Außenpolitik als Naturwissenschaft auf dem Bierdeckel

Ein kritischer Blick auf den britischen Experten für foreign affairs Tim Marshall

Beginnen wir mit einem Zitat des Dichters Peter Hacks: „Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose. Wenn die Innenpolitik die Durchsetzung von Gedanken zwar nicht zum Ziel hat, so arbeiten doch die Klassen, wenn sie ihre Machtkämpfe betreiben, unbewußt und nebenher an einem Gesamtgefüge, dem Staat. So ein Staat hat eine Grenze, die ist der Rand, bis zu dem man gehn kann, und der Rahmen, innerhalb dessen Fortschritte sich abstecken und messen lassen.

Die einzelne Klasse hat gelernt, ihr Bedürfnis mit dem der Gesellschaft zu vereinbaren. Indem sie um den Rang in der Gesellschaft streitet, erkennt sie sie an. Indem sie sich bemüht, das Ganze nach ihren Vorstellungen zu gestalten, bemüht sich um das Ganze. Sie hält den Kampfort sauber, der auch ihr Wohnort ist. Für den einzelnen Staat gilt das alles nicht. Es gibt keine Staatengesellschaft. Für eine bessere Gesellschaft geht zu kämpfen, nicht für eine bessere Welt.“1

Die Schönheit dieser Zeilen beruht auf ihrer Hermetik, ihrer inneren Stimmigkeit unter vorgegebenen Voraussetzungen. Sie würde zerstört, kämen weitere Überlegungen und Fakten hinzu. Das wäre ebenso ruinös, als wollte man einem gereimten Gedicht mit fester Metrik Prosa und Fußnoten einfügen. So entsteht eine Welt für sich, die kein Außen duldet. In dem sehr engen Rahmen, den er zieht, stellt der Dichter sich nicht die Frage, warum Staaten, denen er Vernunft zuspricht, außerstande sein sollen, eine internationale Ordnung zu errichten, in der diese sich ebenfalls durchsetzt. Falls es Gründe für eine solche Unmöglichkeit geben sollte, können sie bei dieser Selbstbeschränkung seiner Argumentation nicht genannt werden.

Die Vorlage für die hier referierten düsteren Überlegungen von Peter Hacks findet sich bei Thomas Hobbes (1588-1679). In seinem Buch „Leviathan“ (1651) bezeichnet er einen so genannten Naturzustand – anders als später Rousseau – als eine Art Hölle, in der ein ständiger Krieg aller gegen alle herrschte. Die Rettung kam dadurch, dass die Menschen durch einen Gesellschaftsvertrag den Staat schufen und ihm das Gewaltmonopol übertrugen.

Alle gegen alle

Dies gelang aber, so Hacks, nur in der Innenpolitik. In den Beziehungen zwischen den Staaten herrschte stattdessen ein Wechsel zwischen Krieg und Waffenstillstand. Letzterer galt als Frieden. Das Völkerrecht war weit weniger stabil als das Staatsrecht.

Der „Leviathan“ wird zuweilen als Reaktion auf den englischen Bürgerkrieg (1642-1649) verstanden. Hobbes war Zeitgenosse des Dreißigjährigen Kriegs auf dem europäischen Kontinent (1618-1648).

Im zwanzigsten Jahrhundert gab es eine ähnliche Beziehung zwischen aktueller Erfahrung und Lehren, die daraus zu ziehen seien. Der 1919 beschlossene Völkerbund, dessen Satzung 1920 in Kraft trat, suchte Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg zu ziehen. Er sollte eine verbindliche Ordnung transnationalen Rechts schaffen, die die Wiederholung einer solchen Katastrophe ausschloss. Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 ächtete den Krieg. Beide Initiativen scheiterten: Es fehlte eine hinreichend starke Instanz mit Sanktionsgewalt.

