassersuppe vor laufenden Kameras ab. Das übliche Prozedere wäre ein anderes gewesen. Weder Vorstand noch Tarifkommission waren einbezogen, die Streikenden vor den Kopf gestoßen.

Die Geschichte selbst ist fix erzählt: In der Bundesrepublik von 1984 mag das Verschieben der 35-Stunden-Woche auf einen auf elf Jahre angelegten Stufenplan nicht gleich wie ein Erfolg gewirkt haben. 1995 war die Verkürzung der Wochenarbeitszeit in der Metall- und Elektrobranche im westlichen Teil des inzwischen vergrößerten Deutschlands dann aber doch Stand der Dinge. Im Osten folgte auf den CDU-Wahlerfolg im März 1990 die Desillusionierung vielleicht keinem Plan, aber doch in Stufen.

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Leben, Lachen, Lieben, Kämpfen

Der Kampf um die 35-Stunden-Woche vor 40 Jahren. Eine Erinnerung an die größte kulturpolitische Kampagne der bundesdeutschen Gewerkschaften in der Nachkriegszeit.

Dienstag 14. Mai 2024 – Im Stuttgarter Gewerkschaftshaus treffen sich Aktivist:innen aus dem Streik vor 40 Jahren. Veranstalterin ist die Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg. Die Idee zu der Veranstaltung wurde Anfang des Jahres am Rande der Trauerfeier für Sybille Stamm verabredet, einer engagierten ehemaligen Sekretärin der Stuttgarter IG Metall Bezirksleitung, deren plötzlicher Tod sie auch aus den Vorbereitungen für eben diese Streikerinnerung herausgerissen hatte.

Es ist eine Handvoll ehemaliger Aktiver, die die Idee für die Veranstaltung umsetzen. Neben dem umtriebigen »Rosa-Lux«-Büro, Christa Schnepf und Martin Storz, die den Streik fotografisch für die IGM-Streiknachrichten begleiteten und ihre beeindruckenden Aufnahmen für eine Fotoausstellung zur Verfügung stellten (Klasse Gestaltung: Filippo Capezzone). Heidi Scharf, 1984 IGM-Gewerkschaftssekretärin in Heilbronn, mit einem launigen Beitrag zur Historie des Kampfes um die 35-Stunden-Woche und ich mit einem Bühnenprogramm, das die Stimmung und die kulturelle Durchdringung des damaligen Arbeitskampfes mit Live-Musik, Texten, Projektionen, Einspielern und Tondokumenten widerspiegelt, wozu ich neben Musikern aus dem ewo2-Projekt auch kulturell Aktive von damals, wie Margit Romeis oder Einhart Klucke gewinnen kann.

Es gibt ein Leben vor der Rente

Mit Einhart, Margit und anderen war ich im Vorfeld des damaligen Streiks mit der Revue »Es gibt ein Leben vor der Rente« eineinhalb Monate durch die Republik getourt. In Gewerkschaftshäusern, Bürgersälen oder vor Betriebsversammlungen brachten wir einen heißen Ritt durch die Geschichte der Arbeiterbewegung auf die Bühne, der mit der Forderung nach der 35 endete. Es war keine offizielle Tour der IG Metall und vielleicht ergab sich auch der Erfolg und die Intensität der Aufführungen daraus, dass die örtlichen Gewerkschaften aus eigenem Antrieb auf diese kulturelle Unterstützung gesetzt und uns engagiert hatten.

Die Erfahrung mit Kultur in gewerkschaftlichen Kämpfen hatte damals schon einen längeren Vorlauf, war aus der Politisierung seit den 60er Jahren erwachsen, als viele Gewerkschaftsmitglieder nicht nur durch die betriebliche Wirklichkeit, sondern auch über außerparlamentarische Aktivitäten (selbstverwaltete Jugendzentren, Aktionen gegen Rechts, Anti-AKW-Bewegung) oder linkspolitische Organisationen zur Gewerkschaftsarbeit kamen. So auch wir Kulturleute. Und es waren kluge Gewerkschafter:innen, die uns damals den Weg in die Organisation öffneten, allen Vorbehalten und Widerständen zum Trotz.

