Der Krieg in der Ukraine und die neue-alte Geopolitik des Westens – neun Thesen
Der Ukraine-Krieg stellt in mehrererlei Hinsicht einen Wendepunkt dar – und zwar vor allem für die deutsche und für die EU-Politik. Dabei kann sieben Monate nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine weiterhin nicht ausgeschlossen werden, dass wir mit diesem Krieg in einen neuen großen Krieg steuern. Genauer gesagt: gesteuert werden. Die jüngeren erheblichen Erfolge der ukrainischen Armee können Ausgangspunkt für zwei diametral unterschiedliche Wege sein: hin zu noch mehr Waffenlieferungen beziehungsweise zu russischen massiven Gegenschlägen und Bombardements oder hin zu einer Verhandlungslösung und perspektivisch zu einem Frieden.
I.
Krieg „mitten in Europa“. Der Kosovokrieg und der Ukraine-Krieg im Vergleich
Der vielfach wiederholten Behauptung, mit Russlands Krieg in der Ukraine sei „der Krieg zum ersten Mal seit 1945 wieder nach Europa zurückgekehrt“, wurde zu Recht widersprochen. Dabei wurde festgestellt: Es waren die US-Regierung und die Nato, bei aktiver Beteiligung der Bundeswehr, die 1999 mitten in Europa einen Angriffskrieg durchführten – mit dem „Kosovokrieg“, dem Nato-Angriff auf die damals noch existente Bundesrepublik Jugoslawien. Um das zu verschleiern, wurden sogar die Wikipedia-Einträge zu diesem Krieg in mehreren Sprachen gefälscht.1
Allerdings sind die Dimensionen der beiden Kriege „mitten in Europa“ inzwischen deutlich unterschiedlich: Der Ukraine-Krieg dauert mit sieben Monaten bislang bereits mehr als doppelt so lang wie der Kosovokrieg. Der Kosovokrieg war in erster Linie ein Luftkrieg; der Ukraine-Krieg wird primär mit Bodentruppen geführt. Die Zahl der im Kosovokrieg getöteten Soldaten und Zivilisten lag bei rund 5000; im Ukrainekrieg dürften nach vorsichtigen Schätzungen bislang deutlich mehr als zehnmal so viele Menschen getötet worden sein. Im Ukraine-Krieg wurden bisher viele Hunderttausende Wohnungen zerstört; sogar Großstädte liegen zu großen Teilen in Trümmern – so Mariupol. Vergleichbares gab es im Kosovokrieg nicht; allerdings wurde damals gezielt die Infrastruktur des Landes bombardiert; die daraus resultierenden Schäden sind teilweise bis heute spürbar. Im Ukraine-Krieg gibt es bisher rund zehn Millionen Geflüchtete und Vertriebene; das entspricht einem Viertel der gesamten Bevölkerung. Im Kosovokrieg gab es kurzfristig einige Hunderttausende Binnenflüchtlinge; insgesamt wurden viele Zehntausend Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben. Seit Kriegsende gibt es einige Hunderttausend Wirtschaftsflüchtlinge – Serbinnen und Serben, die sich wegen der Armut im Heimatland oft zu Hungerlöhnen in Westeuropa verdingen müssen.2
Schließlich wird der Ukraine-Krieg in einem Land geführt, das – nach Frankreich – das zweitdichteste AKW-Netz hat – mit insgesamt mindestens 17 in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken.3 Zwei Standorte mit Atomkraftwerken – Tschernobyl und Saporischschja – wurden in die kriegerischen Auseinandersetzungen einbezogen. Allein deswegen besteht die Gefahr, dass sich der Krieg zu einer atomaren Katastrophe auswächst. Im Kosovokrieg wurde von den Nato-Einheiten „nur“ uran-angereicherte Munition verschossen, was allerdings bedeutet, dass Tausende Menschen an Krebs erkrankten und teilweise heute noch neu erkranken.
Der Kosovokrieg war ein Wetterleuchten: In einer Zeit, als noch vielfach von einer „Friedensdividende“ die Rede war, gab es, zumindest für die deutsche Öffentlichkeit völlig unerwartet, wie aus heiterem Himmel, das Nato-Bombardement auf Serbien und den Kosovo. Im Fall des Ukraine-Kriegs hat dann alle Fachleute – außer diejenigen der US-Geheimdienste – die Tatsache überrascht, dass Russland diesen Krieg begann. Spannungen zwischen dem Westen und Russland haben sich jedoch bereits in den vorausgegangenen 15 Jahren abgezeichnet. Auch war deutlich geworden, dass die Ukraine der Hotspot dieser Spannungen sein würde – immerhin wird seit Frühjahr 2014 in der Ostukraine ein Krieg geführt, der allein im Zeitraum bis zum 23. Februar 2022 mehr als 14.000 Tote – und damit dreimal so viele Tote wie im gesamten Kosovokrieg – gefordert hat. Wobei die russisch-sprachige Bevölkerung in der Ostukraine den größten Teil dieses Blutzolls zu erleiden hatte.
II.
Zeitenwende heißt: Ein halbes Jahrhundert einer energiepolitischen Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion beziehungsweise der Russischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland wird beendet
Der Kosovokrieg hatte zunächst keine erkennbaren Auswirkungen auf die Geopolitik des Westens gehabt. Allerdings muss er im Rückblick als Auftakt zu einer solchen Umorientierung verstanden werden. Der Ukraine-Krieg hingegen stellt tatsächlich einen Wendepunkt, auch eine Zeitenwende, dar. Das wird vor allem mit dem Blick auf die Energiepolitik deutlich.
Seit Anfang der 1970er Jahre bezieht Westdeutschland Energie aus Russland – zunächst Rohöl, später verstärkt auch Gas. Diese energiepolitische Zusammenarbeit wurde erstmals von den SPD-FDP-Koalitionen mit den Kanzlern Willy Brandt (1969 bis 1974) und Helmut Schmidt (1974 bis 1982) in Gang gesetzt. Sie wurde dann ab Herbst 1982 von den CDU-CSU-geführten Koalitionen unter Kanzler Helmut Kohl fortgesetzt, auch wenn die politische Einordnung, dies sei Teil einer „neuen Ostpolitik“, nunmehr entfiel. In den Jahren 1998-2005, als es mit Gerhard Schröder erneut einen SPD-Kanzler gab, wurden die Energieimporte aus Russland gesteigert. Diese energiepolitische Grundausrichtung war jedoch nicht spezifisch parteipolitisch geprägt. Als ab Herbst 2005 erneut die CDU mit Angela Merkel im Kanzleramt das Sagen hatte und es in Deutschland dann 16 Jahre lang eine CDU-Kanzlerin gab, wurde die Zusammenarbeit nicht nur fortgesetzt, sondern kontinuierlich (mit Nordstream I und Nordstream II) intensiviert.
Offensichtlich gab es einen Konsens in der deutschen großbürgerlichen Klasse respektive in der BRD-Wirtschaft, dass diese wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auch im deutschen Interesse liegen würde. Denn die Sowjetunion hatte in all diesen Jahren ja durchaus militärisch interveniert und Kriege geführt, die der Westen zu Recht verdammte. Als die energiepolitische Zusammenarbeit aufgenommen wurde, befand sich die CSSR in einem Zustand, der einem Kriegsrecht ähnelte; im August 1968 hatten sowjetische Panzer den „Prager Frühling“ niedergewalzt und eine Marionetten-Regierung, die nach der Pfeife des KPdSU-Generalsekretärs tanzte, eingesetzt. 1981 kam es in Polen zu dem Militärputsch unter General Jaruzelski mit der Unterdrückung von Hunderttausenden Mitgliedern der Gewerkschaft Solidarno ´ s ´ c.
Am 23. Dezember 1979 marschierten mehrere Hunderttausend sowjetische Soldaten in Afghanistan ein. Die sowjetische Armee verlor offiziell mehr als 15.000 Mann, die Zahl der getöteten Afghaninnen und Afghanen überstieg die Zahl von einer Million. Kurz nach Beginn des Krieges beschloss die US-Regierung – in dieser Periode bereits vorangetrieben von Zbigniew Brzezinski, dem damaligen Nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter – einen Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau (siehe unten These VI). Dem Boykottaufruf schlossen sich nur drei Dutzend Staaten, darunter Westdeutschland, an. Kurz vor Beginn der Olympiade stattete der deutsche Kanzler Helmut Schmidt der sowjetischen Führung in Moskau einen Besuch ab; es kam zum Abschluss weiterer Verträge über eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Im gesamten Verlauf des sowjetischen Afghanistan-Kriegs wurde in der Bundesrepublik Deutschland die energiepolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der BRD und die Kooperation mit anderen westeuropäischen Staaten nie in Frage gestellt. Öl und Gas aus dem Osten flossen sogar in wachsendem Umfang. Und als 1990/91 die Sowjetunion unterging und es 1994 bis 1996 den ersten Krieg der Russischen Föderation in Tschetschenien und dann 1999 bis 2001 einen zweiten Tschetschenien-Krieg gab, tat auch dies der energiepolitischen Kooperation keinen Abbruch.
