Posttaylorismus, Automation, Digitalisierung, Arbeit 4.0: Sind die Arbeitsbedingungen menschlicher geworden?

Schon der Human-Relations-Bewegung, die sich in den 1930ern als Reaktion auf die wachsende Verweigerungshaltung der Arbeiter/innen in US-amerikanischen taylorisierten Großbetrieben bildete, war es darum zu tun, die Arbeit „menschlicher“ zu gestalten – freilich immer das Ziel der Produktivitätssteigerung im Auge. Impulse der 68er-Bewegung und der Aufschwung der Klassenauseinandersetzung, beflügelt von Reformversprechen der Ära Brandt und Kreisky, schufen eine besondere Atmosphäre.

Sie war angereichert mit wirtschaftsdemokratischen Hoffnungen und der Sehnsucht nach Anerkennung menschlicher Würde in der Arbeitswelt. Explizit thematisiert wurden das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und körperlich-seelische Gesundheit. Anfang der 1970er schlossen sich führende Vertreter/innen aus Arbeitswissenschaft, Soziologie, Sozialdemokratie, katholischer Soziallehre und Gewerkschaften zusammen, um sich gemeinsam für eine „Humanisierung des Arbeitslebens“ einzusetzen. Auf lange Sicht sollten die Schrecken der bisherigen Industriearbeit ins Reich der Vergangenheit gedrängt werden. Man hatte sich vorgenommen, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit zu überwinden. Lässt man industriesoziologische Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Revue passieren, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass körperliche Arbeit bald abgeschafft sein würde.i

Arbeit sollte nicht nur schädigungslos und beeinträchtigungsfrei, sondern auch „persönlichkeitsfördernd“ werden. An eine Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus war aber nicht gedacht. Es gab einen „Basiskonsens“, dass Humanität und Produktivitätssteigerung als gleichwertige Ziele anzusehen seien. Die Humanisierung war mit dem Versprechen verknüpft, dass mit der Überwindung der kleinteiligen und monotonen Fließbandarbeit auch die Produktivität steigen würde. Dies sollte erreicht werden durch Arbeitsanreicherung mit höher qualifizierten Tätigkeiten, die Einführung von Gruppenarbeit und die Übernahme von Eigenverant­wortung – eine Kategorie, für die sich seit der Jahrtausendwende der Begriff „Selbststeuerung“ einbürgerte. Als großes Vorbild galten die schwedischen Volvo-Werke in Kalmar und Uddevalla, wo in den 1970ern die Fließbandproduktion durch Gruppenarbeit ersetzt wurde. Zwischen 1975 und 1977 gab es eine Versuchsphase mit Gruppenarbeit bei VW Salzgitter, später auch in anderen Industriebetrieben. Alle Experimente, in Schweden wie auch in Deutschland und Österreich, hatten bald ein Ende. Zu viel Autonomie bedrohte die betriebliche Herrschaftsstruktur, die auf gar keinen Fall in Frage gestellt werden sollte. Die Bereitschaft des Großkapitals, sich auf „Humanisierung“ einzulassen, war begrenzt und letztlich auf den Punkt produktivitätssteigernder Technologien fixiert. Das hatte schon Jürgen Mendner vorausgesehen, als er Mitte der 1970er schrieb: „Eine allgemeine Tendenz zur Humanisierung wird man aus der zeitweiligen Anwendung der autonomen Gruppenarbeit freilich nicht ableiten können. Ist die neue Technologie praktisch erprobt, ist die Anlage erst einmal eingefahren, sind die Schwachstellen bekannt und beseitigt, so können Kontrolle, Wartung und Instandhaltung von einer reduzierten Mannschaft bewältigt werden; die verbleibenden Resttätigkeiten werden nun ihrerseits zum Objekt kapitalistischer Rationalisierung und damit wieder der Tendenz arbeitsorganisatorischer Taylorisierung unterworfen.“ii

