… und jetzt wird enteignet?

Interview mit Rouzbeh Taheri

Zum erfolgreichen Berliner Volksentscheid ein Interview mit Rouzbeh Taheri, dem Sprecher der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, die den Volksentscheid parallel zur Bundestagswahl und zur Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September organisiert hat. Knapp 60 Prozent und über eine Million Berlinerinnen und Berliner votierten für eine Enteignung.

Am 26. September gab es ja auf Bundesebene wenig ermutigende Ergebnisse für diejenigen, die fortschrittliche Politik machen wollen. Ganz anders sah das in Berlin aus. Dein Kommentar dazu war: „Die Berlinerinnen und Berliner haben heute Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal in Deutschland haben sie für die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne gestritten.“ Warum „Geschichte“? Und: Tickt Berlin anders als der Rest des Landes?

Rouzbeh Taheri: Der Artikel 15 des Grundgesetzes zur Vergesellschaftung wurde zwar von Sozialdemokraten und Kommunisten im Parlamentarischen Rat erstritten, in der Geschichte der Bundesrepublik aber nie umgesetzt. Es gab in Parlamenten nie entsprechende Mehrheiten und auch nie den politischen Willen. Nun hat die Berliner Bevölkerung ein direktdemokrtisches Votum für die Umsetzung dieses Artikels abgegeben unter bewusster Umgehung der Parlamente. Das ist schon ein historisches Ereignis. Dieses Votum strahlt auch auf andere Bereiche aus. Eine Diskussion über Eigentumsstrukturen in der Wirtschaft ist nicht länger tabu. Der Leidensdruck ist in Berlin etwas höher als im Rest der Republik. Hier sind die Mieten viel schneller in die Höhe geschossen als beispielsweise in München. Die Menschen in Berlin begreifen permanente Mieterhöhungen nicht als ein Naturgesetz und sind eher bereit, sich zu wehren. Das Grundproblem der explodierenden Mietpreise besteht aber in vie len Städten der Bundesrepublik.

Während der Volksentscheid eine satte Mehrheit für Enteignung der großen Wohnungskonzerne brachte, erhielt die Partei, die euch als einzige offen unterstützte, bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus nur 14,1 Prozent und einen Dämpfer. In der neuen Koalition ist sie jetzt nur noch drittstärkste Kraft. Welche Gründe gibt es dafür?

Der Bundestrend hat sich auch in Berlin durchgesetzt, „Die Linke“ hat überall verloren, in Berlin aber nur halb so viel wie im Bundesdurchschnitt. In einzelnen Stadtteilen, wo das Ergebnis der Volksabstimmung besonders gut war, hat sie sogar dazugewonnen. Es scheint mir, als ob die Menschen zu einzelnen Initiativen mit klaren Forderungen mehr Vertrauen haben als zu Parteien mit ihren komplexen Programmen und ihren teilweise einander widersprechenden Botschaften.

Die neue rot-grün-rote Landesregierung will auf das klare Votum pro Vergesellschaftung reagieren, indem der Senat „in den ersten hundert Tagen“ eine „Expertenkommission „ einberuft, die zunächst „rechtssichere Schritte einer Vergesellschaftung benennen und bewerten“ soll. Das klingt nach Hinhaltetaktik und Aussitzen…

Das Ziel der SPD ist, uns am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Das haben sie schon oft im Laufe der Kampagne versucht. Eine Kommission, die ein Jahr braucht, um dann nur Empfehlungen auszuarbeiten, die „gegebenenfalls“ in Eckpunkte umgewandelt werden, woraus dann erst ein Gesetz gemacht werden soll, ist keine Umsetzungs- sondern eine Verzögerungskommission. Wir wissen aber, dass wir bisher jedes Mal aus einem solchen Verzögerungsszenario stärker hervorgegangen sind. Auch diesmal werden wir den Druck aufrecht erhalten. Der Berliner Senat wird nicht in Ruhe ein Jahr lang vor sich hinkommssionieren können.

Besteht nicht die Gefahr, dass der Schwung der Massenbewegung für Vergesellschaftung der Wohnungskonzerne abebbt?

Die Gefahr des Abebbens einer Kampagne besteht immer. Wir haben uns aber drauf eingestellt und uns auf ein Weiterführen der Aktivitäten in den nächsten Monaten und Jahren vorbereitet. Wir konzentrieren uns auf unsere Stärken: Organisierung der Betroffenen, Kommunikation mit der Stadtgesellschaft und die permanente Skandalisierung der Missstände. Aus diesem Dreiklang heraus können wir Druck entwickeln. Das Thema Vergesellschaftung ist in Berlin weiterhin täglich in der Presse präsent. Egal wie die künftige Berliner Regierung aussehen wird, uns werden sie nicht los.

Die Fragen für Lunapark21 stellte Winfried Wolf.

Mehr lesen:

Die Menschen sind weiter als die Politik Die Bilanz von Wahlen. Welchen Wahlen? kolumne winfried wolf Am 26. September 2021 gab es zwei in vielerlei Hinsicht historische Wahlen, über d...