Wenn im Februar 2022, nur drei Tage nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, der SPD-Kanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende sprach und ankündigte, dass nun die seit einem halben Jahrhundert betriebene energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland beendet werden würde, so ist dies ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich in der vorausgegangenen Periode im Hintergrund eine grundsätzliche Umorientierung in der deutschen Geopolitik vollzogen hat. Und dass der Krieg für diese Wende in erster Linie ein willkommener Vorwand war. Schließlich kündigte die Bundesregierung zwei Tage vor Kriegsbeginn das Nordstream II Projekt auf. Und die EU beschloss ebenfalls vor Kriegsbeginn ein neues hartes Sanktionspaket gegen Russland.
III.
Zwei Präsidenten im Deutschen Bundestag – Putin am 25. September 2001 und George W. Busch am 23. Mai 2002 – ein heute nicht mehr vorstellbarer Kontrast
2001 und 2002 sprachen im Deutschen Bundestag in einem Abstand von nur acht Monaten der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush. An den beiden Reden und den Reaktionen darauf lässt sich ablesen, wie deutlich sich die geopolitische Orientierung der deutschen Regierung respektive der deutschen Wirtschaft verändert hat.
Am 25. September 2001 sprach Wladimir Putin im Plenarsaal des Bundestags. Seine, weitgehend in deutscher Sprache gehaltene Rede ist auch bei heutiger Lektüre noch aufschlussreich. Auffallend ist, dass Putin mit keinem Wort den Zweiten Weltkrieg und nicht die mehr als 25 Millionen Tote, die die Sowjetunion durch den deutschen Angriffskrieg zu beklagen hatte, erwähnte. Nur kursorisch sprach er davon, dass man in Russland die antifaschistische Tradition würdigen würde. Putin betonte in dieser Rede, „dass niemand Russland jemals in die Vergangenheit zurückführen“ könne, dass es „niemals mehr eine stalinistische Politik“ geben würde.
Und dann gab es in dieser Rede den folgenden entscheidenden Satz: Es sei notwendig beziehungsweise wünschenswert, „dass Europa seinen Ruf als selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen und (…) Naturressourcen vereinigen wird.“
Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle, also bei dem Vorschlag für eine Art Achse Moskau – Brüssel/Berlin, Beifall. Und als laut Protokoll um 15.47 Uhr Putin die rund halbstündige Rede beendet, vermerkt das Protokoll: „Anhaltender Beifall. Die Abgeordneten erheben sich.“
Am 23. Mai 2002 dann im selben Saal und vor denselben Bundestagsabgeordneten die Rede des US-Präsidenten George W. Bush. Hier waren der Grundton und die Grundstimmung im Land und in der Hauptstadt Berlin eine völlig andere. Bush sprach in dieser Rede vom „Krieg gegen den Terror“, von der „neuen totalitären Drohung“ von nebulös beschriebenen „Terroristen“, die „atomare, chemische und biologische Waffen“ einsetzen würden. Er sagte: „Bezeichnen Sie es als strategische Herausforderung oder, wie ich, als Achse des Bösen. Aber lassen Sie uns die Wahrheit offen ansprechen: Wenn wir diese Bedrohung ignorieren, fordern wir zu einer Art Erpressung auf und bringen Millionen von Bürgern in ernsthafte Gefahr. (…) Unsere Antwort wird eine entschiedene sein. Und wir werden mehr als unsere militärische Macht einsetzen.“ Mit der Achse des Bösen waren der Irak, Iran und Nord-Korea gemeint. Mit dem Verweis auf Massenvernichtungswaffen war die Behauptung angesprochen, der Irak habe solche Waffen bereits entwickelt und verfüge über diese. Das erwies sich als eine reine Erfindung der US-Geheimdienste. Doch es diente einige Monate später als Vorwand für den im Mai 2002 bereits in Vorbereitung befindlichen neuen US-Krieg gegen den Irak. Bush forderte in dieser Rede auch eine Stärkung der „transatlantischen Allianz“. Und er kündigte die fortgesetzte Ausdehnung der Nato in Europa an, wobei er Russland eine „Partnerschaft“, aber eben nur eine solche anbot.
Der Besuch Putins in der deutschen Hauptstadt verlief geräuschlos; es gab keine größeren Proteste. Völlig anders acht Monate später. Anlässlich des Besuchs des US-Präsidenten waren in Berlin an zwei Tagen bei zwei Demonstrationen insgesamt 150.000 Menschen auf der Straße, um gegen Bush zu demonstrieren – darunter auch viele Mitglieder und Sympathisanten der PDS. Wobei hinzuzufügen ist, dass die PDS, die damals in der Berliner Landesregierung den Junior-Koalitionspartner der SPD stellte, einen Beschluss des Senats einstimmig mitgetragen hatte, wonach kein Mitglied des Senats sich an den Protesten gegen den US-Präsidenten beteiligen dürfe. Die PDS-Senatorin für Soziales Heidi Knake-Werner und die PDS-Senatoren Gregor Gysi (Wirtschaft) und Thomas Flierl (Kultur) hielten sich dann auch sklavisch an diesen Beschluss. Nicht anders die Grünen: Die Spitze von Bündnis 90/Die Grünen hatte dazu aufgerufen, dass alle Grünen-MdBs im Plenarsaal anwesend sein müssten, wenn Bush redet – natürlich ohne dort zu protestieren. Nur Christian Ströbele nahm, als prominenter Grüner, an dem Protest auf der Straße teil und war im Plenarsaal dann während der Bush-Rede nicht anwesend.4
Im Bundestag selbst kam es während der Rede des US-Präsidenten zu der spektakulären Aktion der drei PDS-MdBs Ulla Jelpke, Heidi Lippmann und Winfried Wolf, die zu dem Zeitpunkt, als Bush begann, von der „Achse des Bösen“ zu reden, sich erhoben, ein Transparent mit der Aufschrift „Mr. Bush and Mr. Schröder: Stopp your wars!“ entrollten, worauf Bush seine Rede unterbrechen musste – und die drei von Saalordnern niedergerissen wurden. Wenn es auch dort hieß, dass sich die Abgeordneten am Ende der Rede des US-Präsidenten ehrend erhoben hätten: Diese drei MdBs waren nicht dabei; sie hatten zuvor unter Protest den Saal verlassen.
Ein Protest vergleichbarer Art im Fall der Putin-Rede wäre in der allgemeinen Öffentlichkeit und auf der Linken als völlig deplatziert erschienen. Es gab auch niemanden aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen, die oder der in erkennbarer Form gegen Putin protestiert hätte. Wobei man damals – so unter Verweis auf den Zweiten Tschetschenien-Krieg, der bereits in der ersten Amtszeit von Wladimir Putin stattfand – auch einigen Anlass zur Kritik an der russischen Politik hätte finden können. Die Proteste gegen Bush jedoch fanden in der Bevölkerung breite Zustimmung.
Nur wenige Wochen nach der Bush-Rede verweigerte die Bundesregierung der US-Regierung in Sachen Irak-Krieg die Gefolgschaft. Sie schloss sich nicht der „Koalition der Willigen“ an, die dann ab dem 20. März 2003 dieses Land in Grund und Boden bombte und es mehr als ein Jahrzehnt lang terrorisierte, was auch heute noch zur Folge hat, dass der Irak tatsächlich eine labile, von inneren Widersprüchen gezeichnete Gesellschaft ist und gemäß westlicher Terminologie als „failed state“ bezeichnet wird.
