Von der (Un)Möglichkeit zu kapitulieren

Der Ukraine-Krieg und die fatale Wiederentdeckung des Heldentums

Putin hat die Ukraine angreifen lassen, und die ist Leidtragende des Überfalls – soweit die unzweifelhaften Fakten. Alles weitere ist Interpretation, und die erfolgt, mit wenigen, schnell beiseite gewischten Gegenstimmen wie dem Emma-Brief, bislang sehr tendenziös.

Das beginnt schon mit den für diesen Krieg gebrauchten emotionalisierenden Adjektiven: „verbrecherisch“ oder „völkerrechtswidrig“, „brutal“, derer es offenbar bedarf, um die öffentliche Stimmung zu vereindeutigen. Doch welcher Krieg wäre kein Verbrechen, welcher völkerrechtskonform? Dieser Krieg war nicht mal überraschend, Putin hat ihn mehr als deutlich angekündigt – was ihn auf gar keinen Fall rechtfertigt – und er ist so brutal wie all die vergangenen und die derzeit auch und schon länger wütenden Kriege dieser Welt, die sämtlich Menschen opfern und Menschen zu Verbrechern machen. Kein Krieg nimmt je Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, und auch die Soldaten der angegriffenen Seite vergewaltigen. Oder ist ernsthaft anzunehmen, irgendwelche brutalisierten Frontsoldaten, irgendwelche Warlords oder Muslimbrüder hielten sich an die Genfer Konventionen oder sonstige internationale Vereinbarungen, die festlegen, wer sich legitimerweise gegenseitig umbringen darf? Diese dürftige Legitimierung der eigenen vorgeblich ehrenhaften Kriegführung! Und wer sich an die Anti-ABC-Waffen-Konventionen hält, tut es auch nicht unbedingt aus völkerrechtlichen Erwägungen.

Kämpfen (lassen) für die Freiheit – welche Freiheit?

Welche Anmaßung aber dann eines Politikers, zu glauben, er habe – gerechtfertigt durch das Völkerrecht – alle Freiheit, Leben und Habe eines ganzen Volkes und letztlich die gesamte Weltordnung zu riskieren, um ein Recht durchzusetzen, das der in dieser Hinsicht durchaus berechenbare Gegner auf keinen Fall zu akzeptieren bereit ist! Dieses Recht, im Fall der Ukraine auf die Freiheit der politischen Partnerwahl, wie es zunächst immer hieß. Und die Alternative war nicht, sich Moskau zu unterwerfen, wie es die Verteidiger:innen des Rechts und der Freiheit, selbst Feministinnen, heute zu sehen scheinen, sondern zunächst, vor Kriegsbeginn, Neutralität, zu der die Ukraine nun im besten Fall und mit vielen Opfern beiderseits ohnehin gezwungen sein wird – es sei denn, der Kampf wird bis zum bitteren Ende durchgezogen. Ist es wirklich undenkbar, dass ein so starkes, ein im Willen zur Freiheit so geeintes „Volk“, als das die Ukrainer:innen zu sehen die ganze westliche Welt derzeit bemüht ist, dass dieses die Stärke aufbringen könnte, sich in einem neutralen Staat auf andere Weise gegen Vereinnahmung zu wehren und die von ihnen gewünschten Werte zu leben?

Wissend um die Schrecken des Krieges, die uns die Medien täglich vor Augen halten – und für die es nicht noch der Bilder aus Mariupol oder Butscha bedurfte, denen die von Mossul in keiner Weise nachstehen – drängt sich die Frage auf, ob wir Rechte, die wir im Prinzip haben oder die uns zugesprochen werden, sämtlich und jederzeit in Anspruch nehmen können, dürfen, seien sie noch so gerechtfertigt? Gibt es nicht Momente, in denen wir sagen müssen, dem steht zu viel entgegen, der Preis ist zu hoch? Wie viele Leben ist das wert? Und darf eine demokratisch gewählte Regierung auf einem solchen Recht bestehen im Namen und auf Risiko von Leib und Leben der Bevölkerung – die undifferenziert in Haftung genommen ist und die Folgen tragen muss? Ist es verantwortungsvoll, das offenkundige Risiko eines Krieges einzugehen, um Recht zu behalten, und dann die halbe Welt zur Mitverantwortung oder zumindest in Mitleidenschaft zu ziehen, wenn dieser tatsächlich mit all seinem Horror eintritt? Müsste nicht andererseits die zivilisierte Welt, die solche Rechte im Namen der universalen Menschenrechte vergibt, in begründeten Fällen auch davor warnen, sie um buchstäblich jeden Preis durchsetzen zu wollen – wenn es nicht wirklich um die Existenz geht, ja wenn die Existenz gerade dadurch gefährdet wird?