So ist es gekommen; jedenfalls was die Masse der nach wie vor subalternen Tätigkeiten betrifft. Merkwürdig ambivalente gewerkschaftsnahe Interpretationen, die der Entwicklung doch noch eine wie auch immer geartete Befreiung von Unterdrückung und Entfremdung glauben abgewinnen zu können, ändern daran nichts. „Mit der Realität in den heutigen Produktionshallen hat das herzlich wenig zu tun“, schreibt Tom Adler, ein alternativer Betriebsrat im Daimler-Werk Untertürkheim. Dort muss heute unter enormem körperlichen und psychischen Druck gearbeitet werden. Die wenigen Elemente einer Gruppenarbeit, die jemals ihren Weg aus den Public-Relation-Heftchen in die gelebte betriebliche Praxis gefunden haben, sind längst zurückgenommen und von Dutzenden Lean-Production-Projekten kleingemahlen worden.“iii Verschnaufpausen, seien es die tariflich erstreikten oder die im Zuge von Gruppenarbeit erkämpften, wurden und werden eingeebnet: Sie schrumpfen aufgrund der „permanente(n) Arbeitsinnovation“ Richtung Null. Die fortschreitende reelle Subsumtion, d.h. die Technisierung, Computerisierung und Roboterisierung von Produktions- und Dienstleistungsketten, erzeugt einen Kältestrom, der den Menschen ins Gesicht bläst. Vormals homogene Arbeitsgruppen werden auseinandergerissen, individualisiert, atomisiert. Dem kurzen Sommer der Arbeiter/innenmacht der 1970er Jahre folgte ein langer Hebst der technischen und organisatorischen Rationalisierung, Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit.

VW 5000 mal 5000: die große Prekarisierung

Im Jahre 2000 wurde unter Federführung des damaligen VW-Arbeitsdirektors Peter Hartz das Projekt „VW 5000 mal 5000“ gestartet. 5000 Arbeitslose sollten für ein Pauschalgehalt von 5000 Mark Autos bauen. Intensiv von einem Soziologenteam um Michael Schumann begleitet, wurde das Projekt sechs Jahre später als Erfolgsstory präsentiert.iv Um den geglätteten, beschönigenden und legitimatorischen Darstellungen eine Innensicht der tatsächlichen Verhältnisse entgegenzuhalten, interviewte das Redaktionsteam der Zeitschrift Wildcat Arbeiter/innen, die an diesem Produktionsprojekt teilnahmen.v

Aus dem Bericht einer Arbeiterin: „Es zog an. Das Band wurde immer schneller gedreht, als Leistungstest. Einmal hab ich gesagt: ›Ich kann nicht mehr! Ich falle gleich um!‹ Wenn du sagst, ›ich schaff es nicht‹, dann hörst du auf. Mein Team hatte 14 Arbeitsschritte zu machen. Zwischen diesen 14 Tätigkeiten kannst du innerhalb deines Teams rotieren. Das Team muss das untereinander absprechen. Das hat auch ganz gut funktioniert. Bis dann die ersten Kranken aufliefen. Der erste Kollege mit Rückenschmerzen. Er spricht also mit dem Betriebsingenieur. Der sagt: ‚Hör mal, wenn du das nicht mehr kannst, dann bist du nicht mehr industrietauglich!‘ Da kriegt der natürlich Angst –das Team versucht zu helfen. Der macht jetzt, was für ihn noch geht. Das Team ist solange solidarisch, wie es das eben durchhält. Wo steckst du den zweiten Rückenkranken hin, wo den dritten und den mit der chronischen Sehnenscheidenentzündung? Dann hast du nur noch sechs Arbeiten, die du rotieren kannst, alle anderen sind fest vergeben. Die Probleme sind aufgetaucht, als das Band richtig lief. Da kamen auf einmal Sprüche, wie: ‚Da geht einer zu oft zur Toilette!‘ Manche haben sich hingestellt und gezählt, wie viele Leute gerade auf dem Klo sind. Es fingen Diskussionen an in der Art: ‚Musst du jetzt wirklich kacken?!‘ Klingt lächerlich, ist aber so. Du kannst das Band in der Montage nicht anhalten, und es gibt keine Extra-Springer, das Team muss das selber ausgleichen. Einmal ist im Sommer einer umgekippt, der Krankenwagen kam, zwei Kollegen haben ihn gestützt und raus begleitet – und das Band lief weiter, es wurde nicht angehalten!“vi