Die rot-grüne Bundesregierung wurde für ihre Politik, die „transatlantische Solidarität“ in diesem Fall abzulehnen, reichlich belohnt: Die SPD kam bei der Bundestagswahl im September 2002 auf 38,5 Prozent der Stimmen; die Grünen erreichten 8,6 Prozent. Rot-Grün konnte insgesamt das Ergebnis von 1998 fast exakt halten. Die PDS wurde aus dem Bundestag katapultiert – ohne Zweifel auch deshalb, weil sich ihre Antikriegsposition in Erosion befand und die Proteste gegen den Besuch des US-Präsidenten von der Parteiführung nicht überzeugend mitgetragen wurden.5
Es gibt zweifellos eine gewisse Eigendynamik in der parteipolitischen Auseinandersetzung in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dennoch sollte man die Entscheidung eines SPD-Kanzlers, in einer für die US-Regierung zentralen Frage, die transatlantische Solidarität zu verweigern, nicht als persönlich oder als primär parteipolitisch motiviert betrachten. Will heißen: Zu diesem Zeitpunkt standen zweifellos maßgebliche Kreise des deutschen Kapitals hinter dieser Position.
IV.
Der Ukraine-Krieg war nicht seit langem „absehbar“. Oder: Was sich änderte
Die These „Der Krieg war absehbar. Er ist in der Person Putins oder im imperialistischen System der russischen Föderation angelegt“ ist falsch. Richtig ist, dass es in den letzten 25 Jahren eine Reihe von Variablen gab, die sich spezifisch, den Krieg begünstigend, entwickelt haben und dass „die große Politik“ dabei – auf beiden Seiten – eine wichtige Rolle spielte. Es gab also Entscheidungen von Subjekten, hinter denen einerseits eine ökonomische Logik stand, die aber andererseits nicht objektiv bedingt waren. Der Weg in das aktuelle Desaster war nicht schicksalhaft vorherbestimmt.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich im Westen, in Russland und im wechselseitigen Verhältnis wichtige Dinge erheblich verändert.
Im Westen: Hier gab es in jüngerer Zeit im Prozess der Globalisierung heftige Bremsspuren; nicht zuletzt durch die tiefe Krise 2007/2008 und mit der direkt daran anschließenden Griechenland-, EU- und Euro-Krise. Es gab sodann den Maidan-Putsch in Kiew, der massiv vom Westen unterstützt wurde. Und es gab die politischen Entscheidungen zur fortgesetzten Nato-Ausweitung in Richtung Osten, unter perspektivischem Einschluss der Ukraine selbst. Die ukrainische Armee wurde hochgerüstet. Allein Großbritannien rühmt sich, mehr als 22.000 ukrainische Soldaten ausgebildet zu haben. Bei Kriegsbeginn standen auf ukrainischem Gebiet 6000 Nato-Soldaten, darunter 2000 der USA.
In Russland: 2014 erfolgte die Annexion der Krim, als Reaktion auf den Maidan-Putsch. Seit 2015 erlebte die russische Ökonomie eine deutliche Schwächung; der Abstand zur EU vergrößerte sich erheblich.6 Die Russischen Föderation orientierte sich verstärkt auf China; 2006 sandte Russland eine aus tausend Personen bestehende Delegation nach Peking; allein 2006/2007 gab es vier Treffen zwischen den Präsidenten Russlands und Chinas. 2013 wurde schließlich der russisch-chinesische Vertrag zur Lieferung von Öl aus Russland nach China im Wert von 270 Milliarden Dollar mit einer Laufzeit von 25 Jahren abgeschlossen. Gleichzeitig wurde die russisch-chinesische militärische Zusammenarbeit mit einer größeren Zahl von Manövern ausgebaut. Im Februar 2022 weilte Putin in Peking – ganz offensichtlich gab es dort einen letzten Austausch von Informationen, wenn nicht Absprachen, mit Blick auf die damals bereits beschlossene russische Invasion in die Ukraine. Es gibt Hinweise darauf, dass auf Wunsch Pekings der Beginn der Invasion um wenige Tage verschoben wurde, damit die Olympischen Spiele in Peking durch diesen aggressiven Akt nicht gestört würden.
Veränderungen im wechselseitigen Verhältnis Russland-Westen: Im April 2005 wurde der Bau von Nordstream I beschlossen – damals noch als Teil der EU-TEN, der „Transeuropäischen Netzwerke“ (Infrastrukur). Das sollte dick unterstrichen werden: Nordstream I war ein offizielles EU-Projekt. 2018 wurde mit dem Bau von Nordstream II begonnen; nunmehr war dies fast ausschließlich eine deutsche Entscheidung. 2014/2015 wurde das Abkommen „Minsk II“ ausgehandelt; Frankreich, Deutschland, Russland und die Ukraine einigten sich formal darauf, dass den ostukrainischen Oblasten Luhansk und Donezk eine Teilautonomie zugestanden werden würde. Für die Ukraine unterzeichnete nur der ehemalige ukrainische Präsident Kutschma. Das Abkommen wurde nie umgesetzt. Schließlich wurden im vergangenen Jahrzehnt eine Reihe wichtiger Verträge zur Begrenzung des atomaren Wettrüstens einseitig, seitens der USA, aufgekündigt.
Bilanz: Offensichtlich gab es im Zeitraum 2000 bis 2020 eine veränderte geopolitische Ausrichtung auf beiden Seiten. Damit hat sich der Krieg gewissermaßen am Horizont abgezeichnet. Das ändert nichts an der Verantwortung der russischen Seite für diesen Krieg. Zumal das Kriegsziel offensichtlich die Einverleibung der Ukraine in die russische Einflusssphäre war; es waren allein militärische Gründe, weshalb Russland seine diesbezüglichen imperialen Ambitionen, nämlich die gesamte Ukraine zu besetzen und zu beherrschen, zurückschraubte.
V.
Sanktionen, die die Bevölkerungen treffen und solche, die die Oligarchen treffen (würden)
Die westlichen Sanktionen gegen Russland haben nicht die erwarteten Wirkungen auf Russland. Stattdessen haben sie unerwartete Wirkungen auf die westlichen Ökonomien. Sie werden mit dazu beitragen, dass es 2023 eine Wirtschaftskrise gibt.
Erklärtes Ziel der Regierungen in Berlin und in Washington war und ist es, mit den Sanktionen „Russland in den Ruin zu treiben“. In einer solchen Offenheit wurde Vergleichbares selten zuvor formuliert – so beispielsweise aus dem Mund der deutschen Außenministerin. In den ersten Wochen seit Kriegsbeginn gab es auch wiederholt Meldungen, wonach der Rubel abstürzen, die Leistungsbilanz Russlands deutlich in den Minus-Bereich rutschen und letzten Endes Russland in wenigen Wochen Staatsbankrott anmelden müsste. So lautete am 15. März eine Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Zahlungsausfall Russlands rückt näher“. Und wenige Wochen später, am 7. April 2022, lautete eine Schlagzeile in der Süddeutschen Zeitung: „Staatspleite Russlands wird immer wahrscheinlicher“.
All das trat nicht ein. Der Rubel erlebt seit Mai einen Höhenflug; er ist stärker als vor Beginn des Krieges – was wiederum neue Probleme für die russische Wirtschaft schafft. Die Leistungsbilanz der Russischen Föderation hat 2022 mit 12 Prozent ein doppelt so hohes Plus wie 2021. Der leicht erkennbare Grund: Die Weltmarktpreise für Gas und Öl haben sich im laufenden Jahr mehr als verdoppelt. Die Inflationsrate, die kurzfristig bei 18 Prozent lag, ist wieder im einstelligen Bereich. Der Leitzins der russischen Notenbank musste kurz nach Kriegsbeginn auf 18 Prozent angehoben werden; er wird seither immer wieder neu gesenkt und liegt im August bei 8 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt wird zwar 2022 deutlich negativ sein, doch der Einbruch liegt mit 4 bis 6 Prozent wesentlich niedriger als vorhergesagt.
Die Sanktionen treffen im Wesentlichen die einfache russische Bevölkerung. Die Entourage um Putin, die viel zitierten Oligarchen sind eher wenig betroffen. Die heimlichen oder offenen Anteile von reichen Russinnen und Russen an westlichen Firmen werden in vielen Fällen beibehalten; teilweise verdeckt, so in den Fällen Strabag und Tui.