Den gefesselten Prometheus befreien

Auf Fotos vom Streik sind Kollegen und Kolleginnen mit einem grünen Liederbuch zu sehen. Das Bilder-Lieder-Lesebuch von Karl Adamek, das 1981 bei der Büchergilde Gutenberg erschienen und über den Vorstand der IG Metall finanziert worden war. 500.000 dieser Bücher wurden über die Bücherpakete der IG Metall im Anschluss an Bildungs-Seminare in Umlauf gebracht, sorgten für ein breites historisches Verständnis für die Geschichte und die Kultur der Arbeiter:innen-Bewegung und machten Lust auf das gemeinsame Singen der alten oder aktuellen Lieder.

Hinzu kam, dass es der Abteilung Kulturpolitik beim damaligen DGB-Bundesvorstand unter der Brecht-Zeile: »Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern auch sich in der Lust schulen, ihn zu befreien.« gelang, die breite Szene von Liedermacher:innen, politischen Theatergruppen, Chören und Songgruppen zusammenzubringen und auf eine aktive Unterstützung der Auseinandersetzungen vorzubereiten.

»Damals waren Kulturschaffende und Musiker:innen an unserer Seite. (…) Der Streik begann im Regen und endete nach vielen Wochen im Regen. Schlecht für die Stimmung. Was wäre gewesen, wenn nicht Lieder und Musikant:innen für gute Laune gesorgt hätten, zum Mut machen, zum Aufheitern, zum Mitsingen, aber auch, um dem Bedürfnis nach Schulterschluss und Solidarität musikalischen Ausdruck zu verleihen.

In den langen Streikwochen wurde vieles wieder und vieles neu gelernt. Eine ganz wichtige Rolle spielten bei diesem Lernprozess unserer ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Italienische, türkische und griechische Lieder gehörten zum Repertoire unserer Liedermacher:innen und Songgruppen, Texte machten die Runde, und irgendwann wurden diese Lieder mitgesungen von allen – auch den Deutschen. Das war eine wunderbare gemeinsame Erfahrung.«, schrieb Sybille Stamm in einem Nachklang zum Streik.

Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse

Die Gewerkschaftsforderung nach der 35-Stunden-Woche ging weit über den Horizont klassischer Tarifrituale hinaus. Der Ruf nach mehr Zeit für Kultur, Bildung, Erholung, Sport und Familie traf den Nerv der politisch und kulturell hochsensiblen, gut organisierten außerparlamentarischen Bewegung und er fand auch vielfältige prominente Unterstützung. (Siehe Kasten mit Solidaritätsaufruf.)

»Durch die Verkürzung der Arbeitszeit werden nicht nur Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, sondern gleichzeitig durch Erweiterung der arbeitsfreien Zeit die Beziehungen der Menschen untereinander verändert. Mehr Zeit für uns selbst, die Familie, mehr Zeit für Freunde, für gesellschaftliche Aufgaben und für Politik ist für die Qualität des Lebens ebenso unabdingbar wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Handlungs- und Entscheidungskompetenz durch mehr Selbstbestimmung innerhalb des Arbeitsprozesses« so Klaus Zwickel, damaliger erster Bevollmächtigter der IG Metall in Stuttgart, zu den Zielen des Arbeitskampfes.

Um eine tarifpolitische Forderung ging es also, die das Leben in seiner Gesamtheit berührte. Es ging um die Verfügungsgewalt über die Zeit, um Machtfragen und um die Frage, wer kann sich was leisten und warum nicht. Es ging, so scharf und ehrlich wurde das damals formuliert, auch um die Überlebensfrage der Gewerkschaften, die sich einer bis dahin noch nicht da gewesenen konzertierten Aktion von Kapital, Regierung und Medien ausgesetzt sahen. Legendär die Ansage des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der die Forderung der Gewerkschaften als »dumm, absurd und töricht« angegriffen hatte.

»Der Kampf um die 35-Stunden-Woche ist weit mehr als ein ‚nur ökonomischer‘ Kampf. Er ist ein Kampf um die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Er muss geführt werden von einer durch Arbeitslosigkeit und Krise bereits geschwächten und uneinigen Gewerkschaftsbewegung gegen ein durch die Arbeitslosigkeit bereits gestärktes und einig und geschlossen handelndes Kapital und seiner politischen Verbündeten,« formulierte 1983 Franz Steinkühler, damals 2. Vorsitzender der IG Metall, in einem Papier mit zehn Thesen zum Arbeitskampf.