Anlässlich des Auslaufens des Projekttarifes 2006 entwickelte sich unter den Projekt-Arbeiter/innen Widerstand.vii Es gab Warnstreiks, an denen bis zu 4000 Arbeiter/innen teilnahmen. Neben Lohnerhöhungen ging es vor allem darum, den Druck innerhalb der Teams zu mindern. VW-Management und IG Metall-Betriebsrat gelang es zwar, die Wogen zu glätten, doch der Unmut hielt sich und entlud sich in der Folgezeit in Aktionen, nicht zuletzt in einem über 12 Prozent steigenden Krankenstand. Unhintergehbare Tatsache ist: Arbeit in der Automobilindustrie ist Knochenarbeit. Sie holt körperlich, seelisch und geistig alles aus dem Menschen, was instrumentalisierbar und ausbeutbar ist. Es mag ergonomische Verbesserungen geben, doch diese bleiben begrenzt. Die Berichte aus der Stuttgarter Automobilindustrie, die Wildcat 2010 unter der Überschrift „Das Ende des Massenarbeiters“ veröffentlichte, sprechen Bände.viii Dem steigenden Arbeitsdruck sind viele, vor allem ältere, erfahrene und selbstbewusste Arbeiter/innen nicht mehr gewachsen. Viele werden krank, doch Krankheit wird nicht geduldet. Ein Trommelfeuer von Anschreiben und Anrufen, die Inquisition durch den Medizinischen Dienst, Betriebsärzte und Krankenkassenvertreter, nicht zuletzt auch das Weichklopfen durch Personaler und Betriebsräte lassen die Betroffenen, um all dem endlich zu entkommen, zu Abfindungen greifen.

In der Automobil- und Automobilzuliefererindustrie besteht mittlerweile fast ein Drittel der Belegschaften aus befristet Beschäftigten, Leiharbeiter/innen – beschönigend als Zeitarbeitnehmer/innen bezeichnet – und Werkvertragsnehmer/innen. Einen noch höheren Anteil prekär Beschäftigter weisen Branchen wie Handel, Logistik und Lebensmittel auf. Ähnlich wie Migranten und Migrantinnen stoßen Leiharbeiter/innen auf eine Wand von Diskriminierung und Sozialrassismus. Hohe Belastungen und entsprechend viele somatische und psychosomatische Erkrankungen sind die Folge. Hundertausende, wenn nicht gar Millionen, leben mittlerweile außerhalb des nur noch für Stammbelegschaften existierenden sozialstaatlichen Netzes. Dieses Netz wird – ganz entgegen den sozialdemokratischen Proklamationen – immer löchriger. Sozialstaat gibt es erst recht nicht für die Millionen Menschen außerhalb Deutschlands, die durch die Verausgabung ihrer Arbeitskraft dafür sorgen, dass wir hierzulande Billigware kaufen können. Wir, genauer: der wohlhabendere Teil der Arbeiterklasse hierzulande profitiert von einem gigantischen globalen Mehrwerttransfer, den Ernest Mandel vor Jahrzehnten analysiert hat.ix Der Kapitalismus treibt einen gewaltigen Spaltkeil in unsere Welt, und der Keil geht inzwischen mitten durch die Metropolen. Die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt auch bei uns dramatisch zu. Das wird Widerstand erzeugen, der alle sozialen Schichten und alle sozialen und kulturellen Milieus zu einer Haltung dazu herausfordern wird. Gemessen an den Auseinandersetzungen, die mit Wahrscheinlichkeit kommen werden, leben wir zwar immer noch in einem klassenpolitisch weitgehend befriedeten Paradies. Doch der Schein trügt. Es gibt Entwicklungen, hierzulande wie global, die Veränderungen ankündigen – ob zum Guten, wird die Geschichte zeigen, an deren Gestaltung wir beteiligt sind.

