Gleichstellung im Krieg

Stimmen zur Lage der Frauen in der Ukraine

„Zum ersten Mal führen wir den Ukrainischen Frauenkongress unter Kriegsbedingungen durch.“ Mit diesen Worten begrüßte eine der Initiatorinnen am 30. Juni 2022 die Teilnehmerinnen, die in großer Zahl online und die wenigen, die in einem kleinen Saal in Kiew anwesend waren.

Es war der sechste Ukrainische Frauenkongress, der seit 2017 jährlich mit Hunderten von Teilnehmerinnen stattfindet und es ging um die Rolle von Frauen im Krieg und nach „dem Sieg der Ukraine“, wie es in der Ankündigung hieß.*

Manal Fouani, Interims-Repräsentantin des UN-Entwicklungsprogramms in der Ukraine, forderte, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen müssten im Mittelpunkt aller Wiederaufbaupläne stehen. Es müsse sichergestellt werden, dass Frauen die gleichen Chancen bekommen. Denn Frauen müssen bei der Wiedererrichtung des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges eine wichtige Rolle spielen, sei es in Gemeinden, in denen die vorausgegangenen Feindseligkeiten ihre Spuren hinterlassen haben und die politische Auseinandersetzung belasten; sei es angesichts neuer wirtschaftlicher Herausforderungen wie bei der ordnungsgemässen Verlagerung von Unternehmen in sichere Regionen der Ukraine; sei es in Führungspositionen in Bewegungen, die sich am Wiederaufbau beteiligen oder Hilfsleistungen für Flüchtlinge und Rückkehrende organisieren.

Unter den Bedingungen des Krieges tragen die im Land verbliebenen Frauen eine große Last: Versorgung der Kinder, der Familienmitglieder wie der Menschen aus der unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft. Und sie stützen die ukrainische Wirtschaft, indem sie nach neuen Verdienstmöglichkeiten suchen oder unternehmerische Initiativen entwickeln, die Arbeitsplätze schaffen, womit sie die Infrastrukturen stabilisieren und zum Friedensprozess beitragen.

Unmissverständlich riefen die Kongressteilnehmerinnen die militärischen und zivilgesellschaftlichen Führungen auf, die Uno-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ umzusetzen.

Lage der Frauen in der Ukraine vor 2022

Um einen Eindruck zu gewinnen, wie es außerhalb des Kongresses für Frauen in der Ukraine zugeht, fragten wir Margret Kiener Nellen. Sie ist Anwältin und leitete für die Parlamentarische Versammlung der OSZE eine Menschenrechtsmission in die Ostukraine. Aktuell ist sie im Vorstand des Basler Friedensbüros und begleitet als Vorstandsmitglied der FriedensFrauen Weltweit ein Friedensprogramm in den Bezirken Charkow, Lugansk und Donezk.

LP21: Die Politologin Leandra Bias sagte kürzlich in einem Radiointerview, dass die Frauen in der Ukraine während der Maidan-Bewegung aktiv geworden seien und begonnen hätten, sich zu organisieren. War also 2014 der entscheidende Anstoß für Frauen, sich in zivilgesellschaftlichen Projekten und Organisationen zu engagieren? Wie steht es um die Gleichberechtigung der ukrainischen Frauen?

Margret Kiener Nellen: Wie ich aus meiner Zusammenarbeit mit ukrainischen Frauen erfahren habe, hat die Revolution von 2014 die gesamte ukrainische Gesellschaft wachgerüttelt. Viele zivilgesellschaftliche Bewegungen und Organisationen hätten sich gebildet, darunter auch Frauenorganisationen. Während der Maidan-Bewegung 2013/2014 hätten sich Frauen an den Protesten beteiligt. Leider sei die justizmäßige Aufarbeitung der Geschehnisse um Maidan noch nicht vollständig erfolgt. Jedoch sei vor der Maidan-Be-wegung und dem Krieg von 2014 um die Separatistengebiete im Osten der Ukraine die Beteiligung von Frauen in der Armee eher negativ bewertet worden. Frauen hätten vor allem in den Hilfsbereichen wie Küche, Sanitätsdienste oder als Verbindungsleute gearbeitet. Oft sei ihnen unterstellt worden, eine Frau wolle einfach in die Armee eintreten, um zu heiraten.