Die öffentlich vorgetragene Behauptung, die Sanktionen dienten dazu, Putin und seine Umgebung zu bestrafen und damit den Krieg zu beenden oder die Zeit dieses Krieges zu verkürzen, sind fragwürdig. Sicher ist: Es gäbe Sanktionen, die das persönliche Umfeld von Putin treffen würden. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat dafür einen Vorschlag gemacht. Nach seiner Schätzung gibt es in Russland 20.000 Personen, die mehr als zehn Millionen Dollar an Finanz- und Immobilienvermögen haben. Hier handle es sich um einen Personenkreis, der eng mit Wladimir Putin verbunden sei und der von der Politik der Regierung der Russischen Föderation erheblich profitiert habe. Von diesen Geldern sei in der Regel der größere Teil im Westen angelegt. 20.000 Personen – das entspricht 0,02 Prozent der russischen Bevölkerung. Pikettys Vorschlag lautet: die Sanktionen auf diese schmale Schicht von Russinnen und Russen zu konzentrieren. Dafür müsse ein internationales Finanzregister eingerichtet werden, was machbar sei. Es seien jedoch die westlichen Institutionen und die Vermögenden im Westen, die die Einrichtung eines solchen Registers ablehnten – und damit auch eine finanzielle Sanktionierung dieser Putin-Entourage verunmöglichten. Piketty: „Die Reichen im Westen fürchten, dass eine solche Transparenz ihnen letztlich schaden würde. (…) Die Konfrontation zwischen ´Demokratie´ und ´Autokratie´ wird überzeichnet und dabei vergessen, dass die westlichen Länder mit Russland und China nicht nur eine ungezügelte hyperkapitalistische Ideologie teilen, sondern auch ein rechtliches, steuerliches und politisches System, das große Vermögen immer mehr begünstigt.“7
Die Losung „Schlagt die Oligarchen“ hat ihre Berechtigung – mit dem Zusatz: „… wo immer ihr sie trefft“: sei es in Russland, China, Indien, in den USA oder in Europa.
VI.
Mr. Breszinski revisited
Lunapark21 veröffentlichte im vorigen Heft eine Zusammenfassung der Aussagen, die der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Carter 1997 in seinem Buch „The Grand Chessboard“ vortrug. Ganz offenkundig handelte es sich dabei um eine Handlungsanweisung für die Geopolitik der USA, die damals bereits zumindest von großen Teilen der herrschenden Kreise unterstützt wurde. Die zentrale Passage lautete: „Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien (Europa und der Mittlere Osten; W.W.). Eurasien stellt 60 Prozent des globalen BSP dar und drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen. (…) Die Ukraine, ein neuer wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung von Russland beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“
Die damals bereits knapp zwei Jahrzehnte alte Grundaussage wurde von der US-Diplomatin Victoria Nuland am 7. Februar 2014 mit den Worten „Fuck the EU“ auf den Punkt gebracht; diese feinsinnige Dame meinte, übrigens wenige Tage vor dem Sturz des eher russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, dass die EU die geopolitische Bedeutung der Ukraine für den Westen noch nicht begriffen habe und dass die „mehr als fünf Milliarden Dollar“, die laut Nuland die US-Regierung seit 1991 „in die Ukraine investiert“ hätten, um einen Regimewechsel zu erreichen, nunmehr Früchte tragen müssten. Tatsächlich rentierte sich das Investment kurz darauf. Bis August 2022 dürften die USA mehr als den dreifachen Betrag „in die Ukraine“ investiert haben – vor allem für Militärhilfe. Inwieweit das gesamte Investment sich auf mittlere Sicht rentieren wird, steht noch in den Sternen. Selbst ein militärischer Sieg der Ukraine könnte in ein wirtschaftliches Desaster des Westens münden.
VII.
Zeitenwende – auf sieben Ebenen konkretisiert
Die viel zitierte „Zeitenwende“ ist eine Tatsache. Der damit umschriebene Scherbenhaufen lässt sich auf sieben Ebenen konkretisieren. Bei all diesen Konkretisierungen handelt es sich um eine Zeiten-Wende hin zu Zerstörung, Demokratieabbau, wachsender Umwelt- und Klimabelastung, zu Hochrüstung und zu gesteigerter allgemeiner Kriegsgefahr.
Eine Zeitenwende gibt es zunächst in Russland. Seit Anfang 2022 und verstärkt mit Kriegsbeginn am 24. Februar sind alle alternativen Medien abgeschaltet, verboten beziehungsweise illegalisiert worden. Ein entsprechendes Anziehen der Repression gab es bereits in den Jahren zuvor; doch mit Kriegsbeginn muss von einer neuen Qualität gesprochen werden. Das unterstreicht auch die Tatsache, dass man in Russland seit März 2022 Krieg nicht mehr als Krieg bezeichnen darf und dass Menschen, die von einem Krieg in der Ukraine sprechen oder schreiben, eine Haftstrafe riskieren.
In Russland handelt es sich heute um eine Gesellschaft, in der Angst der bestimmende Faktor ist. Die Repression ist allgegenwärtig – wenn auch oft „nur“ latent: als Gefahr. Die Lage in den Gefängnissen ist beklagenswert – nicht so sehr hinsichtlich der Zahl der Gefangenen (diese liegt sogar deutlich niedriger als vor zwei Jahrzehnten8). Amnesty International geht davon aus, dass es bei fünf Prozent der Gefangenen zu Folter kommt. Bei 90 Prozent aller Fälle, die vor Gericht kommen, liegt bereits ein Geständnis vor. Die Zahl der politischen Gefangenen wird vom Menschenrechtszentrum Memorial mit rund 1000 angegeben. Teilweise gab es drakonische Strafen, vor allem für Menschen, die sich offen gegen den russischen Krieg in der Ukraine aussprachen. Selbst im Kreis führender russischer Wirtschaftsleute kommt es zu verstörenden Vorgängen. Anfang September stürzte der Aufsichtsratsvorsitzende des privaten Ölkonzerns Lukoil, Rawil Maganov, aus dem sechsten Stock eines Moskauer Krankenhauses; bereits im Mai hatte ein anderer Lukoil-Topmanager, Alexander Subbotin, unter mysteriösen Umständen den Tod gefunden. Der Lukoil-Aufsichtsrat hatte sich Anfang März für die „schnellstmögliche Beendigung des mit Waffengewalt ausgetragenen Konfliktes in der Ukraine“ ausgesprochen.
Hier ist ein Vergleich angebracht: In der Türkei gibt es rund zehnmal so viele politische Gefangene wie in Russland; Folter ist in den türkischen Gefängnissen seit Jahrzehnten weit verbreitet. Damit sollen in keiner Weise die Verhältnisse in Russland relativiert, jedoch auf den fast immer einseitigen Blick westlicher Öffentlichkeit in Sachen politische Gefangene und Repression verwiesen werden.
Unter den vorherrschenden Bedingungen sind alle Behauptungen, der Ukraine-Krieg werde von einer großen Mehrheit in der russischen Bevölkerung unterstützt, mit Vorsicht zu betrachten. In einem Klima der Angst sind Meinungsumfragen nicht aussagekräftig. Tatsachen sind: In den ersten Tagen nach Beginn des Kriegs wurde eine Erklärung, in der der Krieg abgelehnt wird, von mehr als einer Million Menschen unterzeichnet. Das erforderte damals bereits enormen Mut und war ein beeindruckendes Signal. Klar ist auch, dass rund 90 Prozent der kulturellen Elite den Krieg ablehnen – durch Dutzende Auftritte und Erklärungen und vielfache Flucht ins Ausland dokumentiert. Sobald sich irgendeine Lockerung der Repression zeigt beziehungsweise im Fall, dass sich die militärische Lage vor Ort zu Ungunsten der russischen Armee ändert, werden die Stimmen des Protestes wieder laut. Das war Anfang September der Fall, als direkt nach dem Rückzug der russischen Armee aus Teilen der eroberten Gebiete in der Ostukraine, 20 Regionalabgeordnete, davon 13 aus Sankt Petersburg, eine Petition unterschrieben hatten, in der der Rücktritt von Waldimir Putin als Präsident gefordert wurde, dessen Handlungen „der Zukunft Russlands und seinen Bürgern Schaden zufügen“ würden. Es soll zu diesem Zeitpunkt bereits eine Reihe vergleichbarer Initiativen in Russland gegeben haben.9
Eine Zeitenwende gibt es auch in der Ukraine. Seit Kriegsbeginn wurden so gut wie alle oppositionellen Parteien und Organisationen verboten, jedenfalls linke und solche, die als russlandfreundlich bezeichnet werden. Streiks sind verboten. Die Länge des gesetzlich zulässigen Arbeitstags wurde von 40 auf 60 Stunden erhöht. Generell wurden durch Gesetzesänderungen und mit einem neuen Arbeitsgesetz die Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital nach einem extrem neoliberalen und offen gewerkschaftsfeindlichen Modell verändert, wobei die Planungen für diese Rechtswende bereits vor dem Krieg begonnen hatten und der Krieg nun zu deren Umsetzung genutzt wird.10
Jegliche russische Literatur wird mit Beschluss vom Juni aus allen ukrainischen Schulbüchern eliminiert. Die rechtsextremen und faschistischen Elemente in der ukrainischen Armee wurden in diesem Klima verstärkt – auch durch die Rekrutierung Tausender Freiwilliger aus Westeuropa, von denen viele eine rechtsextreme Grundhaltung haben.
