The Turn of the Screw

Künstliche Intelligenz – ein fortschrittliches Werkzeug im Arsenal der Ausbeutungstechniken

„Künstliche Intelligenz ist eines der wichtigsten Dinge, an denen Menschen arbeiten. Ihre Bedeutung ist grundlegender als Elektrizität oder das Feuer“, so Google-Chef Sundar Pichai 2018 auf einer Veranstaltung in San Francisco. Und Microsoft-Chef Satya Nadella: „Künstliche Intelligenz ist nicht einfach nur eine weitere Technologie, es könnte eine der wirklich grundlegenden Technologien sein, die Menschen jemals entwickelt haben.“

Erstmals geprägt wurde der Begriff „Künstliche Intelligenz“ 1956 von dem Informatiker John McCarthy. Seither ist er ein unscharfer Sammelbegriff für fortgeschrittene IT-Technologien und Anwendungen.

In ihrer weitest reichenden Ausführung beansprucht KI einen allgemeinen Geist zu realisieren und kognitive Prozesse wie beim Menschen zu imitieren.

Angefangen von komplexen Spielstrategien bei Schach oder Go, Sprachassistenten wie Siri, Cortana und Alexa, dem Erkennen sowie Klonen von Stimmen und Gesichtern, automatenbasierter telefonischer Kommunikation, Expertensystemen mit Wissensdatenbanken, automatischen Entscheidungssystemen im Gesundheitswesen, in der Justiz, Produktionssteuerung, persönlichen Optimierungsassistenten auf dem Smart Phone über Industrie-Roboter in Fertigung, Logistik oder Pflege bis zu autonomen Waffen: KI-Anwendungen treten weit in das alltägliche Leben ein, machen neue Geschäftsmodelle wie selbstfahrende Autos, unbemannte Kassen in Supermärkten, personalisiertes Marketing oder Prognosen des Kaufverhaltens möglich und ersetzen dabei den Menschen mit seinen Qualifikationen.

Die Maschinerie im Produktionsprozess

Prägend für die Rolle, Rezeption und gesellschaftliche Verortung der KI sind nicht wissenschaftliche Diskussionen über Menschenbilder, sondern die alltäglichen arbeitsweltlichen Erfahrungen: Die Macht, die die Menschheit durch Naturwissenschaft und Technik erworben hat, verkehrt sich bei den Arbeitenden in Ohnmacht.

„Bei den meisten zeigt sich kaum verhohlene Unzufriedenheit… ›Ich bin eine Maschine‹, sagt der Punktschweißer. ›Ich bin in einen Käfig eingesperrt‹, sagt der Bankbeamte, der damit nur dem Hotelportier aus dem Munde spricht. ›Ich bin ein Packesel‹, sagt der Stahlarbeiter. ›Meine Arbeit könnte genauso gut ein Affe machen‹, sagt die Empfangsdame. ›Ich bin weniger als ein landwirtschaftlicher Zubehörsartikel‹, sagt der Wanderarbeiter. ›Ich bin ein Objekt‹, sagt das Mannequin. Ob sie im blauen oder im weißen Kittel arbeiten, bei allen kommt es auf dasselbe heraus: ›Ich bin ein Roboter‹“, Mit diesen Zitaten resümierte der Autor Studs Terkel 1974 seine Untersuchung der Alltagsarbeit in den USA, lange bevor mittels KI die Schrauben stärker angezogen werden konnten.

Die mit der Mechanisierung verbundene Ablösung der intellektuellen Fähigkeiten von der Arbeitskraft bewirkt mit ihrer Dequalifizierung auch ihre Entwertung. Durch die Unterordnung unter die Maschine lässt sich die Arbeit durch bloße Beschleunigung der Maschinengeschwindigkeit intensivieren, der Arbeiter dient der Maschine. „Die verloren gegangenen Kenntnisse über Produktionsabläufe werden als technologisch angewandte Wissenschaft in die Maschine inkorporiert. Die Wissenschaft wird zum selbständigen, vom Arbeiter getrennten Moment des Arbeitsprozesses und tritt ihm als fremde, ihn beherrschende Macht gegenüber, als Macht der Maschine selbst“, erklärte der Industriesoziologe Jürgen Mendner im Rückgriff auf Marx.

Bei der Automatisierung von Arbeitsprozessen sinken Dispositionsspielraum und Einfluss auf die Arbeitsgestaltung erheblich, womit die Distanz vom Menschen zum Arbeitsprodukt weiter vergrößert wird. Technisch-organisatorische Veränderungen durch digitale Arbeit sollen die Beschäftigten überwachen, bewerten und steuern. Diese Erfahrungen machen Kollegen nicht nur mit Industrie 4.0, auch in den Verkaufs- und Serviceabteilungen, in Call Centern, im stationären Einzelhandel, in Versicherungen oder etwa Banken.