Für diesen Kampf gab es unterschiedlichste unterstützende gestalterische Aktivitäten von Laienkünstler:innen und Profis (Filme, Bücher, Lieder, kreative Großtransparente, Plakate, Kunstausstellungen) und es gab einen allgemeinen Boom zu Kulturseminaren. Gewerkschaftsmitglieder jeden Alters drängelten sich unter der Losung: »Leben, lieben, lachen, kämpfen«.

Diese Losung aus dem Frauenbereich der IG Metall entsprach nicht dem offiziellen Duktus, aber sie wurde übernommen. Der Funke sprang über, ein kreativer Dialog entstand, in dem Künstler:innen und Funktionäre sich gegenseitig qualifizierten, gegenseitig forderten und förderten. Diese fruchtbare Beziehung endete und hinterließ Ernüchterung, als nach sieben Wochen Streik der umstrittene Etappenplan zur Einführung der 35-Stunden des Schlichters Georg Leber, abschätzig LeberKäs genannt, verabschiedet wurde.

Eine vertane Chance?

Es gab kein Konzept über den Tag X hinaus, keine Rahmenbedingungen, die das kulturelle Feuer am Glimmen hätten halten können. Die gewerkschaftlich orientierte und kulturelle Bewegung lief sich tot.

Eine vertane Chance? Oder hat es nie eine Chance gegeben? War das Süppchen, das da für eine gewerkschaftliche Forderung zu brodeln begonnen hatte, von Anfang an schon zu scharf gewürzt für die Befindlichkeit des Apparats? Die Fragestellung »wer?, wen?«, die die meisten kulturellen Beiträge durchdrang, die klassenkämpferische Forderung nach grundsätzlich anderen Lebens- und Verwertungsbedingungen, die Sinnfrage, die eine Kunst hervorbrachte, die sich fundamental mit den herrschenden Zuständen auseinandersetzte… Ich weiß nicht, ob solche Überlegungen in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften je eine Rolle spielten, ob Debatten dazu im Nachklang je geführt wurden oder ob sich das pragmatisch von selbst erledigte, zum Beispiel über den Bericht zur Kassenlage.

40 Jahre danach findet die Ernüchterung ihre Fortsetzung. Die offizielle Erinnerungsarbeit an diese bedeutende Zeit bundesdeutscher Gewerkschaftsbewegung fand auf äußerster Sparflamme statt. Die damalige Haltung und inhaltlichen Positionen passten nicht in das allgemeine Wegducken gegenüber der mal wieder alles beherrschenden krisengeschüttelten Kapitallogik.

Sowas hatte ich das letzte Mal Anfang der 90er Jahre erlebt, als nach dem Kollaps des realsozialistischen Modells auch der sozialkritische oder antikapitalistische Kulturansatz mit in den Strudel gerissen wurde. Die kämpferische Kultur und Historie der Arbeiter:innen-Bewegung mutierte auch in den Gewerkschaften zum Schamobjekt. Es folgte eine bleierne Zeit von rund zehn Jahren, nicht nur für die gewerkschaftliche Kultur, die erst durch den breiten außerparlamentarischen Widerstand gegen die Schrödersche HartzIV-Politik wieder aufgebrochen wurde.

Bernd Köhler, Mitbegründer von Lunapark21, war früher unter dem Namen »Schlauch« als politischer Liedermacher unterwegs. Heute setzt er diese Tradition mit der Mannheimer Gruppe »ewo2 – das kleine elektronische weltorchester« fort. Mehr unter: www.bernd-koehler-live.de

Boxheim und Potsdam

Am 25. November 2023 trafen sich Nazis, AfD-Funktionäre und zwei CDU-Mitglieder in einem Hotel bei Potsdam und schmiedeten Deportationspläne gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Als dies im Januar 2024 ans Licht kam, antwortete eine breite Welle von Demonstrationen gegen die AfD.

Baerbock, Habeck, Lindner, Scholz, Söder und Steinmeier begrüßten das, auch der Oppositionsführer Merz.

In der Frage der Immigration besteht zwischen der AfD einerseits, CDU/CSU, FDP, den Grünen und der SPD andererseits verstohlene Einigkeit. Die EU, die Großen Koalitionen unter Merkel und die Ampel-Regierung von Scholz haben den Schengen-Raum so abgeschottet, dass Zehntausende im Mittelmeer zu Tode kommen. Auch darüber, dass künftig mehr abgeschoben werden soll, gibt es wenig Streit. In der Potsdamer Tafelrunde wurde daraus allerdings völkische Politik.

