Ist Wachstum zukunftsfähig – wie viel ist genug?

Marxismus war ursprünglich nicht zuletzt Wachstumskritik

Referat im Rahmen der Ringvorlesung: „Ist Wachstum zukunftsfähig? Wie viel ist genug“, organisiert vom Arbeitskreis „Plurale Ökonomik Hamburg“. An der Hamburger Universität gehalten am Donnerstag, dem 17. November 2022.[1]

Zwei Vorbemerkungen:

  • Ich habe denjenigen, die diese Ringvorlesung organisieren, im Vorfeld  gesagt, dass ich auf dem von ihnen gewählten Themenbereich – „Ist Wachstum zukunftsfähig“, also den Theorien zu „degrowth“ oder zu einem „Postwachstum“ – die aktuelle wissenschaftliche Literatur nicht oder nur unzureichend kenne. Und aktuell, wegen anderer Engagements, so bei den Themen Krieg/Frieden und Verkehr/Bahn auch keine Zeit finden werde, mich hier ausreichend einzuarbeiten. Das wollten diejenigen, die für die heutige Vorlesung die logistische Verantwortung tragen, nicht als Entschuldigung akzeptieren. Also sage ich: selbst schuld!
  • Der ursprünglich gewählte Titel für diesen Teil der Ringvorlesung ist verkürzt – wurde von mir verkürzt Euch nach Hamburg überstellt. Zu behaupten, „Marxismus war schon immer Wachstumskritik“ klingt zum einen arrogant; rechthaberisch. Zum anderen ignoriert es die Fülle von marxistischer ökonomischer Literatur, in der Wachstumskritik keine Rolle spielt. Das gilt teilweise auch für mich, der ich eine Reihe Bücher zum Thema Krise, Weltwirtschaft und Globalisierung schrieb, in denen Wachstumskritik keine größere Rolle spielt. Ergänzt werden muss hier jedoch: Auf einem Gebiet trage ich seit mehr als dreißig Jahren eine inhaltlich abgesicherte marxistische Wachstumskritik „vor. Und das ist das Gebiet der Mobilität oder die Kritik der Autogesellschaft. Was unter anderem zu meinen Engagement für eine Bürgerbahn und eine Flächenbahn beitrug beziehungsweise zur Kritik an den zerstörerischen Bahnprojekten, wie wir es im Fall des Monsterprojekts Stuttgart 21 erleben, wie wir es hier in Hamburg mit der geplanten Auflösung des Bahnhofs Hamburg-Altona als Fernbahnhof und dessen Verlegung an den Rand dieses Stadtteils, nach Diebsteich vor uns haben. Insofern freue ich mich, dass heute Abend Vertreter der bewundernswert engagierten Initiative „Prellbock Altona“ anwesend sind.

Der bessere Titel dieser heutigen Lesung lautet demnach: „Marxismus war ursprünglich nicht zuletzt Wachstumskritik“.

Quod erat demonstrandum – Was in meinem Referat zu beweisen wäre. Was ich jedoch als Bonbon für den Schluss beiseitelege.

  1. Einleitung – Literatur

Es ist auffallend, dass vor einigen Jahrzehnten große bürgerliche Ökonomen davon ausgingen, dass der Kapitalismus endlich sein würde. Und dass sie diese Einsicht durchaus damit in Verbindung brachten, dass die dem Kapital innewohnende Logik – unter anderem die Logik des Wachstumszwangs, der in Überakkumulation und in großen Krisen mündet – dieses Ende nahelegen würde. So schrieb Josef A.  Schumpeter:

„Es kann durchaus eine Situation eintreten, in der den meisten Menschen eine umfassende Planung als das kleinste aller möglichen Übel erscheinen wird. Sie werden dafür sicherlich nicht die Bezeichnung Sozialismus oder Kommunismus gebrauchen, und sie werden vermutlich einige Ausnahmen für den Farmer, den Einzelhändler und den kleinen Produzenten machen. Unter diesen Umständen kann es dazu kommen, dass der Kapitalismus als eine Wertordnung, ein Lebensstil und eine Kulturform keinen Einsatz mehr verlohnt. […] Marx irrte in seiner Diagnose der Art und Weise, in welcher die kapitalistische Gesellschaft zusammenbrechen würde; er irrte nicht in der Vorhersage, dass sie schließlich zusammenbrechen werde.“[2]

Natürlich spielten bei dieser Aussage des großen Theoretikers des privaten Unternehmergeistes und der „schöpferischen Zerstörung“ durch Unternehmertätigkeit, die er im Kapitalismus als durchaus kreativ-wirkend einschätzte[3], die Weltwirtschaftskrise 1929-1933 und der Zweite Weltkrieg eine wichtige Rolle. Wobei Schumpeter Vergleichbares auch bereits vor dem Krieg kundtat.[4] Letzten Endes war es aber die weitreichende wissenschaftliche Durchdringung der Kapitalverhältnisse, dokumentiert in den zwei Bänden „Konjunkturzyklen“, die diesen großen Bürgerlichen zu diesen Erkenntnissen brachte.

Dabei war die Einsicht in die Endlichkeit des Kapitals nicht auf Schumpeter beschränkt. Der größte deutsche Nationalökonom des vorletzten und frühen letzten Jahrhunderts, Werner Sombart, berichtete über ein Gespräch, das er mit dem Soziologen und Ökonom Max Weber führte wie folgt:

„Als ich einmal mit Max Weber über die Zukunftsaussichten sprach und wir die Frage aufwarfen: wann wohl der Hexensabbat ein Ende nehmen würde, den die Menschheit in den kapitalistischen Ländern seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aufführt, antwortete er: ´Wenn die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne Kohle verhüttet sein wird.´“[5] 

Das Interessante an diesem letzten Zitat – genauer: am Zitat im Zitat – ist der Umstand, dass Weber hier das Ende des Hexensabbat-Kapitalismus in einen direkten Zusammenhang mit dem Ressourcenverbrauch brachte.

Womit er, wenn das nicht nur so dahingesagt war, ein früher Kapitalismuskritiker auf Basis der Einsicht in dessen Tendenz zur Zerstörung der natürlichen Grundlagen war.

Heute ist eine solche Kapitalismuskritik im bürgerlichen Lager so gut wie nicht mehr vertreten. Der Kapitalismus wird als gegeben, als „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), als einzig mögliches Wirtschaftsmodell vorgestellt. Dies ist eigentlich verblüffend, weil das Zerstörerische dieses Wirtschaftsmodells noch nie so deutlich hervortrat wie in unserer Zeit.

Auch im linken – und marxistischen – Lager gibt es erst seit jüngerer Zeit eine verbreitete Kapitalismuskritik, die die Zerstörung von Umwelt, der menschlichen und natürlichen Lebensgrundlagen und die Klimaerwärmung in das Zentrum stellt. Und damit zugleich einen Rückgriff auf die erwähnte ursprüngliche marxistische Wachstumskritik vornimmt.

Mein persönlicher Mentor, Freund und in vieler Beziehung auch Vorbild als Mensch und Wissenschaftler, der belgisch-jüdische Ökonom Ernst Mandel, greift in seinen beiden Standardwerken „Marxistische Wirtschaftstheorie“ und „Der Spätkapitalismus“ das Thema Wachstumskritik nicht auf.[6] Vergleichbares gilt für das breite Spektrum der Vertreterinnen und Vertreter der Theorie eines „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ – Stamokap –, die in den späten 1960er bis in die frühen 1980er Jahre hinein einen größeren Teil der linken und der marxistischen Wirtschaftstheorie prägten. Erst recht gilt dies für den orthodoxen Marxismus, wie er in der Sowjetunion ab den 1930er Jahren und in der DDR ab den 1950er Jahren vertreten wurde. Der Begriff „Tonnenideologie“, der in diesem Zusammenhang oft erwähnt wird, ist bezeichnend: Wohlstand und Fortschritt wurde in erster Linie quantitativ, in Wachstum von Produktion und Konsum, gemessen.