Zum Thema Gleichstellung ist zu sagen, dass die Verfassung „Gleiche Rechte für Frauen und Männer“ seit 2005 festgeschrieben hat und diese seit 2016 als Legislaturziel definiert worden ist. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern Frauen, die an der Front Kriegsdienste leisteten und zur Stärkung der Armee beigetragen haben, in ihrer Rolle sichtbar sind und Anerkennung finden. Vor diesem Hintergrund haben weibliche Kriegsdienstleistende 2015 die Kampagne Unsichtbares Bataillon initiiert. Sie wurde in der Gesellschaft anerkennend aufgenommen und hat zu einem signifikanten Wandel beigetragen, im Hinblick auf die Sichtbarkeit von Frauen, die an der Frontlinie des russisch-ukrainischen Krieges kämpften und kämpfen, wie auch für eine gleichstellende Gesetzgebung. Zudem hat die Kampagne sexuelle Gewalt und Belästigung von Frauen in der Armee thematisiert und kritisiert.

… und in den vergangenen Kriegsmonaten

LP21: Stimmt das Bild, dass Frauen im Krieg Opfer sind? Wir wissen, dass seit Beginn des Krieges 2014, insbesondere seit dem Februar 2022 viele Frauen mit ihren Kindern oder auch mit Familienangehörigen flohen. Heute wissen wir auch, dass viele geflüchtete Frauen zu ihren Männern und Familien zurückkehren, um sich am Verteidigungskampf zu beteiligen.

Margret Kiener Nellen: Bereits im Oktober 2021 gab es im Flughafen von Kiew eine Ausstellung mit Großplakaten der Nato, die für den Eintritt von Frauen in die Streitkräfte warben. Die meisten Plakate zeigten Fotos mit Frauen in Militäruniformen, auch uniformierte Frauen mit Kindern. Damals gehörten der ukrainischen Armee rund 29.000 Frauen an. Ukrainische Frauen auf bei-den Seiten der Frontlinien kritisierten, dass sie als geopolitische Spielbälle benutzt würden in einem Stellvertreterkrieg zwischen den USA, Großbritannien und der Nato einerseits und der Russischen Föderation andererseits. Ausgerechnet die fruchtbare „schwarze Erde“ in der Ostukraine diene als Testgelände für die modernsten Waffensysteme beider Seiten, daneben findet der Krieg in Schützengräben und als Häuserkampf statt wie vor hundert Jahren. Das Gebiet gehört nach Afghanistan und Syrien zu den höchstverminten der Welt. Friedensaktivistinnen müssen um ihre Sicherheit bangen.

Eine Teilnehmerin am Frauenfriedenstisch in Sloviansk (Bezirk Donezk) be-
richtete mir, dass sich die ukrainische Frauenbewegung nach der russischen Invasion im Februar unter dem Gebot der Selbstverteidigung sofort dem nationalen Abwehrkampf und dem Widerstand gegen den russischen Aggressor angeschlossen habe. Nach Schätzungen des ukrainischen Verteidigungsministeriums liege der Frauenanteil bei den ukrainischen Streitkräften bei fast 15 Prozent, was auf die Entwicklung seit 2014 und auf systematische Lobbyarbeit zurückzuführen sei. Jetzt, zu Zeiten des Krieges, stehen Frauen und Männer gleichermaßen im Fokus und erfüllen ihren Dienst in den ukrainischen Streitkräften.

Während der vergangenen Monate hätten sich ukrainische Frauenorganisationen vielfach in humanitäre Organisationen umgewandelt und sich der unmittelbarsten Probleme von Frauen und Flüchtlingen angenommen, die gezwungen sind, ihr Leben angesichts der tödlichen Gefahr zu ändern. Viele Frauen, die sich nicht der Armee anschließen wollen, engagieren sich in der Freiwilligenarbeit.

Ebenso zeige sich, dass in diesen Kriegszeiten die Arbeit von Führungspersönlichkeiten – oft sind es Frauen – in der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung sei. Angesichts der militärischen Bedrohung und manchmal auch unter Lebensgefahr halten starke Frauen stand und bleiben bei ihrer Gemeinde.

Frauen seien auf beiden Seiten der Frontlinien seit 2014 Opfer des Krieges. Sie sind häufig häuslicher Gewalt, Arbeitslosigkeit und der – manchmal mehrfachen – Vertreibung aus ihren Wohnorten ausgesetzt. Zudem erzeuge der Krieg Brüche im Leben von Frauen, etwa durch eine Traumatisierung der Kinder oder dem Verlust des Ehemannes.


Schritt voran

LP21: Schlagen sich die emanzipatorischen Initiativen denn auf politischer Ebene nieder?