Industrie 4.0 – der Mensch unter der digitalen Knute

Wenige Blicke in die empirische Wirklichkeit genügen, um zu sehen, dass Proklamationen, dass die immaterielle Produktion die materielle ablöse, von Weltfremdheit geschlagen sind. Ebenso entbehren Visionen, Überlegungen, Hoffnungen oder Befürchtungen hinsichtlich einer „menschenleeren Fabrik“ immer schon jeder Grundlage. Derartige Visionen suggerieren das Bild einer gleichsam körperlosen Arbeit. Zwar werden viele Arbeitsvorgänge in Entwicklung, Konstruktion, Produktion und Distribution mittlerweile computergestützt und teilweise selbststeuernd erledigt. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen: Allein die deutsche Automobilindustrie mit etwa 800.000 Beschäftigten – davon die Hälfte in der Produktion – und weiteren 300.000 Arbeiter/innen in der Zulieferindustrie zeugt von einer in Wirklichkeit aktiv anwesenden menschlichen Körperlichkeit. Die These, die vierte industrielle Revolution bringe eine völlig neue und völlig veränderte Arbeitswelt hervor, wird von seriösen Arbeitsforschern und Arbeitsforscherinnen zurückhaltend bis ablehnend beurteilt. Die Vermutung lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Industrie-4.0-Szenario normativen Grundausrichtungen der Wirtschaftseliten folgt und nicht Erleichterung und Humanisierung der Arbeit im Sinn hat.

Aber auch die klassische Fabrik ändert ihr Gesicht, genauer: die Art und Weise des konkreten Arbeitsprozesses. Arbeitssoziologen der Universität Jena haben in klein-, mittel und großbetrieblichen Unternehmen – Werkzeugbau, Optikherstellung und Automobilbau – den Stand der Digitalisierung und die damit einhergehenden Veränderungen der Arbeit untersucht.x Entgegen vollmundigen Proklamationen der Industrieverbände wird auch hier der Mensch als Lückenbüßer der Technik eingesetzt. Prinzipiell könnten Montageinseln auch vom Menschen gesteuert werden, sodass eine dem/der Arbeitenden angepasste Arbeitsstruktur und Arbeitsgeschwindigkeit möglich wäre, d.h. auch die Beschäftigung älterer und gesundheitlich eingeschränkter Menschen. Doch die kapitalistische Wirklichkeit verkehrt dieses Verhältnis ins Gegenteil. Zentral gesteuerte Roboter geben Arbeitsschritte und Arbeitsgeschwindigkeit vor. Die vom Menschen zu absolvierenden Tätigkeiten bestehen aus Handreichungen. Erfahrungswissen wird, entgegen den Hoffnungen mancher Vertreter/innen der Arbeitssoziologie, abgewertet. „Der Einsatz digitaler Assistenzsysteme (kann) die einzelnen Arbeitsschritte detailliert vorgeben und deren korrekte Umsetzung permanent überprüfen.“xi Die Forscher/innengruppe musste feststellen, dass der Einsatz von Montagerobotern, Assistenzsystemen, Datenbrillen, Handscannern und anderen digitalen Hilfsmitteln die Arbeit verdichtet, dequalifiziert und psychisch belastender macht. Die „Hilfsmittel“ entpuppten sich als Taktgeber und als Kontroll- und Bewertungsmittel des Managements. Von ähnlichen Befunden berichtet eine Münchener Forscher/innengruppe.xii Sie befassten sich u.a. mit dem „smarten Handschuh“, der mit in den Fingerkuppen sitzenden Sensoren ausgestattet ist. Er wird vielfältig eingesetzt, so z.B. für das Scannen von Barcodes, für die Dokumentation von Arbeitsschritten und die Übermittlung von Feedbacks. Ein Entwickler kommentiert: „Wenn er (der Arbeiter, Anm.) also einen Fehler macht, wird er direkt an seinem Körper informiert.“xiii Wir sehen hier eine neue Art der Verkörperlichung von Arbeit, einen von vornherein entfremdeten Prozess. Nicht mehr das leibkörperliche Erfahrungswissen, sondern die digital entfremdete Erfahrung wird zurückgemeldet und als Druck- und Sanktionsmittel wirksam. Die Arbeitenden sollen sich permanent an die jeweiligen Gegebenheiten und Erfordernisse der vermarktlichten Arbeitsverhältnisse anpassen. Die Entwickler solcher Systeme sprechen von einer „kontrollierten Selbstregulierung“: Die Systeme sind physisch dezentralisiert und digital zentralisiert. „Der ‚smarte Arbeitsplatz‘ oder der ‚smarte Handschuh‘ können physisch auf der ganzen Welt verteilt sein, während das Management in einem schwäbischen Dorf sitzt.“xiv Die Autorinnen und Autoren sehen in der zentralisierten algorithmischen Arbeitssteuerung eine „mögliche Kybernetisierung gesellschaftlicher Herrschaft“.xv