Eine bewundernswerte Ausnahme macht Rosa Luxemburg, die hierzulande meist „nur“ als Revolutionärin und Märtyrerin der Novemberrevolution gesehen wird. Die Frau war vor allem auch eine großartige Ökonomin und ihr Satz „Sozialismus oder Barbarei“ resultiert aus einer Kritik an der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, darunter einer Wachstumskritik und einer Analyse des Militarismus, den sie als Resultat des Akkumulationstriebs erkennt. Darauf wird zurückzukommen sein.

1997 machte das Buch von Viviane Forrester „Der Terror der Ökonomie“ weltweit Furore.[7] Diese Schrift beschreibt in aufrüttelnder Weise Ergebnisse der kapitalistischen Produktionsweise wie Armut, Ausbeutung, Abbau von Sozialstaat usw. Doch auch hier findet sich kein Wort zur Kritik des Wachstumszwangs – und auch keine Analyse der inneren Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft, die diese empörenden Zustände hervorrufen.

Ich gehe mal davon aus, dass ihr in dieser Ringvorlesung systematischer dazu geforscht habt, bei welchem Autor oder bei welcher Autorin es eine fundierte, marxistisch oder zumindest „allgemein links“ begründete Wachstumskritik gab. In meinem sicher diesbezüglich willkürlich bestückten Bücherregal stieß ich gestern, völlig überraschend, auf eine Schrift, bei der ich Vergleichbares nicht erwartet hätte.

Christian von Ditfurth veröffentlichte 1995 ein Buch mit dem programmatischen Titel „Wachstumswahn“.[8] In diesem Buch schreibt er unter der Kapitelüberschrift „Ein zerstörerisches Prinzip“:

„Die Erde ist ein geschlossenes System, sieht man einmal von der Sonneneinstrahlung ab. Gemäß dem ersten Gesetz der Thermodynamik gehen im Produktionsprozess, in dem Materie und Energie umgewandelt werden, Materie und Energie nicht verloren. Das zweite Gesetz der Thermodynamik erklärt jedoch, dass bei dieser Umwandlung der Anteil nicht mehr nutzbarer Energie und Materie fortlaufend zunimmt, oder auf fachchinesisch, die Entropie  wächst, und im gleichen Maß schrumpft der Vorrat an niedriger Entropie. Entropie nennen die Physiker das Maß der nicht verfügbaren Energie in einem geschlossenen System. Der Bau eines Autos oder einer Waschmaschine verringert demnach die Möglichkeit künftiger Bedürfnisbefriedigung.. Wird die Produktion ausgeweitet, wächst die Entropie also, gerät die Natur über kurz oder lang an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Entropie steht demnach nicht einfach für Abfallproduktion, sondern sie ist in den Worten des Schweizer Publizisten Jean Robert der ´zwangsläufige Ausdruck eines zerstörerischen Prinzips, von dem die Produktion lebt und das zugleich ihr Ende bedeutet.´ Naturwissenschaftlich betrachtet ist Produktion nichts anderes als Steigerung der Entropie und damit Raubbau an der Natur.“[9]

Ich wiederhole: Gut möglich, dass das ein Zufallsfund ist – und dass ihr frühere, bessere Belege für fundierte, linke Wachstumskritik parat habt. Ich jedenfalls finde diese vor einem Vierteljahrhundert formulierte linke Wachstumskritik erstaunlich präzise. Wobei mich mit dem Mann etwas verbindet: Christian war 1986 und 1992 im Verlag Rasch und Röhring Lektor – und er korrigierte und lektorierte mein dort 1986 und 1992 erschienenes Buch „Eisenbahn und Autowahn“ streng und daher auch gut.[10]

  1. Wachstumszwang und Wachstumsfetischismus

In den meisten jüngeren – auch von linker Seite verfassten – Beschreibungen der Wachstumskritik verbleibt diese an der Oberfläche. Oder sie wird einer spezifischen Form des Kapitalismus, so dem „Turbokapitalismus“ oder dem „Finanzkapitalismus“ zugeschrieben.

So finden sich in dem Buch von Naomi Klein „Die Entscheidung Kapitalismus versus Klima“ Hunderte überzeugende Fakten zur Zerstörungskraft, die im Kapitalismus gegenüber Mensch, Umwelt und Natur zur Anwendung kommt. Letzten Endes sieht die Autorin jedoch eine spezifische Ausformung des Kapitalismus, wenn nicht eine Deformierung der Marktwirtschaft, als ursächlich. Sie bezeichnet den „Marktfundamentalismus“ als Ursache dafür, „dass der Planet aufgeheizt wird.“[11] Auch in der populären Globalisierungskritik, wie sie beispielsweise von Harald Schumann und Christiane Grefe überzeugend vorgetragen wird, sind Wachstumszwang bzw. Kritik der immanenten Wachstumsdynamik kein Thema. Auch hier wird die im Detail hervorragende Kritik an den Übeln der Globalisierung als Resultat  eines ungezügelten, vor allem von den USA geprägten und „Finanzmarkt getriebenen“ Kapitalismus gesehen, dem dann die Vision eines „vereinten Europas“ entgegengesetzt wird, dem „immer mehr die Aufgabe (zuwächst), die globale Kooperation gegen die heraufziehenden Weltkrisen voranzutreiben.“[12]

Tatsächlich muss man tiefer – radikal – graben, also an die Wurzeln gehen. Karl Marx sah diesen zerstörerischen Wachstumszwang als Grundtendenz im Kapital selbst verankert. Er schrieb in den „Grundrissen“:

„Eine Bedingung der auf dem Kapital basierten Produktion ist […] die Produktion eines stets erweiterten Zirkels der Zirkulation. […] Die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke. Zunächst jedes Moment der Produktion selbst dem Austausch zu unterwerfen und das Produzieren von unmittelbaren, nicht in den Austausch eingehenden Gebrauchswerten aufzuheben, das heißt eben auf dem Kapital basierte Produktion an die Stelle früherer, von seinem Standpunkt aus naturwüchsiger Produktionsweisen zu setzen.“[13]

Dieser Wachstumszwang, der dem Kapital inhärent ist, findet bei meiner, vielleicht eigenwilligen Zählweise auf fünf Ebenen statt.

Da gibt es zunächst – als erstes – den Wachstumszwang, wie er dem einzelnen Kapital – einem kleinen oder größeren Unternehmen – inne wohnt. Wächst das Unternehmen nicht, stagniert es oder sind seine Produktion oder der Umfang seiner Dienstleistungen gar rückläufig, so wird es untergehen. Es muss Pleite, Konkurs, anmelden. Teilweise wird aus dieser In-Konkurs-Gehen-Tendenz dann noch ein eigenes Geschäft gemacht. So wenn in den USA und zunehmend auch in Westeuropa sich der entsprechende Pleite-Betrieb unter einen Schutz-Paragrafen flüchten, seine vertraglich eingegangenen Bedingungen, beispielsweise den Gewerkschaften und der Belegschaft gegenüber, sprengen – also beispielsweise Löhne und Gehälter „vertragswidrig“ senken kann – um dann auf dieser Basis einen neuen Versuch mit neu eingegangenem Wachstumszwang zu unternehmen.

Zweitens gibt es einen Wachstumszwang in geographischer Hinsicht. Im Kapitalismus versuchen die Unternehmen einen möglichst großen Markt zu beherrschen, sei es als einzelne Kapitalien und Konzerne, sei es in Gruppen und Kartellen. Ist der Binnenmarkt allzu klein oder bereits von anderen Kapitaleinheiten erobert, so schreitet das geographische Wachstum über die nationalen Schranken hinweg, wird zum regionalen, kontinentalen Wachstumszwang –  was seinen vorläufigen Endpunkt in Kolonien und im Weltmarkt findet. Seit drei Jahrzehnten ist dann von Globalisierung die Rede.

