Militärisch-industrieller Komplex

In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Das Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT) betreut seitdem das Projekt und sagt dazu: „Neben der Arbeiterbewegung und den sozialistischen und kommunistischen Erfahrungen sind es u.a. die Fragen der Umweltproblematik und vor allem der Frauenbewegung, die Eingang gefunden haben. Auch die Befreiungstheologie und die Fragen der postkolonialen »Dritten Welt« nehmen einen substanziell gefüllten, beträchtlichen Raum ein.“ Die Beiträge in der Nachfolge von Marx und Engels stehen mithin in einer Tradition des offenen, zukunftsfähigen Denkens.

Militärisch-industrieller Komplex (miK) nach Krieg und Frieden, Lüge, Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme und Klimapolitik das zehnte ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren. Dieser wiedergegebene Ausschnitt enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=m:militaerisch-industrieller_komplex zum Stichwort militärisch-industrieller Komplex findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in sechs Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)

E: military-industrial complex. – F: complexe militaro-industriel. – R: voenno-promyšlennyj kompleks. – S: complejo militar-industrial. – C: jūngōng fùhétǐ 军俬复体

Victor Wallis (StP) HKWM 9/I, 2018, Spalten 921-932

Den Begriff miK prägt US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 nach achtjähriger Amtszeit bei seiner Abschiedsrede. Er definiert ihn als »das Zusammenspiel eines gewaltigen militärischen Establishments und einer Rüstungs-Großindustrie« (zit.n. Dunne/Sköns 2011, 14) und übt kapitalismus-immanente Kritik: »Wir müssen uns davor hüten, dass der miK unbefugt Einfluss ausübt, ob dies nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt geschieht. Das Potenzial für den katastrophalen Anstieg unangebrachter Macht besteht und wird weiter bestehen.« (Ebd.)

Eisenhowers Anstoß führte zu »kritischen und scharfsinnigen Publikationen über staatliche Geschäfte mit den ›Merchants of Death‹« (Kollmer 2015, 4) und über die Interessengruppen, deren Ziel es ist, »nicht etwa einen Krieg auszulösen, sondern höhere Militärausgaben durchzusetzen« (Berghahn 1986, 109). Diese Analysen hinterfragen Rüstung nicht grundsätzlich und verwenden miK »eher als analytische Kategorie«, »um Abläufe und Ausprägungen angemessen überprüfen sowie möglicherweise modifizieren zu können« (Kollmer 2015, 4).

Seit den 1960er und 70er Jahren wurden tiefer gehende Forschungen veröffentlicht (vgl. Berghahn 1986, Kap. V), und miK wurde von den sozialen Bewegungen als Kampfbegriff aufgegriffen. Die Frage richtete sich nun auf die Stellung des miK in Staat und Gesellschaft, auf seine Verbindungen mit Universitäten, Forschungsinstitutionen und Gewerkschaften. Damit kam der ganze politiktreibende Zweig der herrschenden Klasse der USA nach 1945 ins Visier, zusammen mit der (physischen wie institutionellen) kriegstreibenden Maschinerie, die er eingesetzt hat. Dieser Ansatz nimmt eine marxistische Analyse auf.

Im weiteren Sinne existiert ein miK in jedem Land, in dem die militärischen Institutionen im Verein mit Unternehmensinteressen unablässig erweitert worden sind, und zwar über das Maß hinaus, das für die territoriale Verteidigung nötig wäre. Besonders ausgeprägt war er jedoch im politischen System der USA, wo er im Zuge des Zweiten Weltkriegs beim Aufbau einer fordistisch durchorganisierten Rüstungsindustrie entstand und auf die Militarisierung des Systemgegensatzes umschaltete. (…) Die SU hat aufgrund des Wettrüstens, das ihr die USA seit 1945 aufzwang, einen schwer auf der Wirtschaft lastenden »militärisch-industriell-akademischen Komplex« (als Akronym auch »MIAK«) aufgebaut (Uhl 2015), der aber niemals in »die langfristige politische Strategie der sowjetischen Regierung« steuernd eingriff und im Gegensatz zur miK der USA keinen »Staat im Staate« bildete (Medvedev/Medvedev 1981, 6). (…)

Auf programmatischer Ebene hat der miK der USA seinen engsten Vorläufer in den vom Naziregime entworfenen Plänen für die Weltherrschaft. Das Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert (PNAC 2000), eine 1997 gegründete neokonservative Denkfabrik, und die in der Präsidentschaft George W. Bush entwickelte »Nationale Sicherheitsstrategie« (2002) knüpfen an diese Pläne an, wenn auch mit neuem geopolitischem Vokabular, das die beanspruchte rassische Überlegenheit durch neoliberale Ideologie ersetzt.

All dies entwickelte sich im Kontext des globalen Interventionismus, der sich 1947 zunächst für den Kalten Krieg institutionalisiert hatte und die US-Politik in der Epoche der Systemkonfrontation bestimmte. Danach diente er der Zurückdrängung des Einflusses Russlands in den ehemaligen Sowjetrepubliken und kulminierte in einem auf Dauer angelegten militärischen Engagement der USA in jener Region, die wirtschaftlich durch ihre Ölvorkommen und ideologisch durch den Islam geprägt wird. (…)

Permanentes militärisches Engagement ist geopolitisch ergiebig und erschließt bzw. stabilisiert Profitquellen. Der miK der USA ringt aber damit, dass er für Kriege Militärpersonal in einem Umfang benötigt, der auf Widerstand in der Bevölkerung stößt. Abhilfe schaffen soll der Ersatz von militärischem Bodenpersonal durch fortgeschrittene Waffentechnologien, was etwa zur Konzentration auf Drohnenkriegsführung führt. (…)

Der miK, v.a. in seinem ursprünglichen Sinn, der den Kongress mit einschließt (in einem Entwurf zu Eisenhowers Ansprache 1961 hieß es noch MICC für »military-industrial-Congressional complex), setzt die Rahmenbedingungen für die Ausübung von Macht in der US-Gesellschaft. Er steht nicht im Widerspruch zur Macht des Kapitals, sondern ist eine Ausdrucksform derselben. Domhoff demonstriert, wie sich Interessen von Zivil- und Rüstungsproduktion überlappen, indem er nachweist, dass sich 2003 »60% der Kontrakte des US-Verteidigungsministeriums auf eine große Anzahl wohlbekannter Unternehmen verteilen«; 40% der Militärverträge würden von nur zehn großen Unternehmen abgeschlossen, von denen mehrere zugleich große zivile Produktionsbereiche haben, was ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Staat verbessert. (…)

Das Kapital war stets auf bewaffnete Kräfte angewiesen, um seine “Vorrechte“ durchzusetzen. Der miK spiegelt hierbei eine historische Stufe, in der diese Abhängigkeit stark gewachsen ist. Das Zusammenlaufen zweier Entwicklungen deutet darauf hin, dass sie auch im 21. Jh. fortdauert: einerseits die Kollision des kapitalistischen Wachstumszwangs mit einer endlichen Ökosphäre im Kampf um Einfluss und Ressourcen und andererseits die vielerorts gewachsene Unzufriedenheit mit der Unfähigkeit des Kapitals, auf die Bedürfnisse der Weltbevölkerung einzugehen – aus Sicht des Kapitals erscheint beiden am einfachsten mit Waffen begegnet werden zu können.