Gezielter Verschleiß der Arbeitskraft – staatlich gefördert

Die vier Hartz-Gesetze – erweiterte Leiharbeit, Teilzeit/Minijobs, gekürztes Arbeitslosengeld, Disziplinierung der Arbeitslosen – waren nur der Anfang. Die Verbilligung, Flexibilisierung, Ausbeutung und verrechtlichte Entrechtung der abhängigen Arbeit ist seitdem vielfältig ausgeweitet worden.

Die EU fördert zudem das Management von billigen und willigen WanderarbeiterInnen aus den neuen Mitgliedsstaaten Osteuropas und des Balkans. Selbst bei der Verletzung der niedrigen gesetzlichen Standards bleiben Unternehmer fast immer straflos.

Arbeiterstrich

Beim sommerlichen Bau-Boom nimmt die Zahl der offiziellen Arbeitsplätze kaum zu. Denn in jeder größeren Stadt wird von Schleusern öffentlich ein Arbeiterstrich betrieben. Scheinselbständige und unversicherte Arbeitsmigranten werden kurzfristig auf Abruf abgeholt, die Stundenlöhne von drei bis sechs Euro werden oft bar ausgezahlt, manchmal gar nicht. Wenn ein gesundheitlich verschlissener Tagelöhner in seinem illegalen Zelt unter einer Brücke gestorben ist – kein Skandal. Arbeitsaufsicht, Zoll und Polizei schauen zu bzw. weg. Diese Arbeitsausbeutung von Migrantinnen und Migranten, einschließlich der verbreiteten sexuellen Zwangsprostitution, bleibt straflos. Einschlägig sind Strafgesetzbuch § 232 und 233 – aber die Strafverfolgung ist gleich Null, wie die Bundesregierung eingestand.

Berufskrankheiten: wegmanipuliert

Unter Olaf Scholz und Ursula von der Leyen wurde im Arbeitsministerium die Abteilung für Arbeitsmedizin abgebaut, der langjährige Leiter der Abteilung Berufskrankheiten wurde 2010 in die Frühpension hinausgedrängt. § 104 des Sozialgesetzbuches VII stellt die Unternehmer bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten von jeglicher Haftung frei.

Deshalb können die von den Unternehmern finanzierten Berufsgenossenschaften (BG) noch freier mafiotisch agieren, in Eigenregie, ohne staatliche Kontrolle. Nur 7 Prozent der Anträge auf Zahlung einer Rente wegen einer berufsbedingten Krankheit werden anerkannt. Für die BG sind Universitätsprofessoren als hochbezahlte Gutachter tätig, ohne Rechtsgrundlage, denn sie sind keine Ärzte – sie werden hilfsweise als „beratende Ärzte“ bezeichnet. Dieses tödliche Schattenreich wird von den Bundesregierungen geschützt.

Und wer spricht schon von der seit 2005 angestiegenen Zahl der 2.576 Beschäftigten, die 2016 durch Berufskrankheiten starben und den 557 Toten durch Arbeitsunfälle? Und dass 2018 die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf 741 angestiegen ist? Dabei ist die Dunkelziffer enorm, denn hier handelt es sich nur um Beschäftigte, die ordentlich versichert waren.

Schutz vor Gefahren am Arbeitsplatz?

Die Gewerbeaufsicht ist zuständig für den Schutz der Beschäftigten vor Gefahren am Arbeitsplatz. Das ist durch zahlreiche Gesetze geregelt, etwa die Arbeitsstätten- und die Gefahrstoff-Verordnung, das Arbeitssicherheits- und das Chemikaliengesetz und durch EU-Richtlinien. Außerdem ist die Gewerbeaufsicht noch für den Umwelt- und Verbraucherschutz zuständig, etwa für die Lebensmittelüberwachung und für die Hygiene in den Schlachthöfen und für die Abfallentsorgung.

Während Zahl und Komplexität der Gesetze zunehmen, bauen die zuständigen Bundesländer Personal ab. So wurde die Zahl der Arbeitsschutzkontrollen seit 1996 bis 2017 auf ein Drittel verringert, von 600.000 auf 200.000 im Jahr. Ein Betrieb hat nur alle 30 Jahre mit einer Kontrolle zu rechnen.

Gezielte Unterbesetzung des Zolls

Der Zoll untersteht dem Bundesfinanzministerium. Er soll an den Grenzen die Verzollung sichern, Steuern eintreiben und die Geldwäsche bekämpfen.

Daneben ist der Zoll für die Einhaltung von Arbeitsrechten zuständig. Einschlägige Gesetze sind etwa die zum Mindestlohn und zur Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit). Er soll die Unternehmen auch kontrollieren, ob sie die Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlen. Die CDU wollte den Mindestlohn sowieso nicht. Die nach der Einführung des Mindestlohns 2015 beschlossenen zusätzlichen 450 Personalstellen wurden sofort auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übertragen. Die später bewilligten zusätzlichen 1.400 Stellen sollen erst im Laufe von fünf Jahren geschaffen werden. Auch diese sind zu wenig angesichts der ausufernden Unternehmerpraxis der nationalen und internationalen „Versubbung“, d.h. der Bildung von Subunternehmerketten etwa bei der Paketauslieferung, im Reinigungs- und Taxigewerbe und bei Essensdiensten, verbunden mit prekärer Scheinselbständigkeit. Laut Jahresbilanz 2018 des Zolls wurden 53.000 Betriebe kontrolliert – bei 3,4 Millionen Betrieben in Deutschland.

Mitbestimmung – weitgehend Fehlanzeige

Die Arbeitsbedingungen – z.B. Schichteinteilung, Überstunden, Digitalisierung – unterliegen zumindest teilweise der Mitbestimmung durch die Betriebsräte. Doch nur in 26.000 Betrieben gibt es einen Betriebsrat nach Betriebsverfassungs-Gesetz – bei 691.000 Betrieben, die ab fünf regelmäßige Beschäftigte haben und somit einen Betriebsrat haben könnten.

Schon durch die geringe Zahl der Betriebsratsgremien ist die Mitbestimmung eingeschränkt. Durch die dauerhafte Arbeitslosigkeit und das dauerhafte Lohndumping – Leiharbeit, Werkverträge, Versubbung und Auslagerung – sind diese wenigen Betriebsräte erpressbar.

Unternehmer brechen ungestraft Arbeitsgesetze

Unter dieser Komplizenschaft des Staates können Unternehmer in Deutschland selbst solche Gesetze wiederholt und flächendeckend brechen, die ohnehin einen niedrigen Standard festschreiben. So wurde 2,6 Millionen Beschäftigten im Jahre 2016 der Mindestlohn nicht gezahlt. 3 Millionen Minijobbern wurden Urlaubs- und Krankengeld vorenthalten. Pro Jahr erpressen Unternehmer etwa eine Milliarde Überstunden, die nicht bezahlt werden. Das sind nur die offiziell durch die Unternehmer dokumentierten Überstunden. In Wirklichkeit ist die Zahl der unbezahlten Überstunden wesentlich höher. Bei solchen Verstößen bleiben Unternehmer fast immer straflos.

Die Be- und Verhinderung von Betriebsräten ist nach § 119 Betriebsverfassungs-Gesetz eine Straftat, die auch mit Gefängnis bestraft werden kann – diese Straftat steht neben dem sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche an der Spitze der justiziellen Nicht-Verfolgung.

Werner Rügemer, Vorsitzender der aktion gegen arbeitsunrecht (https://arbeitsunrecht.de); letzte Buchveröffentlichung: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. Köln 2018

Erschienen in lunapark21 Heft 46 / Sommer 2019, S. 47f.

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