Eine dritte Ebene des Wachstumszwangs sehe ich darin, dass das private Kapital in Sektoren eindringt, die bis dahin zum allgemein-öffentlichen Bereich zählten: Sektoren wie Gesundheit, Altersversorgung, Renten, Ausbildung, Universitäten, Kultur, Gefängnisse usw. werden der Kontrolle des Kapitals unterworfen. Dieser Prozess wird dann mit der Zielsetzung „schlanker Staat“ idealisiert.

Eine vierte Ebene ist die „Inwertsetzung von Natur“: Güter, die bis dahin als natürliche, als frei verfügbare, galten, werden unter privatkapitalistische Kontrolle gebracht: Wasser ist nicht mehr gratis, sondern wird verknappt und teuer. Strände sind nicht mehr frei zugänglich, sondern werden zum Teil der „Freizeitindustrie“ oder eines kapitalistischen Tourismus-Sektor. Auch gute Luft kostet – indem zunächst die Luft in städtischen Ballungsgebieten vergiftet wird und dann die Bodenpreise im Umland, wo die Luftqualität eine deutlich bessere ist, entsprechend ansteigen und das Dort-Wohnen – sei es im Eigenheim, sei es zur Miete – entsprechend höher verzinst wird. Hierzu zählen auch die bäuerlichen Kleinwirtschaften, die für den Eigenbedarf arbeiteten. Eine besonders abstoßende Form dieser Inwertsetzung von Natur ist der seit rund 15 Jahren existierende kapitalistische Geschäftszweig der Leihmutterschaft: Inzwischen „arbeiten“ weltweit geschätzt mehr als 100.000 Frauen, bevorzugt in Regionen des globalen Südens oder in anderen Niedriglohnländern in der Form, dass sie ihren Körper als Leihmutter für jeweils neun Monate zur Verfügung stellen (und dabei je erfolgreiche Schwangerschaft mit wenigen Tausend US-Dollar in Indien bzw. mit bis zu 25.000 US-Dollar in der Ukraine entlohnt werden). Same und Ei kommen in der Regel von einem Mann und einer Frau mit höheren Einkommen, überwiegend sind die Menschen aus Nordamerika, China und Westeuropa. Der Staat, in dem die Leihmutter lebt, gewährleistet, dass in der Geburtsurkunde der Name der Frau, die das Kind austrug, nicht auftaucht und nur die Eisspenderin aufgeführt ist.

Eine große Rolle bei dieser Form des Wachstumszwangs, der Inwertsetzung von Natur, spielen die hunderte Millionen bäuerliche Subsistenzwirtschaften – das, was im obigen Marz-Zitat als „naturwüchsige Produktionsweise“ bezeichnet wurde. Diese werden insbesondere im Rahmen der Globalisierung – beispielsweise durch Landgrabbing oder durch die „Mikrokredit-Wirtschaft“ – unter kapitalistische Kontrolle gebracht. Sie werden damit ebenfalls „inwertgesetzt“, dem kapitalistischen Wertgesetz und der Verwertung von Kaptal unterworfen. Dabei spielt in jüngerer Zeit die Gentechnik eine entscheidende Rolle. Die „gentechnisch veränderte Pflanze ist für die Kosmokraten eine Quelle astronomischer Gewinne“, schreibt Jean Ziegler, wobei für ihn Kosmokraten die Vertreter der global agierenden Konzerne sind: „Die Entdeckung und Verbreitung gentechnisch veränderter Organismen ist dann die Verwirklichung eines alten Traums der Kapitalisten: des Traums, die unlautere Konkurrenz des Lebendigen zu eliminieren. Die Natur, das Leben produziert und reproduziert kostenlos Pflanzen, Menschen, Nahrung, Luft, Wasser und Licht. Für den Kapitalisten ist dies ein unerträglicher Sachverhalt. Für ihn kann es keine öffentlichen Güter im strengen Sinn des Wortes geben. Die Kostenlosigkeit ist ihm ein Gräuel.“[14]

Fünftens gibt es den Zwang zum direkt zerstörerischen Wachstum, zum Wachstum von Rüstungsproduktion, zur verstärkten Kriegstreiberei und zum Kampf um die Hegemonie auf dem Weltmarkt. Die Anlage von Kapital im Rüstungssektor ist zunächst eines von vielen Feldern der Kapitalanlage. Die Bedeutung dieses Sektors und seine Entwicklung zu einem „militärisch-industriellen Komplex wächst allerdings im Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus zu Imperialismus und zur kapitalistischer Globalisierung. Der Rüstungsbranche kommt heute einerseits in Zeiten erschwerter Möglichkeiten einer gewinnbringenden Kapitalanlage in den produktiven Bereichen eine Ventilfunktion zu; ähnlich der Spekulation dient dieser Sektor auch dazu, die ständig wiederkehrende Überakkumulation teilweise aufzufangen. Gleichzeitig dient die Hochrüstung dazu, die Fortsetzung der Weltmarktkonkurrenz mit anderen Mitteln zu untersetzen: Wirtschaftskonkurrenz wird zum Krieg. Dazu schrieb Rosa Luxemburg: „Die geschichtlichen Notwendigkeiten der verschärften Weltkonkurrenz des Kapitals und seine Akkumulationsbedingungen verwandeln sich so für das Kapital selbst in ein erstklassiges Akkumulationsfeld.[…] Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim […] die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, umso mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden.“[15]   

Auf das Thema Hegemonie, Rüstung und Krieg wird in einem kleinen Rekurs zum Ukraine-Krieg zurückzukommen sein.

Diese fünf Ebenen des Wachstumszwang sind aber alle, das sei nochmals betont, letzten Endes aus dem Kapital selbst abgeleitet – sind Resultat der Tatsache, dass im Kapitalismus ausschließlich der Wert, der Tauschwert und der Profit zählen, und dass die Gebrauchswerte, das, was die Produktion für die Menschen und ihre Lebensqualität bedeuten, sekundär sind.

Das brachte kein Geringerer als die Nazi-Größe Hermann Göring auf den Punkt. Dieser veranstaltete am 8. Juli 1938 eine Veranstaltung mit Autobossen, in denen er diesen den kommenden Krieg erklärte und sie aufforderte, umgehend die gesamte Produktion auf Rüstung – unter anderem Flugzeugbau – umzustellen. Er fügte dann hinzu:

„Was meine Herren, bedeutet das alles, wenn sie dann eines Tages anstelle von Flugzeugen Nachttöpfe machen. Das ist doch einerlei.“[16]

Das war etwas platt formuliert und damit leicht nachzuvollziehen für die dort im Geheimen versammelten Herren von Daimler, BMW, MAN und andere. Jedenfalls waren sie danach in der Lage, binnen weniger Monate die Produktion zu mehr als 90 Prozent auf Rüstung umzustellen – in diese Richtung wird die Möglichkeit der „Konversion“ auch seitens der Kapitaleigner immer wieder dokumentiert. Schließlich, so Rosa Luxemburg, ist es „für den Einzelkapitalisten völlig gleichgültig, ob er Lebensmittel oder Todesmittel, Fleischkonserven oder Panzerplatten produziert.“[17]

Der Wachstumsfetischismus und die ausschließliche Betrachtung der Wirtschaft und der Gesellschaft unter dem Aspekt der Verwertung führen zu einer inhumanen Sicht auf Mensch und Natur. Elmar Altvater beschrieb dies wie folgt:

„Die Entbettung der Ökonomie aus der Gesellschaft […] und deren theoretischer Reflex einer mathematisierten und formalisierten leblosen Ökonomie ohne gesellschaftstheoretische Fundierung haben zur Folge, dass die reale kapitalistische Ökonomie als eine gesellschaftliche Veranstaltung nicht mehr begriffen werden kann.“[18]

Wie absurd und direkt zerstörerisch dieser Wachstumszwang ist, wird bereits mit der Definition von Wachstum deutlich. In der Öffentlichkeit ist der Begriff „Wachstum“ ja ausschließlich positiv besetzt. Die Tatsache, dass Wachstum von Abfall, Wachstum der Zahl der im Straßenverkehr Schwerverletzten oder das Wachstum von Krankheiten ein wichtiger Bestandteil des statistischen Wachstumsbegriffs ist, wird dabei ausgeblendet. Doch eben diese Werte gehen in den statistischen Begriff des Bruttosozialprodukts oder des Bruttoinlandsprodukts ein.