Eine Zeitenwende gibt es des Weiteren auf dem Gebiet von Flucht und Vertreibung. Laut Statistik des UN-Flüchtlingswerks gibt es Anfang September 2022 zwölf Millionen ukrainische Flüchtlinge, davon vier Millionen Binnenflüchtlinge. Das größte Kontingent stellen dabei diejenigen, die nach Russland flüchteten oder sich dort aufhalten (2,4 Millionen), gefolgt von Polen (1,3 Millionen) und schließlich Deutschland (eine Million). Mindestens ein Fünftel, nach vorliegenden Zahlen sogar ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung, sind zu diesem Zeitpunkt Geflüchtete. Aus Syrien sind – gemessen an der gesamten Bevölkerung – eine vergleichbar große Zahl Menschen geflüchtet. Mit zwei Unterschieden: Dort erstreckte sich der Exodus auf rund ein Jahrzehnt, im Fall der Ukraine kam es zu einem solchen binnen weniger Monate. Vor allem jedoch kommt es nun zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Geflüchteten. Ukrainische Flüchtlinge werden als Flüchtlinge erster Klasse eingestuft; Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern sind Teil des großen Heeres der „normalen“ Flüchtlinge. Und während die EU seit zwei Jahrzehnten unfähig ist, zu einheitlichen Regeln hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen zu gelangen, gibt es seit Frühjahr 2022 eine solche Einheitlichkeit gegenüber den aus der Ukraine Geflüchteten: „Die Europäische Union hat sich auf ein vereinfachtes Verfahren zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine verständigt. Damit müssen ukrainische Staatsangehörige, die seit dem 24. Februar 2022 als Folge der militärischen Invasion durch Russland aus der Ukraine vertrieben worden sind, kein Asylverfahren durchlaufen. Sie können stattdessen einen Antrag auf vorübergehenden Schutz bei der zuständigen Ausländerbehörde im Aufenthaltsort stellen, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.“11
Der Krieg in der Ukraine stellt für die EU einen tiefen Einschnitt, möglicherweise ebenfalls eine Zeitenwende dar. Bisher handelte die EU im Ukraine-Krieg nach außen einigermaßen einheitlich. Lediglich das eher kleine EU-Mitgliedsland Ungarn lehnt die Sanktionen gegen Russland ab. Die Wahl zum französischen Parlament im vergangenen Mai können als Wetterleuchten interpretiert werden. Die beiden stärksten parlamentarischen Lager, dasjenige des Rassemblement National von Marine Le Pen und dasjenige von La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon, lehnen Waffenlieferungen in die Ukraine ab. Emmanuel Macron könnte hier in Bälde im Parlament eine Blockade erleben. Die Wahlen in Italien am 25. September wiederum mit dem Sieg des rechten Lagers bedeuten eine Zerreißprobe für die EU (siehe Seite XX). Die EU-Einheitsfront in Sachen Ukraine-Krieg wird damit weiter aufgeweicht. Die absehbare Wirtschaftskrise (siehe unten These VIII) wird verschärft, weil das drittgrößte EU-Land von dieser in besonderem Maße betroffen sein wird und weil die hohe Schuldenquote Italiens Basis einer Spekulationskrise werden kann. Damit zeichnet sich eine neue EU-Krise und eine Krise der Einheitswährung Euro ab.
Eine Zeitenwende erleben wir derzeit auch in Sachen Krieg als Mittel der Politik. Mit dem Ukraine-Krieg verstärkt sich die allgemeine Kriegsgefahr; es entwickeln sich kriegerische Konflikte im Windschatten des Ukraine-Kriegs, begünstigt durch die Aufwertung von allem Militärischen und mit der allgemeinen Stärkung der militärisch-industriellen Komplexe. Ein solcher neu angefachter Krisenherd ist derjenige um Taiwan. Die US-Regierung hat diesen Konflikt im August mit dem Besuch von Nancy Pelosi in Taipeh neu befeuert. Das US-Militär entsandte parallel zu Pelosis Auftritt auf Taiwan zunächst den Flugzeugträger USS Ronald Reagan. Erst als Peking scharf protestierte und eine „Schießzone“ in eben diesem Gebiet, in dem das US-Schiff kreuzen wollte, einrichtete, zog die US-Regierung den Flugzeugträger wieder zurück. Man kann davon ausgehen, dass das Pentagon aktuell nicht mit zwei Großkonflikten konfrontiert sein und sich auf den Ukraine-Krieg konzentrieren will.
Dennoch rückte damit der „eigentliche“ Gegner des US-Hegemon, die VR China, ins Zentrum.
In Europa zündelt die Türkei an drei Fronten: mit militärischen Interventionen im Nordirak, mit einem drohenden neuen Einmarsch in den kurdischen Teil von Syrien (Rojava) und vor allem mit der Drohung eines Krieges gegen Griechenland beziehungsweise einer Landung auf griechischen Inseln in der Ägäis. Dabei spielen die tiefe wirtschaftliche Krise in der Türkei und die im Juni 2023 anstehenden Wahlen eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden: Dem Ukraine-Krieg ging 2020 der Krieg Aserbeidschans gegen Armenien voraus. Dabei wurde Aserbeidschan von der Türkei mit modernen Waffen unterstützt. Die Regierung in Ankara weigert sich bis heute, den Völkermord an den Armeniern 1915/16 anzuerkennen. Die große Mehrheit in Armenien sieht die Konstellation im Krieg Aserbeidschan-Armenien 2020 im Zusammenhang mit dem Genozid, der vor mehr als einem Jahrhundert rund einer Million Armenierinnen und Armeniern das Leben kostete. Die Staatengemeinschaft hatte damals den Völkermord kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn etwas dagegen unternommen; deutsche Offiziere und Diplomaten waren damals in der Türkei präsent und unterstützten das Land militärisch. 2020 gab es seitens der EU und der übrigen westlichen Staatengemeinschaft erneut keine relevante Intervention, um den Krieg Aserbeidschans in Berg-Karabach einzudämmen und zu beenden. Am Ende trat Russland als Vermittler bei einem Waffenstillstand auf – wobei Putins Engagement für Armenien ein deutlich eingeschränktes war. In Armenien hatte es 2018 eine breite demokratische Bewegung gegeben, in deren Zusammenhang Nikol Paschinjan Premierminister wurde – er wurde bislang in drei Wahlen im Amt bestätigt, zuletzt auch nach dem verlorenen Krieg gegen Aserbeidschan. Seither sind die Beziehungen zur Russischen Föderation eingetrübt.
Eine weitere Ebene dieser Zeitenwende betrifft die neue weltweite Hochrüstung. Der Ukraine-Krieg führte dazu, dass weltweit die Rüstungsausgaben 2022 und in den Folgejahren massiv gesteigert werden. Das von der Nato, der EU und den US-Regierungen seit geraumer Zeit proklamierte Ziel, die westlichen Staaten müssten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aufwenden, bedurfte erst dieses Krieges, um Realität zu werden. Vor allem in Polen explodieren seit Kriegsbeginn die Rüstungsausgaben. Warschau hat seit Kriegsbeginn den Kauf von 1000 Kampfpanzern, 600 Panzerhaubitzen und 48 Kampfflugzeugen in die Wege geleitet. Das Land wird in Bälde mehr Panzer und Haubitzen besitzen als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Von den Großeinkäufen profitiert vor allem die US-Rüstungsindustrie.
Das erklärte Ziel des russischen Präsidenten, mit der Invasion in die Ukraine die Nato zurückzudrängen und die Einkreisung Russlands durch die Nato aufzusprengen, wird komplett verfehlt. Finnland und Schweden, die sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer dauerhaften Neutralität verpflichtet und diese selbst in den härtesten Zeiten des Kalten Kriegs auch praktiziert hatten, schlossen sich jetzt der Nato an. Ein Beitritt der Ukraine zur Nato ist nach diesem Krieg weiter vorstellbar.
Die Hochrüstung in Deutschland ist in Quantität und hinsichtlich der Qualität exemplarisch. Beschlossen wurde der bekannte 100-Milliarden-Euro-Fonds für zusätzliche Rüstungsausgaben – unter Umgehung der in allen anderen Fällen als sakrosankt ausgegebenen „Schuldenbremse“. Darüber hinaus sollen ab dem Jahr 2023 die deutschen Rüstungsausgaben das Zwei-Prozent-Gebot erfüllen. Sie müssten damit um knapp 50 Prozent gesteigert werden. Teilweise kommt die absehbare Wirtschaftskrise dieser Zielsetzung kurzfristig entgegen.12 Die deutlich steigenden Rüstungsausgaben werden mittelfristig zu einer erheblichen Stärkung des spezifischen gesamtgesellschaftlichen Gewichts der militärisch-industriellen Komplexe in allen relevanten Ländern, Russland natürlich eingeschlossen, führen.
