Leistung, Kapital, Staat und Kommunalpolitik

Biontech basiert auf öffentlichen Geldern und bewirkt die Senkung von öffentlichen Einnahmen aus Kapitalerträgen

In der vorigen Lunapark21-Ausgabe besprach Jürgen Bönig das Sachbuch „Projekt Lightspeed“, das der Journalist Joe Miller zusammen mit Özlem Türeci und Ugur Sahin verfasst hat. Wer es liest, wird voller Bewunderung für die wissenschaftliche und unternehmerische Leistung eines Forscher-Ehepaars sein, das 2020 sehr schnell einen Impfstoff gegen das Covid-19-Virus entwickelt hat.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel befindet, die Erfolgsgeschichte von Biontech „zeige auf, wie wir als Land sein könnten.“ Er folgt der liberalistischen Doktrin für die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme: Hightech, forciert durch geniale große Einzelne und findige Ingenieure plus Marktwirtschaft. Diese Erzählung soll im Folgenden geprüft werden.

Kapital

Als Christoph Huber, U ˘ gur ¸ Sahin und Özlem Türeci die Firmen Ganymed und dann Biontech gründeten, mussten sie sich auf dem Kapitalmarkt die dafür notwenigen Mittel besorgen. Damit waren von Anfang an außerwissenschaftliche Akteure im Spiel.

Hier ist zunächst von den Zwillingsbrüdern Andreas und Thomas Strüngmann zu reden. Anfangs waren sie Erben. Sie studierten Medizin und Betriebswirtschaftslehre. Ihr Vater hinterließ ihnen ein kleines Generika-Unternehmen. 1986 verkauften sie es für 100 Millionen D-Mark, gründeten Hexal und investierten später in Biontech. Die Strüngmanns halten 47 Prozent, der Höhenflug der Aktie steigerte 2020/2021 diesen Teil ihres Vermögens auf 42,3 Milliarden Euro.

Biontech allein wäre nie imstande gewesen, in Produktion und Vertrieb der enormen Nachfrage nach seinem Corona-Impfstoff gerecht zu werden, ohne die Partnerschaft mit dem US-amerikanischen Konzern Pfizer. Das deutsche Unternehmen ist auf diesem Teilgebiet eine Art Juniorpartner.

Weltweit sind Patientinnen und Patienten auf schmerzlindernde, lebensrettende und -verlängernde Pfizer-Medikamente angewiesen. Das ist die eine, die Gebrauchswertseite dieses Pharma-Riesen. Seine Geschäftspraktiken gelten als – gelinde gesagt – robust.

Staat

Wissenschaft + Kapital = Menschheitsbeglückung? Da fehlt etwas. Nennen wir es etwas ungenau: den Staat, präziser: die öffentlichen Hände. In Deutschland sind das der Bund, die Länder, Städte und Gemeinden sowie Gebietskörperschaften.

Ugur Sahin und Özlem Türeci hätten nie ihre wissenschaftliche Begabung in der nun zu Recht bewunderten Weise entfalten können, ohne ihre Ausbildung an öffentlichen Einrichtungen von der Grundschule bis zur Universität.

Ganymed und Biontech waren Ausgründungen aus der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Da war also vorher schon vom Land Rheinland-Pfalz investiert worden: in Gebäude nebst zugehöriger Infrastruktur, Gehälter von Wissenschaftler(inne)n bis zu Verwaltungsangestellten und Putzpersonal.

Die Arbeiten von U ˘ gur ¸ Sahin und Özlem Türeci, die ihrer Biontech-Gründung vorangingen, waren vom Bundesforschungsministerium finanziell gefördert worden. Als mit dem Ausbruch der Pandemie ihr Impfstoff dringend gebraucht wurde, waren Staaten mit riesigen Finanzspritzen zur Stelle.

Der Politikwissenschaftler Patrick Schreiner hat in seinem Blog „Blickpunkt WiSo“ darauf hingewiesen, dass Biontech von der Bundesregierung „375 Millionen Euro für die Entwicklung seines Impfstoffes erhalten“ habe und „die Impfstoffhersteller – auch Biontech – den allergrößten Teil ihrer Impfstoff-Umsätze durch den Verkauf an öffentliche Stellen (zumeist Regierungen)“ erzielen (https://www.blickpunkt-wiso.de/post/biontech-wuenscht-und-bekommt-steuergeschenk-dank-spd-und-gruenen–2402.html).

Druck oder vorauseilender Gehorsam?