In Bereichen mit Kundenkontakt haben die Beschäftigten keinen Einfluss auf die Entscheidung, welche Arbeitsvorgänge sie übernehmen. KI-gesteuerte Chatbots beraten Anrufer und Internetnutzer und leiten an Beschäftigte weiter, wenn sie nicht weiterwissen.

Die eingehende Arbeit wird automatisiert durch Workflows in persönliche Arbeitskörbe zugeteilt. Über das Monitoring werden Beschäftigte sowie Kunden ausgespäht, Kundenkontakte dokumentiert, durch das Kundenbeziehungsmanagement nachverfolgt und ausgewertet.* Die Aufgaben von Führungskräften werden auf Kennzahlen verengt, um die Beschäftigten auf die Ergebnisse einzuschwören. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten, Antwortzeiten, Prozessdurchlaufzeiten oder Servicelevel. Auf dieser Basis werden die Prozesse standardisiert und durch Zeitvorgaben „optimiert“.

Mit der Flexibilisierung des Arbeitskräfte-Managements durch KI-Einsatz gilt es, Luft in den Prozessen zu finden. Mit Hilfe statistischer Erhebungen und Vorhersagen des Arbeitsanfalls und Kundenverhaltens sollen Personalkapazitäten, Dienstpläne und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen gesteuert werden. KI entscheidet über Leistungsbewertung und Karriereentwicklung. Diese Leistungen der mathematisierenden Informationsverarbeitung sind: von Menschen gemacht, von Menschen gestaltbar.

Neben Software als fixem Ablaufschema tritt Software als ein sich selbst veränderndes Werkzeug. Ihr Charakter entwickelt sich von einer Assistenztechnik hin zu einer Delegationstechnik. Somit kann eine Software die Vollmacht bekommen, hinter dem Rücken des Menschen in Echtzeit rechtsverbindliche Prozesse, Transaktionen, zu analysieren, zu steuern und zu entscheiden. Aber auch diese Delegationstechnik denkt nicht, lernt nicht, hat kein Ich. Es bleibt Mathematik.

Wider die instrumentelle Vernunft!

Damit markiert die Künstliche Intelligenz den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die mit der Aufklärung vor rund 300 Jahren begann. Mit ihr sollten durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen – überholte Vorstellungen, Ideologien, Widerstand von Tradition und Gewohnheitsrecht – überwunden, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen geschaffen und in der Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens gelöst werden.

Heute ist die Aufklärung in die Krise geraten: Mit „Instrumenteller Vernunft“ bezeichnete und kritisierte der Philosoph und Kopf der Frankfurter Schule Max Horkheimer die Dominanz einer technisch-rationalen Vernunft, die sich mit gesellschaftlicher Herrschaft verschwistert habe, über die praktische Vernunft. Sie steht für eine Vernunft, welche die Mittel, nicht jedoch die Ziele des Handelns reflektiert. Darüber hinaus bezeichnet sie das Interesse an technischer Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Man spricht auch von Zweck-Mittel-Rationalität, womit die technisch-rationale Angemessenheit der Mittel zur Erreichung eines beliebig gewählten Zweckes bezeichnet wird. Die Zwecke selbst können unvernünftig, ja irrational sein, während die Mittel zu ihrer Durchführung rational und technisch effektiv funktionieren.

Die Kritik der instrumentellen Vernunft ist auch eine Kritik an Naturbeherrschung, also am instrumentellen Verhältnis zur Natur. Die Natur werde heute „als ein bloßes Werkzeug des Menschen“ aufgefasst, konstatiert der Philosoph Richard David Precht, und sei „Objekt totaler Ausbeutung“. Die Unterdrückung der inneren wie äußeren Natur und intrahumane Herrschafts- und Unterdrückungsformen stehen im Zusammenhang; die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, die Natur zu unterjochen, ist auch die Geschichte der Unterjochung des Menschen durch den Menschen selbst.

Der Mensch sähe sich als „das andere zur Natur“, so Precht. Der Historiker Yuval Noah Harari erkennt in dem Versuch, die Menschen zu Göttern zu erheben, den Humanismus zu seinem logischen Schluss geführt, und macht dessen ihm innewohnenden Schwächen deutlich. Mit dem Versuch, die Natur zu beherrschen, werde der einst mythische Zugang zur Welt aufgeklärt und schlage als „Herrschaft“ und „neue Barbarei“ dialektisch in Mythos zurück. An die Stelle der Aufklärung und der Befreiung von den Zwängen der Natur tritt die Unterordnung unter wirtschaftliche und politische Interessen.

