Jonglieren mit Mindestalter und Beitragsdauer

Die Rentenreform in Frankreich

„Altersarmut“ ist zumindest bislang eher ein deutscher als ein französischer Begriff.  Die Sprache ist auch hierbei Ausdruck der materiellen Verhältnisse. Denn die Statistiken belegen, dass jedenfalls in den letzten Jahren die absolute Armut im Rentenalter in der Bundesrepublik ein wesentlich verbreiteteres Phänomen war als in Frankreich. 

Dies belegen auch Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). So zeigen Angaben aus der OECD Library von 2017 für das Jahr 2014 bezogen auf Deutschland einen Anteil der „Personen, deren Einkommen weniger als die Hälfte des verfügbaren Medianhaushaltseinkommens beträgt“, in Höhe von 9,5 Prozent bei den über 66-Jährigen, jedoch für Frankreich zum selben Zeitpunkt in Höhe von nur 3,6 Prozent.

Und noch im Januar diese Jahres gab selbst das reaktionär-wirtschaftsliberale deutsche Wochenmagazin Focus unter Bezugnahme auf OECD-Erhebungen für 2019, an: „Demnach sind in Frankreich insgesamt 4,4 Prozent der über 65-Jährigen von Altersarmut betroffen. Bei Männern allein sind es 3,3 Prozent, bei Frauen 5,2 Prozent. In Deutschland beträgt die Rate 9,1 Prozent, bei Männern 7,6 Prozent, bei Frauen 10,4 Prozent.“

Keine Zauberei

Dafür gibt es keine magische Erklärung, sondern eine ebenso ein-fache wie rationale: Vormals gab es in Frankreich ein relativ niedriges Mindest-Eintrittsalter für die Rente. Im Jahr 1982 wurde es für alle abhängig Beschäftigten auf 60 festgelegt, sofern keine günstigere berufsbezogene Sonderregelung vorlag. Dies war eine der wenigen tatsächlich progressiven Reformen der damaligen Linksregierung unter François Mitterrand, für die sie gewählt worden war, von denen sie jedoch nur wenige auch real durchsetzte.

Das bedeutete aber nicht, dass alle abhängig Beschäftigte auch wirklich mit „punkt sechzig“ in Rente gingen; in der sozialen Realität liegt das praktische Alter des Rentenbeginns in den letzten Jahrzehnten um zirka zwei Jahre über dem gesetzlichen.

Je niedriger jedoch ein Mindestalter liegt, desto weniger Abzüge und Strafbeträge müssen Lohnabhängige hinnehmen, weil ihnen kein „zu früher Abgang“ oder fehlende Arbeitsjahre vorgeworfen werden. Eine Anhebung des Mindestalters bedeutet umgekehrt ja nicht automatisch eine Erhöhung des realen „Abtritts“-Alters – zumal viele Unternehmen dazu tendieren, sich mittels Kündigungen, Abfindungen oder „Sozialplänen“ vom sogenannten alten Eisen zu trennen –, sondern tendenziell eher eine Absenkung der Rentenzahlungen, weil die Voraussetzungen für den Bezug einer vollen Rente schwerer zu erfüllen sind. Wobei es dabei neben dem Lebensalter noch eine weitere Stellschraube gibt, nämlich die abgeforderte Zahl von Beitragsjahren.

Stück-um-Stückwerk

Diese betrug in Frankreich seit der historischen Weichenstellung von 1982 zunächst 37 Jahre und sechs Monate und wurde dann sukzessive angehoben, zunächst auf 40 Jahre für die Beschäftigten der Privatwirtschaft (1993, „Balladur-Reform“) und später in den öffentlichen Diensten (2003, „Fillon-Reform“),  schließlich im Jahr 2010 unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys auf 41 Jahre und sechs Monate mit („Woerth-Reform“). Zuletzt kam unter sozialdemokratischer Präsidentschaft François Hollandes mit der „Touraine-Reform“ dann eine weitere Anhebung der eingeforderten Beitragszeiten auf 43 Jahre, wobei dieser Wert durch eine schrittweise Anhebung bis 2035 erreicht werden sollte. Zu den Beschlüssen, die der jetzige Staatspräsident Emmanuel Macron im Frühjahr 2023 durchsetzte, zählt eine Beschleunigung dieser Anhebung, um die „43“ schon im Jahr 2027 zu erreichen, also acht Jahre früher als ursprünglich geplant.

Um trotz fehlender Beitragsjahre eine abschlagsfreie Rente beziehen zu können, muss man das Alter von 67 erreichen, ab dem keine Strafbeträge (diese betragen in Frankreich fünf Prozent der Rente pro fehlendem Beitragsjahr) mehr erhoben werden. In Deutschland soll das entsprechende Alter bis zum Jahr 2031 von zuvor 65 auf 67 angehoben werden.