Die Tatsache, dass der Rüstungskonzern Rheinmetall in Bälde in den Aktien-Leitindex Dax aufrücken soll, unterstreicht diese Entwicklung. Eine qualitative Veränderung zeichnet sich im Denken von Millionen Menschen ab. In der bundesdeutschen Bevölkerung ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs die Ablehnung von Kriegen und von Auslandseinsätzen deutlich rückläufig; das Militärische als Teil einer vermeintlichen nationalen Kultur ist im Vormarsch begriffen. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht weiß dies kühl zu nutzen. Sie stellte Mitte September in einer von ihr selbst so bezeichneten Grundsatzrede fest, der Zweite Weltkrieg sei „seit nahezu 80 Jahren vorbei“; die Lage habe sich „völlig verändert“. Deutschland nehme jetzt „eine Führungsrolle in Europa ein, auch militärisch – auch wenn es das gar nicht will.“
Schließlich und endlich erleben wir eine Zeitenwende in der Klimapolitik. Bis zum Beginn des Ukraine-Krieg galt überall in der Weltpolitik die politische Grundaussage: Wir müssen und wir werden die CO2-Emissionen schnell und drastisch senken. Es gelte, die Klimaziele, wie sie unter anderem im Pariser Abkommen vereinbart wurden, umzusetzen.
Seit dem 24. Februar 2022 findet das Gegenteil statt. Die seither praktizierte Militär-, Wirtschafts- und Energiepolitik läuft auf drastisch steigende Kohlendioxid-Emissionen hinaus. Das trifft zunächst auf die Rüstungsausgaben und den Krieg selbst zu – das Militär ist weltweit der mit Abstand größte institutionelle Emittent von klimaschädigenden Gasen. Das wird dadurch fortgesetzt, dass selbst in Deutschland die Kohlekraftwerke – solche auf Steinkohle- und solche auf Braunkohle-Basis – eine neue Renaissance erleben. Sodann heißt es seit März 2022, dass Flüssiggas eine Alternative zum russischen Gas darstellen würde.
Tatsache ist, dass die Verflüssigung von Gas zu Light Natural Gas (LNG) und der Transport von LNG einschließlich des Baus der dafür notwendigen Infrastruktur sehr energieintensiv und deutlich klimaschädlicher sind als die Kohlenutzung. Das findet eine weitere Steigerung in den neuen Optionen für Fracking-Gas, das aus den USA und Australien importiert werden soll – und das möglicherweise nun auch in Europa, Deutschland dabei eingeschlossen, gefördert werden soll. Fracking-Gas ist mit nochmals mehr CO2-Emissionen verbunden als herkömmlich gefördertes Gas, das in Flüssiggas herabgekühlt wird.
Im Übrigen, so die Befürchtungen von Umweltverbänden, geht der von der Bundesregierung geplante Bau von zwölf Flüssiggas-Terminals weit über den Bedarf hinaus und gefährdet die deutschen Klimaziele. In diesem Sinn erklärte der Greenpeace-Sprecher Manfred Santen am 12. Juli: „Die Sorge vor einem russischen Lieferstopp darf nicht das Einfallstor für die nächste fossile Abhängigkeit sein. Statt weitere klimaschädliche Strukturen zu schaffen, muss jetzt konsequent Gas eingespart, der Einbau von Wärmepumpen gefördert und Gebäude gedämmt werden und eine neue Industriestandortpolitik im Fokus stehen.”
VIII.
Die neue soziale Krise und die drohende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise
Teil der Zeitenwende ist die kommende soziale Krise, die mit einer neuen Wirtschaftskrise verbunden ist.
Ab Herbst und dann vor allem im Winter 2022/23 wird es europaweit zu massiven sozialen Verwerfungen kommen. Die Inflationsrate, die in vielen EU-Staaten bereits im August zweistellig war, dürfte auch in Deutschland bis Anfang 2023 zweistellig sein. Den erheblichen Anstieg der Geldentwertung gab es bereits Anfang 2022, also vor dem Ukraine-Krieg.
Die Notenbanken – allen voran die Fed in den USA – begannen damals bereits, die Leitzinsen deutlich zu erhöhen, was erstmals seit zwei Jahrzehnten Kredite verteuert und die Finanzmärkte belastete. Mit dem Krieg kam es zu dem bekannten Anstieg der Energiepreise. Bereits im Juni rechnete der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft vor, dass ein Vier-Personen-Haushalt einschließlich Strom im laufenden Jahr „bis zu 5000 Euro mehr für Energie“ werde zahlen müssen. Selbst wenn man unterstellt, diese Zahl sei zu hoch gegriffen, und selbst wenn man die Auswirkungen der diversen Entlastungspakete gegenrechnet, die die Bundesregierung ausreicht, so kommt es doch für einen Vier-Personen-Haushalt zu einer monatlichen Mehrbelastung von mindestens 350 Euro.
Die nominellen Lohnsteigerungen und die Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV, demnächst als Bürgergeld neu etikettiert, um bescheidene rund 50 Euro im Monat, machen Inflation und Energiepreissteigerungen in keiner Weise wett. In der Summe heißt dies: Bereits 2022 kommt es bei der durchschnittlichen Bevölkerung zu einem deutlichen Reallohnabbau. Einen weiteren dürfte es 2023 geben. Einen damit zu erwartenden Rückgang der realen Einkommen um rund zehn Prozent binnen zweier Jahre gab es noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte. In den wirtschaftlich schwächeren europäischen Ländern könnten die Einschnitte deutlich härter ausfallen. Und überall werden sich die Heere der Obdachlosen und Verarmten vergrößern.
Diese Entwicklung paart sich mit der sich abzeichnenden kommenden Wirtschaftskrise, die sich auch zu einer neuen weltweiten Krise auswachsen könnte. Bereits im Sommer kam es zu ersten spektakulären Pleiten (Hakle) und zu Produktionseinstellungen (Arcelor-Mittal). Lieferketten-Probleme und neue Lockdowns in China werden die Krisentendenzen befördern.
All das sei ein Resultat des Ukraine-Kriegs, so die Erklärungen in den Leitmedien. Dass das grundfalsch ist, dass wir vor einer bewusst in Kauf genommenen neuen Wirtschaftskrise stehen, konnte man der Frankfurter Allgemeinen entnehmen. Dort war zu lesen: „Dass die deutsche Wirtschaft jetzt in die Rezession abgleitet, ist nicht die primäre Schuld Putins. Unsere Regierung hat verkündet, ab August dieses Jahres keine Kohle aus Russland importieren zu wollen, unsere Regierung stoppt den Bezug von Rohöl aus Russland am Ende dieses Jahres, unsere Regierung will bis Ende des Jahres 2023 von russischen Gaslieferungen unabhängig sein. Und der Minister, der kluge Bücher schreibt, hing dem Kinderglauben an, Putin werde Gas in der vertraglich zugesicherten Menge so lange liefern, bis Deutschland entsprechende Ersatzlieferungen bekommt. So naiv kann man doch eigentlich gar nicht sein.“
Angemerkt sei, dass man diese Wahrheiten nur in einem Anfang September in der FAZ wiedergegebenen Leserbrief lesen konnte.13
IX.
Es geht nicht um „Autokratie versus Demokratie“. Oder: Zynismus und Krieg
Die Zeitenwende, so die Regierenden, sei ein Resultat des Ukraine-Kriegs, der wiederum einen Kampf zwischen Demokratie und westlicher Zivilisation einerseits und Autokratie und russischem Despotismus andererseits darstelle. Diese Aussage ist unglaubwürdig. Die Darstellerinnen und Darsteller in Brüssel und Berlin selbst sind zynisch – und geben offen zu erkennen, dass ihnen demokratische Werte in ihrem Engagement nichts bedeuten.