Der zweite Versuch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gründung der Vereinten Nationen (1945) unternommen. 1946 erklärte Albert Einstein: „Es muß eine Weltregierung geschaffen werden, welche die Konflikte zwischen Nationen durch richterliche Entscheidungen zu lösen imstande ist. Diese Entscheidungen müssen auf eine klare Verfassung gegründet werden, welche von den Regierungen und Völkern gebilligt ist, und welche allein über die Angriffswaffen zu verfügen hat.“

Eine solche Weltregierung war und ist die Uno nicht. Gleichsam als Surrogat verhinderte das atomare Gleichgewicht des Schreckens zwischen der UdSSR und den USA, dass der Kalte Krieg zwischen diesen zu einem Heißen wurde oder dass irgendein regionaler bewaffneter Konflikt – und derer gab es viele – einen Weltbrand auslöste. Unter diesem prekären Schutzschirm hegte Willy Brandt Hoffnungen auf eine friedliche Weltinnenpolitik. Nach dem Ende der sowjetisch-US-amerikanischen Bipolarität ist offenbar ein neues Zeitalter der Kriege angebrochen. Es weist auf der internationalen Ebene Züge jenes Kampfes aller gegen alle auf, die Thomas Hobbes als charakteristisch für die inneren Zustände vor dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags charakterisierte.

Erdkunde

Der britische Krisengebiets- und Kriegsreporter Tim Marshall beschreibt das Szenario in zwei Büchern: „Die Macht der Geographie“2 und „Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert“3. Die Handlungsmöglichkeiten von Staaten werden bei ihm von Ebenen, Gebirgen, Wüsten und Meeren eingeschränkt und gefördert. Hierfür drei Beispiele:

Von den Zaren über die Sowjetunion bis heute – immer habe Russland ein großes geopolitisches Problem gehabt: die „weite nordeuropäische Tiefebene“.4

Über sie sei es von Napoleon und Hitler angegriffen worden. Hier sehe es sich bedroht. Kein Wunder, dass es dieses Vorfeld unter Kontrolle halten wolle. Stünde der Himalaja in der Ukraine, könnte Putin besser schlafen.

Oder die Volksrepublik China: Über Taiwan könne sie blockiert oder angegriffen werden, wenn sie es nicht als ihr eigenes Staatsgebiet beherrsche.

Dagegen die USA: Zwei Weltmeere halten mögliche Feinde auf Distanz. Auf den Gegenküsten genügten Brückenköpfe mit Verbündeten. Das ist ein großes Glück: „Der preußische Staatsmann Otto von Bismarck machte vor über hundert Jahren ein zweifelhaftes Kompliment: ›Das Schicksal beschützt Kinder und Idioten, Betrunkene … und die Vereinigten Staaten von Amerika.‹“5

Während also China und Russland unter geopolitischen Sachzwang gesetzt seien, könnten die USA das Land der Freiheit sein.

Marschall belässt es nicht bei diesen drei Großmächten. Er legt eine politische Kartographie des gesamten Globus vor, bezieht auch den Weltraum ein und macht das Nachdenken über Außenpolitik zu einer Art Naturwissenschaft.

Im übertragenen Sinn könnte die Metaphorik von Thomas Hobbes dazu einladen. Dort gibt es, wie gezeigt, ja einen Naturzustand. Mag er durch den Gesellschaftsvertrag im Innern überwunden sein, so besteht er draußen weiter fort. Es kann gefragt werden, weshalb sich Staaten so benehmen, wie sie es tun. Den Titel seines Hauptwerks – „Leviathan“ – entnimmt Hobbes dem Alten Testament. Dort ist der Mensch böse von Jugend an und muss von Gott durch Strafe und Belohnung im Zaum gehalten werden. Diese lenkende und disziplinierende Macht wird bei Marshall durch geophysikalische und maritime Gegebenheiten ersetzt. Eine Theorie, die sich daraus entwickeln lässt, passt auf den Bierdeckel eines Stammtischs.

Der Fehler liegt in der Reduzierung der Vielfalt tatsächlicher und möglicher internationaler Beziehungen auf Geopolitik. Ökonomie zum Beispiel ist fast ohne Bedeutung. Politik – hier: Außenpolitik mit Alternativen zwischen wenngleich abhängigen Variablen – wird überflüssig. Man fragt sich, weshalb sie angesichts der von Marshall beschriebenen Naturkonstanten nicht längst schon aufgehört hat und eine globale Friedhofsruhe eintrat, die nur von Zeit zu Zeit durch technische Innovationen und den Unverstand der Massen, die Unabänderliches nicht einsehen oder gar eine bessere Welt für sich wollen, gestört wird.

Georg Fülberth lebt als emeritierter Professor in Marburg.