Ein banales und praktisches Beispiel ist die Verpackungswirtschaft. Als ich ein Kindergartenkind und dann ein Schuljunge war, musste ich mehrmals in der Woche mit einer aluminium-blechernen Milchkanne zur „Milchfrau“ zum Milch-Einkaufen gehen. Dort gab es einen großen Milchtank, von dem aus Milch in „unsere“ einigermaßen zerbeulte Milchkanne gepumpt wurde. Als ich in Freiburg und später in Westberlin studierte, wurde die Milch überwiegend in gläsernen Milchflachen gekauft; auf diesen lag ein ausreichend hohes Pfand, sodass diese Flaschen zu mehr als 95 Prozent zurückgebracht und mindestens ein dutzend Mal in der Molkerei neu befüllt wurden. Inzwischen gibt es Milch fast nur noch in Tetrapacktüten oder anderen Einwegbehältnissen. Vergleichbares gilt für Bier und Mineralwasser. Besonders fatal sind dabei Aluminium-Dosen, in denen man beispielsweise Red Bull kaufen und sogar trinken kann. Danach gilt: ex und hopp. Eine ganze Reihe von Ländern, so Italien, kennen überhaupt keine Pfandflaschen mehr – alle Getränke werden in Einweggebinden, die fast immer aus Plastik bestehen, vertrieben.

Allein dieser Prozess der Umwandlung von wiederverwertbaren Behältnissen in Einmalverpackungen  hat der kapitalistischen Wirtschaft ein enormes Wachstum und die Schaffung einer gewaltigen neuen Branche, der Verpackungsindustrie, beschert. Dem damaligen grünen Politiker Jürgen Trittin ist dieser junge Industriezweig beispielsweise zu tiefem Dank verpflichtet, das er als Umweltminister in den Nuller Jahren das Ja-Wort für die Pet-Flasche erteilte. Damit wurde die Pfandflasche definitiv ins Abseits gedrängt.

Dass diese Art des Wachstums von Verpackungen die Menschen bereichert und deren Lebensqualität erhöht hätte, ist nicht zu erkennen. Und ganz ohne Zweifel trägt sie dazu bei, die Umwelt zu belasten, den fossilen Komplex zu stärken – ein großer Teil der Verpackungsindustrie ist Teil des Öl-Gas-Komplexes – und die Klimaerhitzung zu beschleunigen.

  1. Greenwashing

Nun hat sich die Kritik an dieser Form des Wachstumszwangs ja herumgesprochen. Mit dem Entstehen einer ökologischen Bewegung und mit dem Aufstieg der Grünen als Partei wurde die Kritik an diesem spezifischen Wachstum modisch.

Doch das Kapital wäre nicht das Kapital, würde nicht versucht werden, dieser Kritik den Stachel zu nehmen und Antworten zu präsentieren, die selbst wiederum zum neuen Geschäftszweig mit Wachstumszwang würden. Möglich wird dies, indem als Wachstumszwang etwas Äußerliches definiert und nicht davon ausgegangen wird, dass dieser Zwang dem Kapital selbst innewohnt.

Dazu zwei Beispiele.

Wenn in diesen Tagen die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar eröffnet wird, dann gibt es zwar die berechtigte Kritik an dem Tod Tausender nepalesischer und pakistanischer Vertragsarbeiter, die die Stadien geschaffen haben. Und es gibt die Kritik an den „viel zu hohen Kosten“ dieser WM; 200 Milliarden Euro oder das Zehnfache einer „normalen“ Fußballweltmeisterschaft.  Und – natürlich und absolut berechtigt – gibt es die Kritik an der Frauenfeindlichkeit und dem Schwulenhass, von denen das katarische Gesellschaftssystem charakterisiert ist.

Gleichzeitig gelingt es den Herrschern in Katar in diesen Tagen jedoch, ihre Vision von „Green Cities“ zu präsentieren: von einem Städtebau, der energetisch und klimapolitisch akzeptabel, wenn nicht vorbildlich sei. Wobei dieses Modell der „Green City“ auch in vielen anderen Schwellenländern umgesetzt wird – beispielsweise mit der neuen Verwaltungshauptstadt in Ägypten. Tatsächlich sind diese neuen „grünen Mega-Städte“ bereits im reinen „Betrieb“ extrem klimabelastend. Wird dabei dann noch der Bau mit den gigantischen Massen an Beton und Stahlverbrauch berücksichtigt und wird der Lebenszeit von diesen Bauten – die bei maximal 40 Jahren liegt – Rechnung getragen, werden also diese Kosten inkorporiert in die volkswirtschaftliche Rechnung und in das Klima-Budget, so handelt es sich hier um extrem klimabelastende Monster-Städte. Wofür die Kataris allerdings nicht allein verantwortlich sind: Es sind in erster Linie westliche Konzerne wie Hochtief, Vinci oder Deutsche Bahn, die sich an diesen Projekten tausende goldene Nasen verdient haben.

Ein zweites Beispiel ist das Elektroauto. Offiziell hat sich diese Form des Greenwashings der Weltautobranche durchgesetzt: Man tauscht in der Theorie den Antriebsstrang, der mit fossiler Energie – mit Benzin oder Diesel oder Gas – gefüttert werden muss – aus. Und fährt zukünftig mit Batterie-Pkw und mit „grünem Strom“.

Diese Art des Greenwashings finde ich, der ich seit spätestens 1985 eine umfassende Kritik an der Autogesellschaft vortrage, dreifach pervers. Zunächst einmal ist für jeden ersichtlich, dass frühestens 2030 und allein möglicherweise in Westeuropa, Nordamerika und China keine Pkw mit Verbrennermotoren mehr neu zugelassen werden. Da die Lebensdauer eines Pkw bei mindestens 12 Jahren liegt, heißt das, dass selbst in diesen drei Regionen noch Mitte der 2040er Jahren hunderte Millionen Verbrenner-Pkw herumkurven. In dem größeren Rest der Welt wird dies noch bis in die 2060er Jahre hinein der Fall sein. Aktuell gibt es eine Welt-Pkw-Flotte von 1,2 Milliarden Einheiten, die zu 96 Prozent aus Verbrenner-Pkw besteht. Selbst in diesem Jahr 2022 liegt in Deutschland der Anteil von Batterie-Autos bei den Zulassungen bei weniger als 5 Prozent.[19] Ich habe mehrfach vorgerechnet, dass wir beim absehbaren Trend der Weltmotorisierung 2030 eine Pkw-Weltflotte von mindestens 1,7 Milliarden Einheiten haben werden, von denen dann rund 1,4 Milliarden Verbrenner-Pkw und zusätzlich obendrauf 300 Millionen Elektro-Pkw sein werden. Das heißt: Selbst die Verbrenner-Pkw-Flotte ist 2030 deutlich größer als heute.[20]

Zweitens ist diese Art Elektromobilität pervers, weil die konkrete Modellpolitik bei den E-Pkw eine Verlängerung der Pkw-Modell-Entwicklung seit den letzten 75 Jahren darstellt: die Autos werden immer größer und schwerer. Der VW-Käfer aus den 1950er und frühen 1960er Jahren hatte ein Gewicht von 700 – 750 Kilogramm. Der Golf der ersten Generation erreichte eine Tonne. Der jüngste Golf VIII bringt bereits 1,4 Tonnen auf die Waage. Und ein moderner E-Pkw von Audi, Porsche, Daimler oder Tesla hat in der Regel ein Gewicht nicht unter zwei Tonnen.