Und doch fragt dieser Tage kaum jemand, ob wirklich alles getan wurde, den Krieg zu verhindern. Das aber lässt jegliche Mitverantwortung von anderer Seite außen vor. Als wüssten wir nicht, dass die Verantwortlichkeit im Falle von Kriegen immer eine bi- beziehungsweise multilaterale ist – und in diesem Falle unbestreitbar eine, für die auch die USA, die Nato und die EU ihren Beitrag reflektieren müssten. Deshalb hätten diese auch die Frage zu beantworten, die lange nicht gestellt wurde und auch jetzt nur zögerlich gestellt wird: Was denn geschehen sollte, würde am Ende dieses „monströse russische Reich“ zerschmettert – weil nach dem neueren Mantra der westlichen Politikvertretenden die Ukraine auf jeden Fall gewinnen müsse. Was auch verlangt zu fragen, wie das schlimmstenfalls herbeigeführt werden soll.

Solche Fragen zu stellen bedeutet auch, genauer hinzusehen, wessen Kampf eigentlich gefochten wird. Haben die Ukrainer:innen ihrem Helden den Auftrag gegeben, sie ins Reich des Westens zu führen, der sie eh als zugehörig vereinnahmt hatte? In der Vermessenheit der Erwartung, die Nato, die ihnen die Aufnahmebereitschaft suggeriert hatte, würde sogleich mit voller Power eingreifen?

Oder war es die Entscheidung ihres Präsidentendarstellers – der nun beweisen muss, dass er es auch in echt kann –, auf diesem Völkerrecht zu bestehen?

Und war es auf russischer Seite jener Einzelne, der für alles verantwortlich ist, ein unberechenbarer Autokrat, ein Psychopath, ein berechnender Despot, der systematisch die Opposition untergraben und mundtot gemacht, die Menschen desinformiert und in die Irre geleitet hat? Diese Annahme machte die Russen zu dummen Bauern, die keine Ahnung von der Welt und die ihn deshalb gewählt hätten, was ihnen weder gerecht wird noch sie entlastet. Und sie missachtete seine Gegner:innen, von denen wenig in den Medien zu hören ist.

Relative Verantwortung

Die momentan dominante Denkweise – ein kollektiver Rückfall in Kategorien von Ehrverteidigung, nationaler Identität, nationalistischer Souveränität –, die im Vollgefühl höherer Moral die Verlängerung des Tötens und Zerstörens befürwortet, fragt offenbar nicht, welche Haltung da mitgetragen wird. Welche Empathie- und Rücksichtslosigkeit gegen Unterstützende wie unbeteiligt Leidtragende erwächst da gerade? Welch unersättliche Anspruchshaltung, die lieber alle mit in den Abgrund zieht, die ihren immer unverschämteren Forderungen nicht entsprechen, als für diesen Moment der Geschichte nachzugeben? Müssten nicht wir, Bürger:innen demokratischer Staaten, statt diesen Reflex der Vergeltung und Unnachgiebigkeit zu stützen, unsere Regierungen drängen, den Aufstieg immer neuer Putins und der von ihnen geförderten und sie fördernden Interessengruppen beizeiten zu unterbinden, um weitere solcher Opfer zu vermeiden?

Diese, fast immer Männer, bauen ihre unselige Machtfülle, ihre immer rigideren Desinformations-, Überwachungs- und Einschüchterungsapparate ja nicht im Verborgenen auf. Sie haben die Ausführenden und Mitdenkenden, und gegebenenfalls Nachrückenden, des Terrors zur Seite. Sie sind getragen von dominanten Teilen der Bevölkerung, deren mehr oder weniger legitime Wünsche und Unzufriedenheiten sie für ihre Interessen fehlleiten. Und genau hier wäre anzusetzen, an den Ursachen für diese Bereitschaft, Tyrannen zu bejubeln.