Über die Autokratie, die die Regierung in Moskau repräsentiert, soll hier nicht mehr ausführlicher berichtet werden. Dazu wurden oben in These VII einige Fakten genannt. Und wenn die Moral bei den russischen Truppen, die in der Ukraine stehen, eine miserable ist, so ist dies verständlich und begrüßenswert. Es ist, wie in fast allen Kriegen seit Hunderten Jahren: In den Krieg geschickt werden vor allem arme Schlucker aus verarmten Gegenden, im Ukraine-Krieg aus den Regionen Dagestan und Burjatien, in denen das Prokopfeinkommen besonders niedrig und die Verlockung, ein paar Tausend Euro Entgelt mit Söldnerdiensten zu verdienen, besonders groß ist. Mit Stand Anfang September 2022 gab es unter den Zehntausenden russischen Soldaten, die in diesem Krieg bisher den Tod fanden, nur 15 Gefallene aus Moskau und 46 Gefallene aus Sankt Petersburg. Damit gilt: „Je reicher die Region, desto weniger Soldaten stellt sie.“14
Das russische Militär muss aus den besetzten Gebieten abziehen – je früher, desto besser. Dass jedoch „unsere“ Seite in der Ukraine in erster Linie westliche Werte und die Demokratie verteidigen würde, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Wie bereits ausgeführt, treffen die Sanktionen nicht in erster Linie Putin und die Oligarchen. Sie treffen die Bevölkerungen in Russland und im übrigen Europa. Dass es andere Formen von Sanktionen, die tatsächlich das Oligarchen-Regime treffen würden, gibt, wurde bereits ausgeführt. Doch es geht nicht in erster Linie um einen Krieg gegen diejenigen, die in Russland reich und mächtig sind.
Objektiv findet in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und ihren „transatlantischen Partnern“ in Europa auf der einen Seite und Russland und dessen Partner in Peking und Minsk auf der anderen Seite statt. Dass das so ist, wird auch in einem großen Teil der weltweiten Staatengemeinschaft so gesehen. Nicht ein einziges Land aus dem globalen Süden hat sich dem Sanktionsregime von Washington und Brüssel angeschlossen.
Nicht nur die russische, auch die ukrainische Gesellschaft verändert sich mit dem Krieg negativ: Längst findet dort, wie bereits skizziert, ein Abbau sozialer und demokratischer Rechte statt. Es kommt zu einer Stärkung von Nationalismus und antirussischem Chauvinismus. Während Präsident Selenskyj sich in den ersten drei Tagen nach Kriegsbeginn noch direkt – und teilweise in russischer Sprache – an die russischen Soldaten wandte, und diese als Menschen einer befreundeten Nation ansprach und dafür warb, zu desertieren, sind seine Reden seit März in wachsendem Maß ukrainisch-nationalistisch geprägt. Russen werden von ukrainischen Militärs als „Orks“, als „Raschisten“, als aus dem „Reich des Bösen“ („Mordor“) stammend, bezeichnet – wobei auch die westlichen Medien betonen, dass dies „bereits vor Bekanntwerden der Gräueltaten in den Vororten der Hauptstadt“ üblich war. Was, ohne Zweifel, eine Reaktion auf die abstruse und ebenfalls rassistische Kreml-Propaganda ist, die ganze Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden.
Die Auftritte von Wolodimir Selenskyj im olivfarbenen T-Shirt wurden im August nochmals dadurch getoppt, dass er am Tag der Wyschywanka (der landestypischen traditionellen Tracht, einer Bluse oder eines Hemdes mit Stickereien und Motiven aus dem agrarischen Leben) ein Hemd trug, auf der, als Stickerei, schweres Kriegsgerät dargestellt wurde. Das „nation building“, das mit dem Krieg in der Ukraine stattfindet, ist ein durch und durch antirussisches, womit zugleich große Teile der Bevölkerung des Landes ausgegrenzt werden.
Der Appell der Politik-Verantwortlichen in Washington, Brüssel und Berlin, diesen Krieg so lange fortzuführen, bis Russland von allen Gebieten in der Ukraine, auch von der Krim, vertrieben sei, läuft auf die Forderung hinaus, den Krieg „bis zum letzten ukrainischen Mann“ zu führen, in der Ukraine einen Trümmerhaufen zu hinterlassen, einen atomaren Krieg oder eine nukleare Katastrophe zu riskieren und am Ende der ukrainischen Bevölkerung und nicht zuletzt der Bevölkerung im übrigen Europa die Kosten für einen Wiederaufbau des Landes in Höhe von mehr als einer Billion Euro aufzubürden.
Der Zynismus der im Westen Regierenden ist dabei nahezu grenzenlos. Energieimporte aus Russland gelten als unmoralisch, doch um Energieimporte aus dem Nahen und Mittleren Osten wird gebettelt, also aus Regionen, in denen Frauen nicht einmal einen Pkw steuern dürfen, geschweige denn, dass es ein Wahlrecht geben würde. Genauer: Es handelt sich um Staaten, die bilderbuch-charakteristisch für Autokratie, für die Abwesenheit demokratischer Rechte und vor allem für eine strukturell organisierte Frauenverachtung sind.
Aktuell erklärt die deutsche Außenministerin, sie wolle „die Grundlagen einer feministischen Außenpolitik als Querschnittsaufgabe im Auswärtigen Amt verankern“.
Selbst in Katar, wo in wenigen Wochen die Fußballweltmeisterschaft – klimagerecht, versteht sich! – stattfinden wird, heißt es im ersten Artikel der „Ständigen Verfassung“: „Katar ist ein unabhängiger souveräner arabischer Staat. Die Menschen in Katar sind Teil der arabischen Nation. Seine Religion ist der Islam. Das Scharia-Gesetz ist die Hauptquelle seiner Gesetzgebung.“ Im mächtigsten Land im Nahen Osten, zugleich der wichtigste Partner im Fall deutscher Rüstungsexporte, in Saudi Arabien, wird die Scharia mit aller Strenge angewandt; Ehebruch und Homosexualität können (und werden oft) mit der Todesstrafe geahndet. Berichte, die dies bestätigen, gibt es bei der amtlichen „Deutschen Welle“. Im Windschatten des Ukraine-Kriegs wurden in Saudi Arabien allein an einem einzigen Tag im März 2022 81 Menschen hingerichtet.15
Die offenen Bekenntnisse zum Militärischen und zur Notwendigkeit von Waffenlieferungen muten besonders bizarr an, wenn sie aus den Mündern von Kriegsdienstverweigerern wie dem des Bundeskanzlers Olaf Scholz, dem des Wirtschaftsministers Robert Habeck oder dem des SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil kommen. Alle drei verweigerten den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen. Keiner von ihnen tat kund, das sei ein Fehler, eine Jugendsünde oder Ähnliches, gewesen; sie seien heute davon überzeugt, dass „die Freiheit“ und die „Werte der westlichen, wertebasierten Gesellschaft“ mit Waffengewalt zu verteidigen seien.
Wobei noch darauf zu verweisen ist, dass es in der Ukraine ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht gibt, dass die Zahl derjenigen, die den Kriegsdienst verweigern oder desertieren, mit Kriegsbeginn deutlich gestiegen ist und dass mit Stand Juli in der Ukraine mindestens zwei Männer wegen Kriegsdienstverweigerung zu drei beziehungsweise zu vier Jahre Haft auf Bewährung verurteilt wurden.
Die beschriebene Konstellation – deutsche Politiker, die den Kriegsdienst verweigerten, fordern Waffenlieferungen und verstärkten militärischen Einsatz in der Ukraine – kann eigentlich nur noch durch das Pro-Kriegs-Commitment eines hochrangigen deutschen Politikers, der ein echter Deserteur war, gesteigert werden. Auch das wird im Berliner Politbetrieb geboten. Als im Juli der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer deutlich von der CDU-Linie abwich und forderte, der Krieg in der Ukraine müsse „eingefroren“ werden, wurde er vom Generalsekretär der CDU, Mario Czaja, zugleich der engste Mitarbeiter des CDU-Parteichefs Friedrich Merz, zusammengestaucht. Czaja entzog sich dem Bundeswehrdienst; er leistete Zivildienst. 1997 wurde er wegen zweimaliger „Fahnenflucht“ zu einer Geldstrafe verurteilt.16
Die Demokratie-Verachtung, die die Politik der Bundesregierung bei ihrem Engagement für die Regierung in Kiew und insbesondere für Waffenlieferungen prägt, wurde von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock auf den Punkt gebracht.
Ende August äußerte sie sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Prag, veranstaltet vom Think tank 2000, gegenüber dem ukrainischen Außenminister wie folgt: „Wir stehen solange an eurer Seite, wie ihr uns braucht; dann will ich auch liefern, egal was meine Wähler denken.“17
Der hier wiedergegebene Artikel hält sich weitgehend an ein Referat, das Winfried Wolf auf einem Seminar am 23. August 2022 in der Villa Palagione (Italien, nahe Volterra) hielt.