Drittens werden bei einem E-Pkw im Vergleich zu einem Verbrenner-Auto vor allem die Abhängigkeit von der knappen  Ressource Öl ausgetauscht gegen die Abhängigkeit von anderen knappen Rohstoffen – so von Kupfer, Lithium, Kobalt, seltenen Erden. Eine ehrliche Berücksichtigung der klimaschädigenden Emissionen, die mit der Förderung dieser Ressourcen und vor allem mit dem Bau der Batterie dieser Pkw verbunden sind, ergibt: Das durchschnittliche Elektroauto wird bis zum Jahr 2050 in der Summe mindestens so viele klimaschädliche Emissionen haben wie ein Verbrenner Pkw. Und das, was es irgendwann an Einsparung je E-Pkw im Abgleich mit einem Verbrenner-Pkw geben könnte – dann wenn tatsächlich jeder Strom als weitgehend „grün“ bezeichnet werden kann, wird dann wettgemacht durch die Quantität: durch die nochmals größere Summe aller Pkw weltweit.

  1. Aktuelle Situation

Wir erleben derzeit eine Vielfachkrise, die auf allen Ebenen überwiegend vom beschriebenen Wachstumswahn „produziert“ wird. In der Geschichte der Menschheit gab es noch nie das Zusammentreffen so vieler Krisen und noch nie eine solche Dimension des zerstörerischen Potentials des Wachstumszwangs.

Macht- und Reichtumsproduktion. Es gibt heute eine noch nie in der Menschheitsgeschichte dagewesene Zusammenballung von individuellem Reichtum, der zugleich mit Kapitalmacht kombiniert ist. Die NGO Oxfam schreibt:

„Während der Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Vermögen auf insgesamt 1,5 Billionen Dollar verdoppeln. Gleichzeitig leben 163 Millionen Menschen wegen der Pandemie in Armut. […] Auch in Deutschland hat die Corona-Pandemie die Ungleichheit verschärft: Das Vermögen der 10 reichsten Personen ist seit Beginn der Pandemie von rund 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar gewachsen. Allein dieser Gewinn entspricht annähernd dem Gesamtvermögen der ärmsten 40 Prozent, also von 33 Millionen Deutschen. Währenddessen erreicht die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent einen Höchststand.“[21]

Diese Reichen der Reichen, es sind zu 98 Prozent Männer, gebieten über Unternehmen, von denen Millionen Existenzen abhängig sind. Sie dirigieren einen Wachstumszwang, der mit enormen Zerstörungen (Jeff Bezos mit Amazon) und mit dem beschriebenen Greenwashing (Elon Musk mit Tesla) verbunden ist.

Energiewende als Rolle rückwärts. Noch vor zwei Jahren gab es zumindest auf EU-Ebene den Konsens, dass eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energien allein eine Perspektive weisen würde. Dass diese auch keine rein-grünen Energien sind, sei hier dahin gestellt. Klar war jedoch, dass wir aus den fossilen Energien aussteigen müssten und dass Atomenergie eine mit viel zu vielen Gefahren verbundene Energieproduktion sei, deren Abfallprodukte darüber hinaus unkontrollierbar und für die menschliche Gesundheit fatal sind. Aktuell erleben wir das Gegenteil: Das problematische fossile Naturgas aus Russland wird ersetzt durch das wesentlich mehr das Klima schädigende Flüssiggas und dann noch durch das krass zerstörerische Fracking-Gas. Steinkohle, Braunkohle und Atomstrom erleben einen neuen Boom. Die Gewinne der fossilistischen Konzerne waren noch nie so hoch wie 2022.

Zu sagen: Das sei aber alles ein Resultat des Ukraine-Kriegs, ist falsch. Es handelt sich hier um bewusste politische Entscheidungen für eine solche Rolle rückwärts hin zur Stärkung des fossilistischen  Sektors. Mit dem Verweis auf diesen Krieg soll diese politische und ökonomische Absicht nur verdeckt werden. Beweis: Gas und Öl aus Russland fließen nach Westdeutschland und nach Westeuropa seit Anfang der 1970er Jahre. Seitdem gab es ein gutes Dutzend Kriege und krasse Fälle von Menschenrechtsverletzungen, für die die Sowjetunion oder Russland wesentliche Verantwortung trugen. Ich erinnere an den Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan im Dezember 1979 und an den zehnjährigen Krieg dort, der mehr als einer Million Menschen das Leben kostete. Trotz hunderter Verurteilungen der Moskau zugeschriebenen Verantwortung u.a. für den Afghanistankrieg oder die Tschetschenien-Kriege kam kein deutscher Kanzler und keine deutsche Kanzlerin – nicht Helmut Schmidt, nicht Helmut Kohl, nicht Gerhard Schröder, nicht Angela Merkel, und keine EU-Institution damals – also niemand der Oberen im gesamten Zeitraum 1975 bis 2021 – auf die Idee, man müsse als Vergeltung für diese Taten die energiepolitische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion respektive mit Russland einstellen. Jetzt ist das anders. Das erfolgt jetzt – aus Gründen, die etwas mit Geopolitik, was wiederum ein Teil des Wachstumszwang ist, zu tun haben. Und das heißt jetzt: „wertebasierte Außenpolitik.“

Neue soziale und wirtschaftliche Krise // Teilweise als Folge der steigenden Energiepreise, teilweise im Zusammenhang mit der vom Trab in den Galopp befindlichen Inflation, vor allem aber als Resultat der zyklischen Bewegung des Kapitalismus stehen wir vor einer neuen wirtschaftlichen und sozialen schweren Krise. Diese wird das Jahr 2023 und möglicherweise 2024 bestimmen. Absehbar sind Verluste bei den realen Einkommen, die es in dieser Größenordnung seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gab – sie dürften 2022 und 2023 addiert bei mehr als 10 Prozent liegen. Völlig offen ist, ob diese Krise – als Folge der gewaltigen spekulativen Blasen in den Bereichen Immobilien, Aktienmärkte und Kredite auch in einen Finanzcrash münden wird, wie wir einen solchen ansatzseise2007/2008 erlebt haben. Der Zusammenbruch der Märkte für künstliche Währungen, von Bitcoin & Co., könnte ein Wetterleuchten sein, das den Weg in eine solche ergänzende Finanzkrise aufzeigt.

Drohende Klimakatastrophe // Das Jahr 2022 war gekennzeichnet von Hitzerekorden, Wassernotstand, großen Flächenbränden und Überschwemmungen. Mehr als die Hälfte des Vielvölkerstaats Pakistan stand monatelang unter Wasser. Es gibt – anders als noch vor zwei Jahrzehnten – kaum mehr jemanden im Bereich Politik, der abstreiten würde, dass all dies Indikatoren für eine drohende Klimakatastrophe sind. Und dass die Klimaerhitzung menschengemacht ist. Dennoch gibt es dies beschriebene Energiewende als Rolle rückwärts, womit sich die Klimaerhitzung beschleunigen muss. Die Weltgemeinschaft reagiert auf die sich abzeichnende Katastrophe zunehmend mit Fatalismus.