Biontech produziert in Idar-Oberstein, Mainz und Marburg. Über die drei Kommunen ist 2021 ein Geldsegen hereingebrochen. Er kommt aus der Gewerbesteuer, die die Firma dort zu entrichten hat. Es gibt eine bundeseinheitlich festgelegte Steuermesszahl: 3,5 Prozent vom Gewinn. Die Gemeinden müssen diesen Betrag mit einem „Gewerbesteuerhebesatz“ von mindestens 100 Prozent einziehen, haben aber freie Hand, Letzteren darüber hinaus zu erhöhen. Bis 2021 lag er in Idar-Oberstein bei 420, in Mainz bei 440, in Marburg bei 400 Prozent. Dann kamen die Biontech-Millionen. In Mainz soll es sogar eine Milliarde gewesen sein. Dort und in Idar-Oberstein wurde der Hebesatz auf 310 Punkte gesenkt. Ob dies auf Wunsch von Biontech erfolgte, ist nicht bekannt. In Marburg teilte der Oberbürgermeister mit, es habe ein „Gespräch“ gegeben. Der Hebesatz wurde daraufhin auf 357 Punkte ermäßigt. Da in Marburg in diesem Zusammenhang eine lebhafte Debatte stattfand, sind die aktu ellen Vorgänge dort ausführlicher belegt als in Idar-Oberstein und Mainz. Der Oberbürgermeister machte geltend, die Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes helfe auch den kleineren Firmen, denn sie müssten nun weniger zahlen. Das ist unzutreffend. Bei der Berechnung der Gewerbesteuer wird ein Freibetrag von 24.500 Euro gewährt. Was etwa noch zu zahlen übrig bleibt, kann mit der Einkommensteuer verrechnet werden. Dies führt dazu, dass in Marburg über 80 Prozent der Betriebe keine Gewerbesteuer entrichten müssen. Nutznießer der jetzt erfolgten Senkung sind – neben Biontech – mehrere andere Unternehmen der Pharmabranche und die Deutsche Vermögensberatung AG der Milliardärsfamilie Pohl, die seit Jahren in dieser Stadt großen Einfluss hat.

Linke Schmerzen

Nach der Kommunalwahl 2021 gewannen die Grünen in Marburg mit 15 Sitzen, die SPD mit 14 und eine „Klimaliste“ mit vier die Mehrheit der 59 Mandate in der Stadtverordnetenversammlung. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister war an einer Koalition, der auch das Bündnis „Marburger Linke“ (sieben Mandate, davon fünf Mitglieder der Partei „Die Linke“, eines der DKP und ein Parteiloser) angehören sollte, interessiert. Dessen Ziel werde die „Sozialökologische Modernisierung“ sein. Dem Erweiterungsplan lag wohl auch ein parteipolitisches Kalkül zugrunde: Die Grünen waren die stärkste Fraktion geworden. In einer gleichzeitigen Stichwahl hatte der Oberbürgermeister sich nur mit einem Vorsprung von 95 Stimmen gegen deren Kandidatin durchsetzen können. Innerhalb einer Koalition allein mit Grünen und Klimaliste wäre die SPD in der Minderheit geblieben und erhoffte sich offenbar Verstärkung von der „Marburger Linken“.

Diese verhandelte in einen Koalitionsvertrag wichtige sozialpolitische Neuerungen hinein: Bezieher:innen von öffentlichen Transferleistungen (Grundsicherung, Hartz IV, Sozialhilfe, Wohngeld) sollen die Stadtbusse kostenlos benutzen können. In den kommunalen Betrieben sei der Mindestlohn auf 13 Euro anzuheben. Eine Erhöhung des Hebesatzes der Gewerbesteuer von 400 Punkten auf 440 – von der „Marburger Linken“ immer wieder und auch in ihrem Kommunalwahlprogramm gefordert – ließ sich nicht erreichen. Es war anzunehmen, dass es beim bisherigen Satz bleiben werde – offenbar ein stillschweigender und letztlich vertretbarer Kompromiss.

Kritiker:innen gaben zu bedenken, die „Marburger Linke“ solle nicht einer Koalition beitreten, zu deren Mehrheitsbildung in der Stadtverordnetenversammlung sie nicht gebraucht werde. Ihnen wurde entgegengehalten: Mit ihren 11,4 Prozent bei der Kommunalwahl 2021 (nach 13,8 im Jahr 2021) sei die „Marburger Linke“ auch Wähler:innen verpflichtet, die von ihr nicht nur Opposition, sondern auch konkrete Verbesserungen ihrer persönlichen Lage erwarteten. Dem komme eine Präsenz in der kommunalen Exekutive entgegen, und zwar folgendermaßen:

Laut Koalitionsvertrag sollte zusätzlich zu den bisherigen drei hauptamtlichen Magistratsstellen eine vierte eingerichtet werden. Das Vorschlagsrecht nach erfolgter öffentlicher Ausschreibung werde der „Marburger Linken“ und der Klimaliste zustehen. Letztere war aus der Bewegung gegen die Rodung des benachbarten Dannenröder Forsts hervorgegangen. Die Grünen mochten deren sehr junge Aktivist:innen sich wohl als eine Art Vorfeld für sich wünschen. Befänden diese sich aber innerhalb einer Koalition mit einer sozialistischen Organisation, könnten interessante Differenzierungen und Wechselwirkungen entstehen.