Anmerkungen:
1 Bei der deutschen Ausgabe von Wikipedia heißt es dazu: „Der Kosovokrieg […] war ein bewaffneter Konflikt in den Jugoslawienkriegen um die Kontrolle des Kosovo vom 28. Februar 1998 bis zum 10. Juni 1999.“ Ähnlich bei den entsprechenden französischen, englischen und italienischen Einträgen bei Wikipedia. Damit wird bewusst verschleiert, dass es die NATO war, die 13 Monate nach dem behaupteten Kriegsbeginn, am 24. März 1999, den Krieg vom Zaun brach. Da man die Lüge, der Krieg hätte bereits am 28. Februar 1998 begonnen, der Bevölkerung desjenigen Landes, das von dem Angriffskrieg der Nato direkt betroffen war, nicht ernsthaft unterbreiten kann, gibt es bei der serbischen Wikipedia-Variante diese Konzession; die Wahrheit kann nur in kyrillischer Schrift zur Kenntnis genommen werden. Ähnlich auch bei der russischen Wikipedia-Fassung.
2 Serbien hatte 1998 noch eine Bevölkerung von 7,57 Millionen Menschen. 2022 sind es noch 6,8 Millionen oder 600.000 weniger.
3 Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Behörde handelt es sich um vier Blöcke in Chmelnyzkji, um weitere vier Blöcke in Riwne, um sechs Blöcke in Saporischschja und um drei Blöcke in der Südukraine. Von den vier Blöcken in Tschernobyl sind drei stillgelegt und einer zerstört. Allerdings befand sich in Tschernobyl zum Zeitpunkt, als die russische Armee im Februar das AKW besetzt hatte, dort ein Block in Betrieb. Er wird allerdings meist als „nicht in Betrieb“ ausgegeben.
4 Aus einem Bericht des „Spiegel“ vom 12. Mai 2002: „Es könne nicht sein, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in Berlin fröhlich empfangen, Bush hingegen wie ein Feind behandelt werde, ließ der Minister [Joschka Fischer; W.W.] Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) wissen. Auch den Berliner Landesverband der Grünen mahnte der Spitzenkandidat der Partei für die Bundestagswahl zur Zurückhaltung beim Besuch des Präsidenten. Im Bundestag forderte die grüne Fraktionsspitze ihre Abgeordneten zum geschlossenen Erscheinen auf, wenn Bush, wie bislang geplant, am 23. Mai im Bundestag reden werde.“
5 Die SPD hatte 2,4 Prozentpunkte verloren; die Grünen 1,9 Prozentpunkte hinzugewonnen. Die PDS verlor 1,1 Prozentpunkte und landete mit 4 Prozent unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Da sie nur zwei Direktmandate erobern konnte, war sie in der neuen Legislaturperiode auch nur mit zwei (tapferen) PDS-MdBs im Bundestag vertreten.
6 Die Europäische Union kam 2020 auf ein addiertes Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 15,17 Billionen US-Dollar. Das russische BIP machte 10,9 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus. 2013 waren es noch 12,7 Prozent. Angaben nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Februar 2022.
7 Der Text von Thomas Picketty „Sanktioniert die Oligarchen, nicht das Volk!“, erschien wenige Tage vor Beginn des Kriegs, am 16. Februar 2022, in der Zeitschrift der Rosa-Luxemburg-Stiftung Luxemburg.
8 Anfang 2022 gab es in Russland nach offiziellen Zahlen 466.000 Gefangene; rund die Hälfte der Zahl aus dem Jahr 2000. Bezogen auf 100.000 Menschen sind dies 328, was fünfmal mehr sind als in Deutschland, aber halb so viele wie in den USA (629 auf 100.000 Menschen).
9 Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. September 2022. Zitiert werden vergleichbare Vorgänge, so eine Resolution von fünf Petersburger Verordneten aus dem Smolni-Bezirk und eine solche von Verordneten des Moskauer Lomonossow-Bezirks. Letztere forderten Putins Rücktritt mit der Begründung, in Ländern, in denen die Staatsführung häufiger wechsle „leben die Menschen im Durchschnitt länger als in denen, deren Führer den Posten nur mit den Füßen zuerst verlässt.“ Die „Rhetorik Putins und seiner Untergebenen“ habe das Land „faktisch in die Epoche des Kalten Krieges zurückgeworfen“, Russland werde „wieder gefürchtet und gehasst; wir bedrohen wieder die ganze Welt mit Atomwaffen.“
10 Das wird in einem detaillierten Beitrag von Reinhard Lauternach in der Jungen Welt vom 30. August 2022 wie folgt zusammengefasst: „Das Vorbild ist die Deregulierungswelle, die nach dem Pinochet-Putsch von 1973 über die chilenischen Beschäftigten hereinbrach und ihre sozialen Errungenschaften um Jahrzehnte zurückwarf. Dass Augusto Pinochet ihr politisches Vorbild darstellt, sprechen Politiker der ukrainischen Regierungspartei Diener des Volkes immer wieder offen aus. Mit dem laufenden Krieg hat die neue Arbeitsgesetzgebung der Ukraine dagegen wenig zu tun (…) Die Gesetzentwürfe (mit den neuen Bestimmungen zur Arbeitsgesetzgebung; W.W.) wurden von der Regierungspartei bereits im Frühjahr 2021 ins Parlament eingebracht.“
11 Zitiert nach der Verbraucherzentrale; siehe: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/vertraege-reklamation/kundenrechte/neu-in-deutschland-was-fluechtlinge-aus-der-ukraine-beachten-sollten-71305
12 Die zwei Prozent beziehen sich auf das Bruttoinlandsprodukt. Sinkt dieses, so erhöht sich automatisch der Anteil der Rüstung am BIP, auch wenn die Rüstungsausgaben in absoluter Höhe gleich bleiben sollten. Wobei es sich dann allerdings nur um einen kurzfristigen Effekt handeln würde.
13 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. September 2022. Verfasser des Leserbriefs war ein Dr. Dietrich Hölzle in München.
14 Friedrich Schmidt, Zu wenige wollen für Putin kämpfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. September 2022.
15 Deutsche Welle; Berichte vom 3. März 2010 und vom 10. September 2022. Bericht zu den Hinrichtungen in Saudi Arabien nach ARD-Tagesschau vom 12. März 2022. Zitat von Annalena Baerbock nach: FAZ vom 13. September 2022.
16 1997 wurde Mario Czaja, der seit Januar 2022 Generalsekretär der CDU ist, wegen „Fahnenflucht“ zu einer Geldstrafe von 2.000 DM verurteilt. Er hatte der Einberufung zur Bundesswehr zwei Mal nicht Folge geleistet. Eine zunächst geforderte Gefängnisstrafe auf Bewährung wurde abgemildert, da Czaja „kein typischer Fahnenflüchtiger“ sei.
17 In deutschen Medien und seitens des Außenministeriums wurde wiederholt behauptet, eine Reduktion von Baerbock-Äußerung auf den Halbsatz „… egal was meine Wähler denken“ sei „eine aus dem Zusammenhang gerissene Darstellung“; es seien gar „prorussische Kanäle“, die das „so gestreut haben“ (Süddeutsche Zeitung vom 3.9.). Das entspricht nicht der Wahrheit. Insbesondere wenn man die Rede als Ganzes liest und diesen Halbsatz in den entsprechenden Zusammenhang stellt, wird deutlich: Gemeint war und ist exakt dieses: Gleichgültig, welcher Meinung die Wählerinnen und Wähler sind, Frau Baerbock beziehungsweise die deutsche Politik wollen „liefern“; sie wollen jede Art militärische Unterstützung für die Ukraine solange fortsetzen, wie die Regierung in Kiew und der ukrainische Außenminister (an den sich Frau Baerbock mit ihrer Rede wandte; er saß direkt neben ihr auf dem Podium) dies wünschen. Richtig ist, dass die Rede nicht für eine deutsche Öffentlichkeit bestimmt war und dass seit dem Zeitpunkt, als diese Rede in Deutschland publik wurde, hierzulande die eine und andere Nebelbank hochgezogen wird, um diese ehrlichen Worte zu verschleiern. Wortlaut der Rede in deutscher Übersetzung: https://www.heise.de/tp/features/egal-was-meine-deutschen-Waehler-denken-7251576.html
Und in Englisch auf Youtube, hier wiedergegeben beim unverdächtigen staatlichen Sender Phönix, dort ab Sekunde 35ff: https://www.youtube.com/watch?v=RszYDykGW_k