Crowdworking: atomisierte digitale Massenarbeit

In einer sogfältigen Expertise für die Wiener Arbeiterkammer heißt es: „Neben der überwiegend erwarteten Höherqualifizierung finden sich auf den zweiten Blick auch Einschätzungen einer Dequalifizierung von Arbeit. Je nach datentechnischer Unterstützung können manche Arbeitsprozesse auch hoch standardisiert und dann von Angelernten mit informationstechnischer Unterstützung oder Steuerung erledigt werden.“xvi Mit anderen Worten: Zu erwarten ist ein Heer von unter suboptimalen Bedingungen existierenden Hilfsarbeitern/-innen, die – ganz klassisch – repetitive Teilarbeit zu leisten haben, verbunden mit repetitiven digitalen Operationen. Diese Entwicklung vollzieht sich sowohl in der betrieblichen Arena als auch in „digitale(n) Crowds“, d.h. Aufträge werden in Kleinaufträge aufgespalten, im Internet weltweit angeboten und von Kleinselbständigen zu Dumpingpreisen ausgeführt. Was sich abzeichnet, ist nicht das Verschwinden von Arbeit, sondern eine Zersplitterung von Arbeit in eine ins Unendliche tendierende Zahl kleiner und kleinster Arbeitseinheiten. Im arbeitspolitischen Diskurs wird dieser Trend nicht für unumkehrbar, sondern gestaltbar gehalten. Diese Frage ist aber weder national noch europäisch, sondern nur global lösbar und ausfechtbar. Spätestens dann, wenn in Dienstleistungsbereichen Arbeitsplätze durch die Welt vagabundieren, ist das Problem globalisiert.

Moritz Altenried ist diesen Entwicklungen empirisch nachgegangen und stellt fest: „Digitale Ökonomien sind voller Beispiele für Lücken, in denen längst Algorithmen am Werk vermutet werden, de facto aber menschliche Arbeit benötigt wird.“xvii Festzustellen ist eine Rollenverkehrung zwischen Mensch und Computer: Millionen von Menschen – genaue Zahlen gibt es nicht, zweistellige Millionenzahlen dürfen vermutet werden – arbeiten gleichsam „händisch“ an Schnittstellen, um bestimmte Aufgaben für Computer handhabbar zu machen: Einspeisen von Informationen, Herausfiltern von Informationen, Bearbeiten von Interaktionen. Es sind hochgradig zerlegte, standardisierte und repetitive Arbeitsvorgänge, die weltweit, jenseits tradierter Fabrikräume, millionenfach in Heimarbeit, vereinzelt, isoliert, erbärmlich entlohnt und ohne jede soziale Absicherung verrichtet werden. Die Crowd-Arbeiter/innen führen in vielen Fällen nur noch Anweisungen der sogenannten künstlichen Intelligenz aus, permanent überwacht, zurechtgewiesen und unter Druck gesetzt. Altenried sieht darin eine neue Form kapitalistischer Landnahme und eine neue Form der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, dem es mittels digitaler Technologie gelingt, den Bereich ihrer Kontrolle global auszudehnen. Erzeugt wird eine neue Art von Massenarbeiter/innen, die nicht mehr wie im klassischen Taylorismus homogen und räumlich zusammengefasst ist, sondern völlig inhomogen und weltweit verteilt. Auf einer Plattform arbeiten Studierende, Rentner/innen und alleinerziehende Mütter hierzulande genauso wie ein indischer Programmierer, der mit seiner Arbeit eine ganze Familie ernähren muss. Altenried diskutiert auch die Frage der gewerkschaftlichen Organisierung, die vor dem Hintergrund globaler Atomisierung der Arbeitskraft neue konzeptuelle Ansätze erfordert. Internetforen und soziale Netzwerke erweisen sich dabei als Orte der Kommunikation und ansatzweise auch als Orte des gemeinsamen Widerstandes.xviii