Margret Kiener Nellen: Immerhin hat das ukrainische Parlament während des Krieges die Istanbul-Konvention ratifiziert; und zwar auf Druck der Frauenorganisationen und nicht zuletzt auch auf Druck, westliche Normen zu übernehmen. Die Istanbul-Konvention ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag, der verbindliche Rechtsnormen für die Bekämpfung und Prävention gegen ausgeübte Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt schafft. Noch im September 2021 sei eine Ratifizierung durch das ukrainische Parlament chancenlos gewesen. Es waren vor allem patriarchale, katholische, orthodoxe und rechtskonservative Kräfte, die sich dagegen aussprachen.

Ein solcher Erfolg wird allerdings er-heblich geschmälert, da das Gesundheitswesen nach wie vor desaströs und korrupt ist. Ohne Schmiergeld war 2021 eine rasche Behandlung kaum möglich, insbesondere für HIV-betroffene oder drogenabhängige Frauen. In der Ost-ukraine wurden Spitäler nach neoliberalem Muster fusioniert. Das ärztliche Fachpersonal zog weg, entweder nach Kiew oder ins Ausland.

Kommt dazu, dass jetzt das Arbeitsrecht nach amerikanischem und britischem Modell dereguliert wird. Einschlägige Dokumente belegen, dass das britische Außenministerium das ukrainische Wirtschaftsministerium bei der Durchsetzung neuer Arbeitsgesetze beraten hat. Fazit: Die ukrainische Bevölkerung steht vor immensen Herausforderungen, um in einem von Oligarchie, Korruption und ausländischen Interessen geprägten Umfeld eine geschlechtergerechte, sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Gesellschaft aufzubauen.

LP21: Inwiefern können sich Frauen am Friedensprozess beteiligen, werden sie berücksichtigt?

Margret Kiener Nellen: Die Resolution 1325 ist ein zentrales Instrument in der Arbeit zwischen FriedensFrauen Weltweit (PeaceWomen Across the Globe) und ihren Partner:innen in den weltweiten Netzwerken. Nach Auskunft der ukrainischen Friedensfrau Olena Suslova von FriedensFrauen Weltweit wurde der zweite nationale Aktionsplan der Resolution 1325 im Oktober 2020 vom Parlament genehmigt. Nach der russischen Invasion im Februar wurden einige Abschnitte rasch aktualisiert, insbesondere in Bezug auf sexualisierte Gewalt während des Krieges. Die Änderungen seien in weniger als zwei Monaten erarbeitet worden. Die Invasion habe die Frauen gezwungen, schnell zu handeln, die Motivation zu Widerstand und Überleben sei sehr hoch. Weiter initiierte die Kommissarin für Genderpolitik Katerina Levchenka Ende August ein Treffen der größten Nichtregierungsorganisation, die für die Resolution 1325 agiert, um die Umsetzung zu koordinieren. Die ukrainischen Frauen arbeiten weiterhin intensiv für ihre Teilhabe am Aufbau des Landes. Für alle Friedensaktivistinnen brauche es sobald als möglich Friedensverhandlungen unter Einbezug der Zivilbevölkerung entlang den russischen Frontlinien. Es ist eine Voraussetzung, um Tausende weiterer Tote und Verletzte zu verhindern.

* Ukrainian Women‘s Congress https://womenua.today/en/

Margret Kiener Nellen ist Anwältin und Finanzexpertin. Sie war von 2003 bis 2019 Nationalrätin für die Sozialdemokratische Partei der Schweiz sowie Präsidentin der Finanzkommission. Sie lebt in Bolligen bei Bern.

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten. Sie lebt in Bern.


Resolution 1325: „Frauen, Frieden und Sicherheit“

Der Uno-Sicherheitsrat verabschiedete im Jahr 2000 die Resolution 1325, ein Meilenstein in der feministischen Friedens- und Sicherheitspolitik. Sie verlangt, dass die Perspektive und die Erfahrungen von Frauen in die internationale Friedens- und Sicherheitspolitik und in Friedensprozesse einbezogen werden. Die Resolution 1325 und ihre neun Folgeresolutionen bilden zusammen die WPS-Agenda – Women, Peace and Security. Sie besteht aus den vier Säulen: Prävention, Schutz, Partizipation sowie Nothilfe und Wiederaufbau. Sie erkennt nicht nur die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Erfahrungen in und mit bewaffneten Konflikten an, sie fordert explizite politische Beteiligung von Frauen. Die Resolution verlangt aber auch Schutz von Frauen in bewaffneten Konflikten, wie vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt.

Sie ist das Resultat des Engagements von transnationalen feministischen Netzwerken und Friedensaktivistinnen, die während Jahren die formale Anerkennung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Kriegen und bewaffneten Konflikten forderten. Inzwischen nutzen Frauenrechtsorganisationen und Friedensaktivistinnen die Resolution als Basis für ihre Forderungen.

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