Die Arbeitenden sind trotz der ihnen eigenen Potenzen in der Arbeit auf Anhängsel von Maschinen reduziert und werden auf Funktionieren eingeschränkt. Solcherart reduzierte Menschen sind offensichtlich durch Maschinen ersetzbar. Dieses Empfinden gegenüber IT wird dadurch verursacht, dass die Anwendenden keinen Einfluss auf die Einführungsbedingungen haben, dass Wissen und Fertigkeiten sowie Kenntnisse über Zusammenhänge und innerbetriebliche Arbeitsabläufe im Computer verschwinden, zurück bleibt eine relative Undurchschaubarkeit der Abläufe und Prozesse.

„In allen Bereichen wird der Mensch nach und nach durch die Maschine ersetzt, nicht weil die Maschine diese Dinge besser bewältigt, sondern eher weil alle Dinge auf das Maß reduziert worden sind, das die Maschine zu bewältigen imstande ist“, erkannte der Informatiker Norbert Müllert bereits vor vierzig Jahren.

So wie der Mensch seine Autonomie in der kapitalistischen und an die kapitalistische Produktion verloren hat, die als nichtsteuerbare Maschinerie mit einem Eigenleben betrachtet wird und die Menschen als Arbeitskräfte ein- und aussaugt und so wie die natürlichen Ressourcen benutzt, so ist er nur zu bereit, seine Autonomie auch an KI als Verlängerung seiner intellektuellen, kognitiven und seelischen Fähigkeiten abzugeben.

Während er Glauben und Vertrauen an seine eigene Autonomie verloren hat, will er sich auf autonome Maschinen verlassen. Soll dieser Verlass auf etwas anderem beruhen als blinder Hoffnungslosigkeit? Nobelpreisträger Herbert Simon befand schon 1977: „Die wahrscheinlich wichtigste Frage über den Computer ist, was er mit dem menschlichen Selbstverständnis und seinem Platz im Universum getan hat und weiterhin tun wird.“

Der Werkzeugcharakter des Computers ist erst wieder in einer selbstbestimmten Produktion herstellbar, in der die Menschen nicht nur gesellschaftlich über die Produktpalette, sondern betrieblich über die Arbeitsprozesse und am Arbeitsplatz über den Technikeinsatz entscheiden.

Es kommt also darauf an, das Verhältnis zwischen Menschen und Maschinen neu zu bestimmen. Statt weiterhin von „KI“ zu reden, gehe es, so der DGB-Technologie-Experte Welf Schröter, um die soziale Gestaltung „algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme“, um die Gestaltung „algorithmischer, sich selbst verändernder Software-Systeme für die arbeitsweltlichen Vorgänge Analyse, Entscheidungsvorbereitung, Prozesssteuerung und Entscheidungsvollzug im Feld der Assistenz- und Delegationstechnik“.

Hierzu fehlt bisher jegliches Mitbestimmungsinstrumentarium, um die arbeitenden Menschen in der Mensch-Computer-Interaktion zu Subjekten werden zu lassen. Mit der Stellung von Mensch und Maschine in der Produktion löst sich auch die Frage des Menschenbildes und der Begriffskritik von allein.

Diplom-Informatiker Klaus Heß hat 30 Jahre für die Technologieberatungsstelle TBS NRW Betriebs- und Personalräte hinsichtlich Arbeits- und Technikgestaltung beraten. Er ist Gründungsmitglied des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftlicher Verantwortung FIfF. Nebenberuflich engagiert sich Heß in internationalistischer Solidaritätsarbeit.

* Die automatische Bitte um Einverständnis zur Aufzeichnung eines Telefongesprächs im Kundendienst dient weniger einer besseren Erkenntnis von Kundenwünschen, sondern vielmehr der Kontrolle der Mitarbeitenden durch die Unternehmensleitung.

Der hier abgedruckte Text ist Teil eines längeren Beitrags, der in der Zeitschrift FIfF-Kommunikation erschienen ist und in dem es auch um Wesen und Funktionsweise Künstlicher Intelligenz geht. Zu finden unter:  https://www.fiff.de/publikationen/fiff-kommunikation/fk-2022/fk-2022-2/fk-2022-2-content/fk-2-22-p46.pdf