Körperpolitik unter dem Vorzeichen „Arbeit 4.0“

Lässt man die neuere Literatur zur betrieblichen Gesundheitspolitik Revue passieren, schält sich als Zentralkategorie die „Leistungs- und Beschäftigungsfähigkeit“ heraus.xix Nicht die Arbeitswelt soll den menschlichen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Bedürfnissen, wozu auch Ruhe und Kontemplation gehören, angepasst werden, sondern der Mensch soll an die herrschenden Erfordernisse und Aufgabenzuschnitte der Arbeitswelt angepasst werden.xx Das leibkörperliche Potential wird so konditioniert, dass es im Sinne der Produktivitätserhöhung und Gewinnmaximierung „funktioniert“. Die immensen Arbeitsbelastungen, auch und gerade die psychischen Belastungen durch neue, neoliberal kontextualisierte Arbeitsanforderungen, können und sollen durch körperliche Fitness aufgefangen, abgefedert und kompensiert werden. Unfallversicherungsträger und Krankenkassen haben über ihre gemeinsame Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) diesen Punkt aufgegriffen und an die betrieblichen Multiplikatoren weitergereicht.xxi Zwar werden auch hier verhältnispräventive Maßnahmen empfohlen, doch liegt der Schwerpunkt angesichts des Wissens um fehlende oder mangelhafte Umsetzbarkeit auf der verhaltenspräventiven Seite. Der malträtierten Psyche, so die Argumentation der Gesundheitsförderer, könne durch körperliche Aktivität Gutes getan werden. Es werden Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung, Meditation oder Autogenes Training empfohlen. „Bewegung in Form von Betriebssport, Fitness oder Laufgruppen kann … ebenfalls dazu beitragen, Stress am Arbeitsplatz zu reduzieren. Sie sollte daher ein Bestandteil der betrieblichen Präventionsstrategie bilden. Sportliche Betätigung ist verbunden mit einer Reihe positiver psychologischer Effekte, beispielsweise dem Abbau negativer Empfindungen oder einem gesteigerten Selbstwertgefühl durch die Erfahrung, auch schwierige Situationen meistern zu können.“xxii

Wie stark die Körperpolitik der Eigenverantwortung bereits in das Alltagsbewusstsein eingedrungen ist, mögen folgende Zitatexxiii illustrieren:

„Und deshalb halte ich mich auch fit, jogge, mach Fortbildungen, das muss ich schon alles selbst in die Hand nehmen …“

„Anna hat es mit Yoga versucht. Weil die Arbeit an ihrem Körper schließlich Teil der Arbeit an ihrem Gesamtpaket ist.“

„Jeder einzelne muss dafür sorgen, dass er fit bleibt, sonst läuft er Gefahr, aus dem Ganzen herauszufallen.“

„Das fällt schon auf: Viele aufstrebende Leute strömen joggend in die Mittagspause, ausgerüstet mit Self-Trekking …“

Neoliberale Arbeitsverhältnisse erfordern neoliberale Bio- und Körperpolitik. Entgegen allen Träumereien von neuer Autonomie und erweiterten Handlungsspielräumen bei der Arbeit geht es im kapitalistischen Arbeitsprozess immer wieder um die kapitalkonforme Zurichtung des Menschen. Denken, Fühlen und Handeln müssen mit funktionalen, instrumentellen Anforderungen in Einklang gebracht werden. Eigene Gedanken, auch darüber, was man anderes produzieren könnte oder was ökologisch, sozial nützlich oder schädlich sei, sind dysfunktional. Sie sind dennoch vorhanden, müssen aber unterdrückt werden. Das Neue am subjektivierenden Arbeitshandeln – das ist die andere Seite des schmalen Grates – ist, dass es heute weniger einer äußeren Unterdrückung bedarf, weil das Subjekt diese Unterdrückungsleistung selbst vornimmt. „Die Freiheit wird ausgebeutet“, sagt Byung-Chul Han.xxiv Unter dem Vorzeichen „Arbeit 4.0“, „Agilität“ – oder wie sonst auch die Zauberworte heißen mögen – mutieren permanente Überforderung zur Normalität und oktroyierte Optimierung zu „Gesundheit“. Die psychosozialen Kosten sind erheblich.xxv Widerstandsenergien müssen eingezäunt, kanalisiert und abgebaut werden. Der dafür notwendige und zuweilen enorme Energieaufwand muss körperlich aufgebracht werden, und tatsächlich bieten Entspannung und Bewegung Kanalisierungsmöglichkeiten. Dass diese somato-neuro-psychischen Prozesse in einem Modus der Entfremdung ablaufen, ist ein de-thematisiertes Skandalon. Die ideologische Behauptung der Alternativlosigkeit wird in sogenannten qualifizierten Berufen oft mit achselzuckendem Bedauern hingenommen. Gleichwohl gibt es Anzeichen eines Bewusstseinswandels, der sich einstellt, wenn der Körper „Nein“ sagt. Am anderen Ende des Spektrums der arbeitenden Klassen melden sich die Massenarbeiter/innen zu Wort, die sich meist ungeplant, unorganisiert und spontan ihrem Ärger Luft machen und die Welt darauf hinweisen, dass die Arbeitsverhältnisse keinesfalls menschengerecht sind.