In jüngerer Vergangenheit und für die derzeit in Rente befindlichen Regeln sorgten die Alters- und Beitragsregelungen überwiegend dafür, dass diese ohne allzu starke Strafbeträge zu einem mehr oder minder gewählten Zeitpunkt aus dem Arbeitsleben ausscheiden konnten. Doch mit fortschreitender Anhebung der Bezugszahlen bei Mindestalter und Beitragsdauer wird sich diese generelle Situation verschlechtern, und eine Verarmungstendenz droht auch hier zu greifen.

Allem Widerstand zum Trotz

Am 15. April 2023 erschien das durch Emmanuel Macron angekündigte und trotz seit drei Monaten anhaltender Massenproteste durchgesetzte Gesetz zur nächsten Reform der Rentensysteme – nach jener von 1993, nach der durch massive Streiks verhinderten vom Herbst 1995, nach denen von 2003, 2010 und 2014 – im Journal Officiel, also im französischen Amtsblatt oder Gesetzesanzeiger.

Wesentlicher Inhalt ist, kurz gefasst, eine Anhebung der Mindestaltersgrenze von derzeit 62 auf 64 Jahre ab Anfang 2030, wobei das Alter, ab dem Abzüge wegen fehlender Beitragsjahre entfallen, bei 67 festgelegt bleibt. Wie erwähnt, wird die Anhebung der Anzahl abgeforderter Beitragsjahre beschleunigt und die Erreichung der 43 Beitragsjahre auf 2027 vorgezogen.

Dagegen zeigten sich die französischen Gewerkschaften, die in Richtungsverbände aufgespalten sind – aufgrund politisch-ideologischer Differenzen, wobei im Laufe der jüngeren Geschichte die Bindungskraft gesamtgesellschaftlicher Ideologien auch innerhalb der Gewerkschaften erheblich abgenommen hat – ausnahmsweise einmal alle einig: von der Union syndicale solidaires, dem Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften, und der CGT, dem historisch ältesten Dachverband, auf der Linken bis zur rechtssozialdemokratisch geführten CFDT.

Einer der Hauptgründe für diese Einigkeit liegt in der Positionierung der CFDT, die neben der CGT einen der beiden stärksten Dachverbände im Land bildet. Dabei hatte sich die Führung der CFDT in den letzten 25 bis 30 Jahren zu einer wichtigen Stütze bei der, sozial leicht abgefederten, Umsetzung zentraler Projekte der kapitalistischen Eliten entwickelt und auch die unter konservativen Regierungen durchgeführten Rentenreformen von 1995 – die jedoch an, von anderen Gewerkschaften unterstützten Streiks scheiterte – und 2003 befürwortet.

Doch im Juni 2022 zwang ein Gewerkschaftstag die Führung des Dachverbands, damals unter Generalsekretär Laurent Berger – er wurde vorigen Monat, am 21. Juni durch Maryse Léon abgelöst – ein Stück weit auf Linie: 67 Prozent der Delegierten stimmten gegen einen windelweichen Antragsentwurf des Vorstands, welcher ihm die Zustimmung zu allen möglichen Rentenreformen ermöglicht hätte, und stattdessen für einen in einem Punkt härteren Entschließungsantrag.

Die Beschlusslage ermöglichte eine gewerkschaftliche Einheit gegen Macrons Rentenreform. Diese hatte jedoch ihren Preis, nämlich hinsichtlich der gewählten Kampftaktik, da das Gewicht der CFDT die gemeinsame, untereinander abgestimmte Position der französischen Gewerkschaften tendenziell nach rechts zog. In Rücksicht auf die CFDT einigte sich die intersyndicale – der Zusammenschluss aller acht wichtigen Gewerkschaftsverbände zur Koordinierung des Kampfes gegen die Rentenreform – auf eine Strategie, die im Wesentlichen auf Straßendemonstrationen beruhte, jedoch nur in geringem Ausmaß auch auf Streiks, „um es sich nicht mit der Gunst der öffentlichen Meinung zu verscherzen“.

Mangels massiver Streikfolgen konnte letztendlich nichts verhindert werden. Die gewerkschaftliche Einheit war also Vorteil und, aufgrund der eingeschlagenen Strategie, Nachteil zugleich.

Bernard (Bernhard) Schmid, geboren 1971 in Süddeutschland, seit Anfang der neunziger Jahre in Paris ansässig. Dr.iur., arbeitet als Rechtsanwalt und unterrichtet Arbeitsrecht. Nebenberuflich freier Journalist und Publizist.