Da aber sind, neben den geopolitischen Interessen der Großmächte, diejenigen des internationalen Kapitals vor, denen sich bislang auch demokratische und, wenn in Regierungsverantwortung, auch grüne Politik unterwirft, und diese gigantische Ressourcen-Vergeudung und Umweltvernichtung von Aufrüstung und Krieg einem wirklichen Wohlstand für alle entgegenstellt. Wobei die Grünen nun mit derselben moralischen Verve, die immer ihre Stärke ausmachte, die ideelle Grundlage ihrer Existenz konterkariert – ihre Umwelt- und Klimaziele wie auch eine andere, eine stark feministisch inspirierte Sozial- und Geschlechterpolitik.

Es ist zwar irritierend, dass die, die heute aus Mitgefühl mit den Opfern des Krieges radikale Sanktionen auf Kosten des eigenen Landes verlangen – überwiegend die grüne Klientel im Westen, die sich in ihrem Wohlstand den realen Materieausfall und seine Folgen noch immer nicht vorstellen kann – sich nicht wirklich klarmachen, was sie riskieren. Unsere Regierung jedoch sollte längst gewusst haben, was uns insbesondere der Wirtschaftsminister zunächst nur philosophisch nahelegte und nun schamlos herausplatzt: dass es nicht weiter nur um Staatsverschuldung geht, sondern erstmals um Mangel an etwas Grundlegendem. Und spätestens wenn das mehrheitliche Wir wird verzichten müssen – nicht nur auf das tägliche Fleisch, sondern auf eine Grundversorgung –, wird er sich mit dem Trilemma der nun erzwungenen Beschleunigung der Energiewende und ihrer gleichzeitigen Verunmöglichung sowie den leider nicht zu verhindernden unschönen Geschäften, nicht mehr aus der Verantwortung winden können. So wie die gesamte Regierung, die, in blindwütigem Eifer in die Unterstützung dieses Krieges taumelnd, jedes strategischen Vorausdenkens bar, sich für den immensen wirtschaftlichen Schaden – für die eigene Volkswirtschaft samt globalen Auswirkungen –, nicht wird freisprechen können. Einerlei, ob ihre Vertreter:innen sich der Auswirkungen bewusst waren oder nicht, wäre über die Eignung des Personals für den Job nachzudenken.

Heldendämmerung

Welch traurige Kapitulation ist dann noch die deutsche Aufrüstung, die der Ukraine auch nicht hilft, die neben dem klimapolitischen Versagen, alle Bemühungen um andere Formen der Konfliktaustragung aufgibt, in denen wir uns in diesem Land gerade auf Grund unserer „besonderen Geschichte“ seit mindestens 50 Jahren geübt haben, so unvollkommen sie auch waren. So müssen wir mit allen Friedensbewegten entschieden den Vorwurf zurückweisen, die Bemühungen um friedliche Koexistenz seien naiv und wer daran festhalte, ignorant. Ja, es gibt die Bösen, und Putin ist ein solcher, um so mehr aber müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, einen Umgang mit ihnen zu finden, der nicht auf uns zurückfällt. Schluss deshalb auch mit den überholten Helden, diesen nicht weniger destruktiven Gegenparts des Bösen. Sie bleiben in der Denke von Rechthaberei und Stärkedemonstration. Aber mit der Rückkehr der Logik des Krieges und der Abschreckung gehen nicht nur Jahre der Kämpfe in vielen Teilen der sich zivilisiert dünkenden Welt um ein friedlicheres Zusammenleben und mehr Gerechtigkeit verloren. Es ist ein Rückfall in eine Kultur der Entwertung Anderer, ihrer Entmenschlichung und eine Denkweise, die Menschen zu unmenschlichem Handeln (v)er-
zieht und missbraucht. Die momentane Bereitschaft dazu ist, gerade in einem Land, in dem sich inzwischen eine Mehrheit zu Weltoffenheit und Toleranz bekennt und nicht wenige sich für Integration und Vielfalt als gesellschaftlichen Mehrwert aussprechen, in einer Zeit, in der so manche darüber nachdenken, wie in einer globalisierten Welt Gesellschaft ohne Nationalstaaten organisiert werden kann, mehr als befremdlich. Im Zusammenprall von archaischer und hegemonialer Männlichkeit erweist sich gerade die geringe Nachhaltigkeit feministischer Errungenschaften und der dringende Bedarf ihrer Auffrischung. Keine Feministin kann ernsthaft diese Rückkehr als Leitparadigma für künftige Politik akzeptieren.

Eveline Linke, Diplom-Ingenieurin, Feministin, freie Autorin, lebt in Hamburg und Berlin.

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