Wolfgang Hien

Ausführlicher dargestellt in: Die Arbeit des Körpers. Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart. Mit einem Nachwort von Karl Heinz Roth, Mandelbaum, Wien 2018.

i Exemplarisch: Hans Paul Bahrdt et al.: Zwischen Drehbank und Computer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1970. Horst Kern / Michael Schumann: Ende der Arbeitsteilung? Beck, München 1984; Fritz Böhle: Körper und Wissen. In: Soziale Welt, Jh. 49, 1989 Heft 4, S. 497-512

ii Jürgen Mendner: „Humanisierung“ oder Automatisierung? In: Kursbuch 43, Berlin 1976, S. 135-145, hier: S. 144

iii Tom Adler: Rollback ohne Widerstand. In: Lunapark21, Heft 19, S. 27

iv Michael Schumann et al. (Hg.): Auto 5000. Ein neues Produktionskonzept. VSA, Hamburg 2006

v Wildcat 79, Herbst 2007, S. 33-38

vi Ebenda, S. 37

vii Ebenda, S. 38

viii Wildcat 86, Frühjahr 2010, S. 35-43

ix Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972

x Martin Ehrlich et al.: Digitale Prekarisierung. Neue Verwundbarkeiten und Abwertungsprozesse in der Industriearbeit. In: Prokla 187, 2017, S. 193-211

xi Ebenda, S. 204

xii Eva-Marian Reffetseder / Simon Schaupp / Philipp Staab: Kybernetik und Kontrolle. Algorithmische Arbeitssteuerung und betriebliche Herrschaft. In: Prokla 187, 2017, S. 229-247

xiii Ebenda, S. 240

xiv Ebenda, S. 243

xv Ebenda

xvi Ursula Holtgrewe / Thomas Riesenecker-Caba / Jörg Flecker: Industrie 4.0 – eine arbeitssoziologische Einschätzung. Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt. Arbeiterkammer Wien 2015, S. 30

xvii Moritz Altenried: Die Plattform als Fabrik. Crowdwork, Digitaler Taylorismus und die Vervielfältigung der Arbeit. In: Prokla 187, 2017, S. 175- 191, hier: S. 181

xviii Ebenda, S. 190

xix Wolfgang Hien: Paradoxien der betrieblichen Gesundheitspolitik. In: Derselbe: Kranke Arbeitswelt. VSA, Hamburg 2016, S. 111-122

xx Vgl. dazu für die wegweisende Studie von Richard Sennett: Der flexible Mensch. Berlin, Berlin 1998

xxi Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) (Hg.): Psychische Gesundheit im Arbeitsleben. IGA-Fakten Nr. 1. IGA, Essen 2008

xxii Ebenda, S. 8

xxiii Herkunft der Zitate detailliert aufgeführt in: Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Mandelbaum, Wien 2018, S. 299

xxiv Byung-Chul Han: Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machtechniken, Fischer, Frankfurt am Main 2015

xxv Vera King et al.: Überforderung als neue Normalität. In: Thomas Fuchs et al.: Das überforderte Subjekt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018, S. 227-257

Erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019, S. 40-44.

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