Rüstungswachstum, Ukraine-Krieg und drohender neuer Krieg um die Welt-Hegemonie // Nach der Implosion der nichtkapitalistischen Gesellschaften im Osten, von DDR, Sowjetunion und übrigen Warschauer-Pakt-Staaten – hieß es, nunmehr gäbe es eine „Friedensdividende“. Die Wachstumskräfte des Kapitalismus könnten voll auf sinnvolle Ziele wie Bekämpfung von Armut und Klimanotstand konzentriert werden. Doch seit gut 15 Jahren wachsen wieder die weltweiten Rüstungsausgaben. Seit fünf Jahren fordern die westlichen Staaten, so die in der Nato zusammengeschlossenen Länder und die EU, die Rüstungsausgaben müssten auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben werden, was in der Regel einen Anstieg um satte 50 Prozent bedeutet. Der aktuelle Krieg in der Ukraine dient dann als Vorwand für eine diesbezügliche „Zeitenwende“ und für eine neue, primär westliche Hochrüstungsphase. 

Hinter diesem Vorgang verbirgt sich der zukünftige, im Ansatz bereits beginnende Krieg um die Welthegemonie. Der dem Kapitalismus innewohnende Wachstumszwang und die innerkapitalistische Konkurrenz führten zum Aufstieg des chinesischen Kapitalismus, der sich aktuell als der dynamischste erweist. Damit wird die seit dem Zweiten Weltkrieg existierende Hegemonie des US-Kapitalismus in Frage gestellt. Dies mündet darin, dass die Eliten in den USA kaum verhüllt, in Pentagon-Papieren offen so argumentierend, beschlossen haben, dem Aufstieg Chinas militärisch  ein Ende zu setzen und sich auf einen entsprechenden Showdown vorzubereiten. Das, was wir aktuell in der Ukraine erleben, ist vor allem auch ein Stellvertreterkrieg  West-Ost, wobei die USA-Regierung Russland an der Seite Chinas sieht. Dass Russland die direkte Verantwortung für diesen Krieg trägt, ist unbestritten. Ich würde sogar nahelegen, dass der Kreml mit der Invasion vom 24. Februar 2022 in eine Falle gelaufen ist – ähnlich wie die Sowjetunion im Dezember 1979 mit dem Einmarsch in Kabul in eine Falle lief.

Jede der fünf hier skizzierten Krisen allein hat zerstörerische Folgen für hunderte Millionen Menschen. Deren Bündelung und vor allem die absehbare Klimakatastrophe rechtfertigen die Aussage: Rosa Luxemburgs Losung „Sozialismus oder Barbarei“ ist so aktuell wie nie zuvor.

  1. Welche Alternativen?

In dem zitierten Buch von Christian von Dithfurth ist das Folgende zu lesen:

„Pierre Trudeau, einst Ministerpräsident Kanadas, hat zu seiner Amtszeit einmal Beratern ein Regierungsprogramm zur Diskussion vorgelegt, das sich an den Empfehlungen des Club of Rome orientierte. Seine Mitarbeiter erklärten mit besten Gründen, dass dies der sicherste Weg sei, abgewählt zu werden und die eigene Partei zu vernichten.“[22]

Ich bin betont skeptisch, dass dies in der Regierungszeit dieses Herrn – er war mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1968 und 1983 kanadischer Premierminister – zutraf. Es könnte sich hier auch um einen typischen Politikertrick handeln, um das ewige Tun solcher Herren, die bloße Verwaltung des Kapitalismus mit seinem Wachstums- und Zerstörungswahn – zu rechtfertigen. Von Ditfurth allerdings hält diese Aussage des Herrn Trudeau für zutreffend und erklärt explizit:

„Wer glaubt, Wahlen gewinnen zu können mit der Forderung, das Überleben der Menschheit zu sichern, hat nichts begriffen. […] Eine Partei, die ihre Politik an globalen Bedürfnissen ausrichtete, würde das Schicksal erleiden, das Trudeaus Berater ihrem Chef prophezeiten für den Fall, dass er Empfehlungen des Club of Rome folgte. […] Die Demokratie ist untauglich, Herausforderungen zu bewältigen, die scheinbar oder tatsächlich außerhalb der Interessen liegen, die sie vermittelt“[23]

Ich teile diese Auffassung nicht. Sie traf auch in den 1970er Jahren nicht zu. Willy Brandt gewann 1969 und 1972 die Bundestagswahl mit primär moralischen und demokratischen Appellen und sprach die direkten Interessen der Menschen kaum an. Lula da Silva gewann vor wenigen Wochen die Wahl in Brasilien unter anderem mit dem Versprechen, den Schutz des Regenwaldes wiederherzustellen. In der steirischen Landeshauptstadt wurde die bekennende Kommunistin Elke Kahr auf einem Programm zur Bürgermeisterin gewählt, in dem demokratische und Umweltforderungen eine entscheidende Rolle spielen. Die Medien laufen seither Sturm und bezeichnen diese Stadt als LeninGraz.

Was wir erleben ist in erster Linie eine Krise des subjektiven Faktors – und nicht so sehr einen Siegeslauf derjenigen Menschen, die dumpfe direkte und egozentrische Interessen ins Zentrum rücken würden. Die vorherrschende Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung ist doch so, dass eine Mehrheit die kommenden Krisen erkennt, dass diese Menschen vor allem die Gefahr der Klimakatastrophe sehen – dass sie jedoch sagen, ja schreien: „Was sollen wir bloß tun? Was können wir machen?“ Und auf diese ihre Fragen gibt es keine öffentlich wirksamen und überzeugenden Antworten.

Dabei gibt es, anders als vor drei oder auch vor zwei Jahrzehnten, heute für so gut wie alle Bereiche des menschlichen Lebens Teilprogramme, die verdeutlichen, was getan werden könnte und was getan werden müsste, um einigermaßen klimagerecht und nachhaltig zu arbeiten und zu leben. Das trifft zu auf den Energiebereich, auf Wohnen, auf den Sektor Gesundheit, auf die Landwirtschaft, auf („sanften“) Tourismus und auf akzeptable Freizeitgestaltung. Ich möchte drei Bereiche herausgreifen, zwei aus meinen Schwerpunkten.

Mobilität. Die vorherrschende Politik geht davon aus, dass es „ein Recht auf Mobilität“ geben würde und dass die Umsetzung dieses Rechts vor allem darin bestünde, dass die Menschen möglichst viele Kilometer zurücklegen – nach Möglichkeit dann auf Basis eines Neun-Euro-Tickets für Rund-um-die-Welt. Tatsächlich ist Mobilität nicht mit Kilometerfraß gleichzusetzen.

Die Tatsache, dass ein westdeutscher Bürger und eine westdeutsche Bürgerin Anfang der 1960er Jahre rund 7000 Kilometer im Jahr motorisiert – per Pkw, Tram, Zug, Flieger – zurückgelegt haben und dass ein gesamtdeutscher Mensch heute doppelt so viele Kilometer motorisiert zurücklegt, heißt nicht, dass der Neumensch doppelt so mobil sei wie derjenige von sagen wir 1965. Die Zahl der Berufsfahrten, der in der Freizeit verbrachten Stunden oder der Einkaufswege hat sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Verändert hat sich „nur“, dass jeder Berufsweg, jeder Einkaufsweg, jeder Weg in die Freizeit usw. sich in der Länge, um von A, dem Ausgangspunkt, nach Z, dem Zielpunkt, zu gelangen, sich verdoppelt und oft verdreifacht hat.

Die wesentliche Zielsetzung auf diesem Gebiet heißt: Weniger ist mehr. Anstelle von Wachstum Degrowth. Kurze Wege. Förderung von Dezentralität. Was heißt: Millionen Wege entfallen schlicht. Rückeroberung der Städte für die Menschen. Aussperrung der individuellen Autos aus denselben. Förderung von nichtmotorisierten Verkehren – dem Zufußggehen, dem Radeln. Und dann erst auch Verlagerung von Verkehren auf öffentliche Verkehrsmittel – Tram und Bahn.