Auf einer Mitgliederversammlung der „Marburger Linken“ stimmten fast drei Viertel der Anwesenden für den Koalitionsvertrag. Er wurde unterschrieben und öffentlich präsentiert. Zeitgleich wurde bekannt, dass der Oberbürgermeister Biontech die Senkung der Gewerbesteuer auf 357 Punkte zugestanden hatte. Die dafür notwendige Änderung der Steuersatzung lehnten alle Stadtverordneten der „Marburger Linken“ ab. Anschließend wurde der Jahreshaushalt 2022 beraten und verabschiedet. Vier linke Stadtverordnete enthielten sich der Stimme, drei votierten mit Nein.

Auf den ersten Blick mag das an die katastrophale Darbietung der Bundestagsfraktion bei der Entscheidung über einen Evakuierungs-Einsatz der Bundeswehr 2021 erinnern: fünf Ja, sieben Nein, die Mehrheit enthielt sich. Der Vergleich ist schief. Nach dem Wirrwarr im Bundestag wusste niemand mehr, wo „Die Linke“ in einer Frage, die zu ihren außenpolitischen Kernanliegen gehörte, stand. In Marburg gab es zwar zwei verschiedene Voten, aber sie waren nicht divergent. Ob Nein oder Enthaltung: Beide mündeten in den Austritt aus der Koalition, die die Fraktion auch sofort bekanntgab.

Anders in Idar-Oberstein: Dort hatte die Linksfraktion (ihre Vorsitzende gehört der DKP an), obwohl sie nicht in eine Magistratsfraktion eingebunden, sondern Opposition war, dem Haushalt 2021 zugestimmt – erstmals. Begründung: Der Hebesatz war wegen der starken Verschuldung der Stadt erhöht worden. Jetzt votierte sie auch für den Etat von 2022, obwohl er die Senkung auf 310 Punkte enthielt.

Der Unterschied bestand darin, dass von der „Marburger Linken“ vorher eine Erhöhung auf 440 gefordert worden war und sie bei einer Zustimmung insofern ein Glaubwürdigkeitsproblem gehabt hätte.

Allerdings geschah dies unter Schmerzen. Einige Vertreter:innen der „Marburger Linken“ hatten ein schlechtes Gewissen. Sie fürchteten, Menschen enttäuscht zu haben, die nicht nur Opposition, sondern auch praktische Verbesserungen von ihnen erhofft hatten: kostenlose Benutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs und 13 Euro Mindestlohn für städtische Bedienstete.

Diese Versprechen im Koalitionsvertrag wurden nach Wunsch der „Marburger Linken“ aber auch von den Grünen, der SPD und der Klimaliste unterschrieben, und da stehen sie noch. Über die Bewilligung der finanziellen Mittel entscheidet nicht der hauptamtliche Magistrat, sondern die Stadtverordnetenversammlung. Dort hat die Zustimmung zu diesen beiden Fortschritten dieselbe Mehrheit wie bisher.

Zusammenfassung

Die Forschungsleistung von Ugur Sahin und Özlem Türeci rettet Menschenleben.

Ihre Erbringung und Durchsetzung wurde ermöglicht durch die Investitionen von renditesuchendem Kapital und Förderung mit Steuergeldern.

Den ökonomischen Vorteil daraus ziehen die Aktionärinnen und Aktionäre. Er wird noch erhöht durch kommunale Steuergeschenke an die Unternehmen nicht nur der Pharmaindustrie.

Eine politische Kraft, zu deren programmatischem Kernbestand die steuerliche Umverteilung von oben nach unten und in diesem Kontext auch die Anhebung kommunaler Steuern auf Profite gehört, kann nicht in einer Koalition verbleiben, die ihr zumutet, eine Umverteilung in umgekehrter Richtung zu tolerieren.

Georg Fülberth lebt als Professor im Ruhestand in Marburg. Zu seinem 80. Geburtstag erschien 2019 eine Auswahl seiner LP21-Beiträge: Georg Fülberth, „Unter der Lupe – Analysen und Betrachtungen zum gewöhnlichen Kapitalismus“, 200 Seiten, 14,90 Euro, Papy Rossa.