Seit Jahren bekämpfen antirassistische, antifaschistische und humanitäre Bewegungen die Abschließungs- und Abschiebepolitik der EU und der deutschen Regierungen. Damit standen und stehen sie ziemlich allein. Plötzlich sehen sie sich vom Mainstream erfasst. Befinden sie sich im falschen Film?

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Jonglieren mit Mindestalter und Beitragsdauer

Die Rentenreform in Frankreich

„Altersarmut“ ist zumindest bislang eher ein deutscher als ein französischer Begriff.  Die Sprache ist auch hierbei Ausdruck der materiellen Verhältnisse. Denn die Statistiken belegen, dass jedenfalls in den letzten Jahren die absolute Armut im Rentenalter in der Bundesrepublik ein wesentlich verbreiteteres Phänomen war als in Frankreich. 

Dies belegen auch Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). So zeigen Angaben aus der OECD Library von 2017 für das Jahr 2014 bezogen auf Deutschland einen Anteil der „Personen, deren Einkommen weniger als die Hälfte des verfügbaren Medianhaushaltseinkommens beträgt“, in Höhe von 9,5 Prozent bei den über 66-Jährigen, jedoch für Frankreich zum selben Zeitpunkt in Höhe von nur 3,6 Prozent.

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Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen

Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Autoren, Politikern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur gewaltsamen Räumung von Lützerath

Schon die ersten Tage des Jahres erinnerten uns daran, dass 2023 viel auf dem Spiel steht. Bei sommerlichen Temperaturen zu Silvester und einem bisher etwa 10 Grad zu warmen Januar hat jeder empfindende und denkende Mensch mittlerweile das mulmige Gefühl, dass wir ganz bestimmt keine 20 Jahre Zeit mehr haben um die Klimakatastrophe noch zu verhindern.
Doch die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Es macht uns fassungslos, dass sich die Politik entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimakatastrophe für die Zerstörung des Dorfes Lützerath und weitere Braunkohleverstromung entschieden hat. Lützerath ist ein Beleg dafür, wie wenig ernst die Politik den Klimaschutz und ihre eigenen Gesetze nimmt.

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The Turn of the Screw

Künstliche Intelligenz – ein fortschrittliches Werkzeug im Arsenal der Ausbeutungstechniken

„Künstliche Intelligenz ist eines der wichtigsten Dinge, an denen Menschen arbeiten. Ihre Bedeutung ist grundlegender als Elektrizität oder das Feuer“, so Google-Chef Sundar Pichai 2018 auf einer Veranstaltung in San Francisco. Und Microsoft-Chef Satya Nadella: „Künstliche Intelligenz ist nicht einfach nur eine weitere Technologie, es könnte eine der wirklich grundlegenden Technologien sein, die Menschen jemals entwickelt haben.“

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Streiks gegen Waffenlieferungen in Genua

Interview mit José Nivoi

José Nivoi ist Mitglied der Gewerkschaft Unione Sindicale di Base und Sprecher des autonomen Hafenarbeiterkollektivs CALP in Genua.

Wie haben Sie herausgefunden, dass über den Hafen von Genua Waffen verschifft werden? Und wohin sollte das Kriegsgerät gebracht werden?

Aus einer Zeitschrift erfuhren wir 2019, dass aus Le Havre ein Schiff mit Waffen in Genua einlaufen würde. Es sollte in den Jemen weiterfahren. Wir haben uns zum Streik entschieden. Seitdem haben wir viermal Waffentransporte blockiert. Als nächstes sollten Waffen über Genua und den türkischen Hafen Iskenderun nach Syrien gebracht werden. Unsere dritte Blockade richtete sich gegen eine Waffenlieferung in die Kaschmir-Region. Der vorerst letzte Versuch einer Blockade fand im Mai 2021 statt. Wir haben eher zufällig erfahren, dass wieder Waffen über unseren Hafen verladen würden, und dass Israel Raketen erhalten sollte. Zeitgleich fand die israelische Offensive „Operation Guardian of the Walls“ im Gaza-
streifen statt. Wir haben landesweit mobilisiert. Die Häfen von Neapel und Livorno haben sich uns unter dem Motto „Stoppt die Waffenlieferung nach Israel“ angeschlossen. Das waren die Höhepunkte unseres Kampfes.

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