Güterverkehr. In der Regel heißt es bei Linken, auch im Degrowth-Bereich: Güter müssen von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Falsch, sage ich. Selbst wenn dies machbar wäre, ist das der falsche Weg. Aktuell wird auf den Straßen in Deutschland eine Transportleistung von rund 500 Milliarden Tonnenkilometer erbracht. Das sind die Gewichte multipliziert mit den Entfernungen der Transporte. Im Schienengüterverkehr liegt die Leistung bei rund 130 Milliarden Tonnenkilometern.[24] Würde man die Lkw-Transporte auf die Schienen verlagern, müsste man die Länge und die Zahl der Schienenstränge deutlich mehr als verdoppeln. Das würde – zu Recht – zu massiven Protesten, unter anderem wegen Schienenlärm, führen. Rein zeitlich gesehen wäre dies eine Aufgabe, die deutlich mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen würde.

Auch hier gilt: Weniger ist mehr. Degrowth ist angesagt. Der größte Teil der Gütertransporte, ich gehe von zwei Dritteln aus, ist unnötiger Transport, ist inflationärer, strukturell erzwungener Transport, der entfallen kann, ohne dass dies auf mittlere Frist negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen hat. Wir exportieren beispielsweise annähernd so viel Zucker, wie wir Zucker importieren. Die Exporte von Tierfutter entsprechend weitgehend den Importen von Tierfutter. Der Südtiroler Schinken besteht zu 90 Prozent aus Schweinefleisch auf den Niederlanden, das über den Brenner nach Italien transportiert und danach als „geselcht in Südtirol“ ausgegeben wird. Vor ziemlich genau drei Jahrzehnten machte Stephanie Böge vom Wuppertal Institut Furore, als sie vorrechnete, dass „9115 Kilometer ein Fruchtjoghurt auf dem Buckel (hat), oder sollte man sagen im Glas, bevor er gelöffelt wird. Das entspricht pro Glas 0,06 Liter (= 6 cl) Dieselkraftstoff.“[25]

Inzwischen wird der Joghurt eher selten im Glas ausgeliefert – und die Zahl der Kilometer, die ein solcher Becher „auf dem Buckel hat“, könnte sich nochmals gesteigert haben. Und in den bereits erwähnten Green Cities dürfte ein großer Teil der Lebensmittel, vor ihrem Konsum, eine Weltreise hinter sich haben.

Wird also der Güterverkehr nach entsprechender Analyse dessen, was da so an Unnötigem transportiert wird, deutlich – auf rund ein Drittel des aktuellen Niveaus – geschrumpft, dann kann dieser „Rest“ auf Binnenschiff und die Schiene verlagert werden.

Energieverbrauch. Wenn wir hier von der fatalen Rolle rückwärts absehen, die es in diesem Sektor gibt, so bleibt die Grundtendenz der offiziellen Energiepolitik: Man will das bisherige Niveau an Energieverbrauch erhalten, ja sogar – Stichwort: E-Mobility – um rund 30 Prozent bis 2040 steigern, natürlich dann alles in Form von „grüner Energie“, von Ökostrom usw.

Einmal abgesehen davon, dass das technisch nicht machbar sein wird, dass auch dieser grüne Strom mit einem erheblichen Ressourcenverbrauch verbunden ist, gilt für eine fortschrittliche linke Energiepolitik vor allem: Weniger wird mehr.

Wobei hier auch – wie in anderen Bereichen, was hier nicht ausgeführt wird – der Gerechtigkeitsaspekt eine große Rolle spielt. Tatsache ist: Die reichsten 10 Prozent der gesamten Bevölkerung haben einen Energieverbrauch, der demjenigen der unteren Hälfte der Gesamtbevölkerung entspricht. Ganz offensichtlich muss hier primär angesetzt – und der immense Energieverbrauch dieser oberen acht Millionen Menschen drastisch gedrosselt – werden.

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Wobei das Prinzip Degrowth nicht zuletzt auf die menschliche Arbeitszeit  anzuwenden sein würde. Auch dies ist ein Bereich, der in dieser Debatte oft ausgeklammert oder der nur am Rande erwähnt wird. Wir haben in Europa, in Nordamerika, in großen Teilen von Südamerika und in einigen asiatischen Ländern längst ein Niveau der Produktivität erreicht, das dazu dienen müsste, die Arbeitszeiten radikal zu senken. Auch hier gilt: Degrowth – die Arbeitszeiten müssen massiv geschrumpft werden.

Genau dies war auch die Perspektive, die bürgerliche Ökonomen vor knapp 100 Jahren sahen. John Maynard Keynes, der Ökonom und Philosoph, sagte voraus, dass die durchschnittliche Arbeitswoche bis zum Jahr 2030 auf 15 Wochenstunden gesunken sein werde. Drei Stunden Arbeit pro Tag seien genug, schrieb der Ökonom in seinem Aufsatz „Economic Possibilities for our Grandchildren“. Die Technologie würde eine ganz neue Freizeitklasse (im Gegensatz zur Arbeiterklasse) schaffen. Und die Herausforderung darin liegen, wie wir die freie Zeit für uns sinnvoll gestalten würden.[26]

Unter den Bedingungen des Kapitals findet jedoch das Gegenteil statt. Die höhere Produktivität wird kombiniert mit verlängerten Arbeitszeiten und einem dichteren Arbeitstag – bei gleichzeitig ständiger Bereithaltung eines Erwerbslosenheeres von weltweit hunderten Millionen Menschen.

Womit wir erneut bei dem Kernthema sind: Ist denn Degrowth unter kapitalistischen Bedingungen machbar? Ist nicht der Wachstumszwang dem Kapital so inhärent, dass das Nein zu Wachstum, dass eine Entschleunigung von Produktion und Konsum und Lebenswelten das System dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsweise sprengt?

So ist es. Degrowth und wirksamer Klimaschutz, noch härter: die Abwendung der Klimakatastrophe wird im Rahmen der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht erreichbar sein.

Dies war auch die Auffassung von Karl Marx und Friedrich Engels. Und sie beschrieben durchaus bereits am Beispiel des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, dass Kapital zur nicht enden wollenden Naturzerstörung führt.

Friedrich Engels schrieb:

„Die spanischen Pflanzer in Kuba, die die Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der Asche Dünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäume vorfanden – was lag ihnen daran, dass nachher die tropischen Regengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nur nackten Fels hinterließen. Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise  vorwiegend nur der erste, handgreifliche Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, dass die entfernten Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen andere, meist ganz entgegengesetzte sind […] So werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern, dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“[27]

  1. Wer, wie und wann?

Es gab für diejenigen, die die zerstörerische Grundtendenz des Kapitals erkannten und sich für eine andere – sozialistische, solidarische, ökologisch vertretbare und klimagerechte – Gesellschaft engagierten, so gut wie immer Fixpunkte der Hoffnung: solidarische  Zusammenschlüsse und Bewegungen, historische Vorbilder und Persönlichkeiten, bewegende Ereignisse. Das traf zu auf die Pariser Commune 1871, die 1848er Bewegung, die Oktoberrevolution und die junge Sowjetunion, auf die Befreiungsbewegungen in Vietnam, Algerien, Mozambique, Angola-Bissau, auf Kuba, Nicaragua, Grenada, auf die 1968er Revolte, auf den Prager Frühling, auf die Kämpfe der Frauen gegen den §218 und auf die allgemeinen Kämpfe für die Emanzipation der Frauen, auf die Kämpfe der arbeitenden Klassen in Italien und Frankreich, auf Solidarnosc in Polen.

In diesen heutigen Tagen und angesichts der Vielfachkrise, mit der wir konfrontiert sind, ist es schwierig, einen solchen Fixstern der Hoffnung zu erblicken. Andererseits war es in den vergangenen zweihundert Jahren immer so, dass tiefgreifende und revolutionäre Veränderungen im Vorfeld ihres Stattfindens so gut wie nie vorhergesagt werden konnten – was, um nur die jüngere Entwicklung zu nehmen, auf 1968 ebenso zutrifft wie auf Fridays for Future.

Hätte jemand einen Roman geschrieben, in dem eine 15jährige als Hauptperson sich jeweils an den Freitagen vor das nationale Parlamentsgebäude setzt, um für Klimagerechtigkeit zu demonstrieren, in dem diese junge Frau dann auf diese Weise eine weltweite Bewegung auslöst, die nach vielen Hunderttausenden zählt und – völlig neu in der Weltgeschichte – die deutlich überwiegend weiblich zusammengesetzt ist – ein Roman, in dem diese junge Frau dann in New York vor dem damaligen US-Präsidenten spricht und diesen anmacht mit „How dare you!“ – ein jeder von Vernunft geleitete Lektor beziehungsweise jeder Verlag, der sein Ansehen verteidigt sehen will, hätte einen solchen Roman als Kitsch und mit dem Kommentar „völlig unglaubwürdige Handlung“ abgelehnt.

Just dies ist passiert. Und das Geschehen liegt gerade einmal drei Jahre zurück. Es wurde allerdings durch das Pandemie-Geschehen und durch die jüngeren Ereignisse, nicht zuletzt durch den Ukraine-Krieg, überdeckt.

Wir wissen nicht, wer oder was sich in dem hier skizzierten Sinn massenhaft engagieren wird. Wir wissen nur, dass dies notwendig ist und dass wir alles dafür tun müssen, dass es dazu kommt.

Denn es stimmt ja schon: Die jungen Menschen von heute sind tatsächlich so etwas wie die LETZTE GENERATION.

In einer aktuellen Ausgabe der Berliner Zeitung gab es ein ganzseitiges, Aufsehen erregendes Interview mit einer 20-jährigen Lina und ihrer 42-jährigen Mutter Solvig. Beide Frauen sind aktiv bei „Die Letzte Generation“. Beide beteiligten sich bisher bereits an vielen „Klebe-Aktionen“.

Auszüge aus diesem Interview:

Solvig: Ich hätte mir im Leben nicht vorstellen können, dass ich mal mit meinem Kind eine Nacht im Gefängnis verbringe. In Berlin [im Gefängnis] gibt es … keine Matratze, nur so eine Bank mit Latten und Lücken zwischen den Latten…

Lina: Seit 30 Jahren warnen uns die Wissenschaftler. Und wir schaffen es nicht, die Lösungen umzusetzen. Nicht einmal die einfachsten wie ein Tempolimit. […] In der Geschichte war es immer friedlicher, ziviler widerstand, der ökonomische oder soziale Gegebenheiten verändert hat, wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA. […] Keine Widerstandsbewegung war anfangs beliebt, die Leute wurden ausgelacht, verpönt, von der Straße weggeprügelt.“ Und mit Blick auf die Kritik an den Aktionen in Museen, als Kartoffelbrei auf Gemälde, die sich hinter Glas befinden, geworfen wurde, sagt Lina: „Es ist doch verrückt: Bei der Flut im Ahrtal wurden Museen und Bibliotheken beschädigt und es kamen Menschen ums Leben. Aber das nimmt man hin.“[28]

Ich finde: Die beiden Frauen haben unser aller Beifall verdient!


[1] Mein besonderer Dank geht an diejenigen, die die Vorlesung ermöglichten, so an Justin Turpel. Im Übrigen wurde das Referat nach der Hamburger Veranstaltung vom 17.11.2022 nochmals (vor allem bei den Literaturquellen) ergänzt und leicht überarbeitet. Einige wenige Passagen, so die zur Elektromobilität, wurden in der Hamburger Vorlesung aus Zeitgründen nicht vorgetragen.

[2] Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Erstauflage 1950, hier: Tübingen und Basel 1993, S. 525.

[3] In J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1912, S. 157. Dort vor allem Band II.

[4] In J. A. Schumpeter, Konjunkturzyklen – Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Göttingen 1961, Band II, heißt es auf Seite 937: „Der Kapitalismus und seine Zivilisation mögen langsam verfallen, unmerklich in etwas anderes übergehen oder einem gewaltsamen Tod entgegengehen. Der Verfasserpersönlich glaubt, dass sie dies tun.“

[5] Werner Sombart 1927, hier zitiert bei Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen – Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005, S. 39.

[6] Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1968; Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1972.

[7] Viviane Forrester, Der Terror der Ökonomie, Paris 1996, deutsch: Wien 1997.

[8] Christian voin Ditfurth, Wachstumswahn – Wie wir uns selbst vernichten, Göttingen 1995.

[9] Dort Seite 58.

[10] Winfried Wolf, Eisenbahn und Autowahn, Hamburg 1986.

[11] Naomi Klein, Die Entscheidung Kapitalismus versus Klima, New York 2014, deutsch Frankfurt/M. 2015, dort vor allem Seite 85ff.

[12] Siehe Harald Schuman und Christiane Grefe, Der globale Countdown. Finanzcrash, Wirtschaftskollaps, Klimawandel, Köln 2008, S. 416.

[13] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, verfasst 1857, erstmals veröffentlicht Moskau 1939, hier deutsch nach: Frankfurt/M. und Wien 1974, Seite 311.

[14] Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München 2005, Seiten 30 und 237.

[15] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Original Berlin 1913, hier nach: Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1969, S.445.

[16] Zitiert in: OMGUS, Ermittlungen [der Militärregierung der Vereinigten Staaten für Deutschland] gegen die Deutsche Bahn, Nördlingen 1985, S.150.

[17] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, a.a.O., S. 437f.

[18] Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen – Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005, S. 48.

[19] Hybrid-Pkw können nicht als Elektro-Pkw eingerechnet werden. Deren Verbrauch an Diesel- oder Benzin ist in 90 Prozent der Fälle höher als im Fall einer vergleichbaren Nur-Verbrenner-Pkw. Die CO2-Belstung ist damit auch größer als ein vergleichbarer Benzin- oder Diesel-Pkw.

[20] Winfried Wolf, Mit dem Elektroauto in die Sackgasse, Wien 2018, dritte erweiterte Auflage 2020.

[21] Presseerklärung vom 17. Januar 2022. https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/corona-pandemie-ungleichheit-10-reichste-maenner-verdoppeln-vermoegen

[22] A.a.O., S. 293.

[23] Dort Seiten 294 und 297.

[24] Zumal laut offizieller Zielsetzung der alten Bundesregierung (letztes Kabinett Angela Merkel) und der neuen Bundesregierung der Schienenpersonenverkehr sich 2030 verdoppeln soll. Interessanterweise lag die gesamtdeutsche Gütertransportleistung der Eisenbahnen (Reichsbahn und Bundesbahn) auf den Gebieten DDR und BRD im Jahr 1988 auf einem ähnlich hohen Niveau wie heute. Der Straßenverkehr hat sich jedoch seit der Wende fast verdoppelt. Zahlen nach: Verkehr in Zahlen 2020/2021, S. 244f.

[25] Hier zitiert nach: https://beschaffung-aktuell.industrie.de/allgemein/die-weite-reise-des-joghurts/

[26] John Maynard Keynes, Essays in Persuasion, New York, 1963.

[27] Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MWE 20, S. 455 und 453.

[28] „Wir zerstören doch nichts“ – Interview in: Berliner Zeitung vom 15. November 2022.