Was nützt eine Kategorie des 19. Jahrhunderts für das Verständnis der gegenwärtigen Lage?
Es gibt zur Zeit zu viele Bonapartisten in der Welt, als dass deren Wandel sich friedlich vollziehen könnte. Putin scheint einer dieser Herrscher zu sein, deren Verhalten unvorhersehbar machtbesessen und auf die Erhaltung ihrer Herrschaft ohne Rücksicht auf die Kosten für sein Land und andere gerichtet ist.
Als Begriff wurde Bonapartismus erstmals auf die Herrschaft Louis Bonapartes, des Neffen von Napoleon angewendet. Louis-Napoléon Bonaparte oder Napoleon III. (1808-1873) wurde nach dem Aufstand der Pariser Arbeiter 1848 zum französischen Staatspräsidenten gewählt und machte sich 1851 durch einen Staatsstreich, wie zuvor sein Onkel Napoleon I., zum Diktator und 1852 zum Kaiser der Franzosen.
Karl Marx bemerkte, dass die Fähigkeit des Neffen Napoleons, scheinbar über den Klassen zu schweben und Gruppen und Klassen gegeneinander auszuspielen, mit der Transformation der französischen Gesellschaft zusammenhing, die die kapitalistische Produktionsweise in vielen Geschäftszweigen erst allmählich umzusetzen begann. Zu den Unterstützern Louis-Bonapartes zählte vor allem die große Masse der Bauern, die zum ersten Mal bürgerliches Eigentum an ihrem Grund und Boden hatten, und noch lernen mussten, dass ihre Landwirtschaft nicht nur Kraut und Rüben, sondern Geld und Zinszahlungen bedeuteten.
Es gibt keinen Text von Marx, abgesehen vielleicht von seinem Hauptwerk Das Kapital, der so missverstanden worden ist und so beliebig benutzt wird, wie der Text Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Der komplizierte Text mit seiner komplexen Analyse erschien 1852 in einer Zeitschrift in New York und wurde in Europa erst wieder zugänglich, als der Hamburger Verleger Otto Meißner nach der Veröffentlichung des Ersten Bandes des Kapital 1867 Marx bat, den Achtzehnten Brumaire zu überarbeiten und erneut zu veröffentlichen. Eine Revision des Textes gelang Marx nicht, er lieferte nur ein Vorwort für diese zweite Ausgabe, die 1869 in Hamburg erschien. Der unveränderten dritten Ausgabe von 1885 fügte Friedrich Engels ein kurzes einordnendes Vorwort bei.
Geholfen hat es nicht. „Bonapartismus“ wird seither ohne analytische Tiefe verwendet für unterschiedlichste Gesellschaften, Klassenlagen und Produktionsstrukturen, um jähen Wendungen und Irrationalitäten von politisch Handelnden ein Etikett zu geben.
Dabei werden zwei Grundelemente der Analyse oft nicht beachtet – zum einen, dass es sich um eine Gesellschaft mit verschiedenen Klassen handelt, von denen sich mindestens eine im Übergang zu einem anderen Verhältnis zu den Produktionsmitteln befindet, der alle Beteiligten zutiefst verunsichert. Zum gelingenden Bonapartismus gehört zweitens, dass es der herrschenden Clique gelingt, den Widerstand aller anderen Gesellschaftsschichten auszuschalten und nach einem ersten Sieg – im Falle von Napoleon III. den über die zahlenmäßig kleine Arbeiterklasse – nacheinander alle übrigen gesellschaftlichen Widerstände durch Spaltung, Korruption, Gegeneinanderhetzen zu erledigen. Es bleibt dann nur der Bonaparte übrig, der mit seiner Räuberbande die Interessen aller übrigen Klassen zu repräsentieren scheint, nachdem er die organisierte Vertretung aller anderen Klassen und Schichten zertreten hat. Das bürgerliche Eigentum wurde im historischen Fall dad urch gerettet, dass man Bürger ums Leben brachte und zugunsten der eigenen Herrscherclique bestahl.
Welche Transformation vollzieht Russland?
Waldimir Putin hat die russische oder besser die sowjetische Gesellschaft durch zahlreiche und heftige Transformationen begleitet. Die wichtigste, die ihm den Nimbus des Retters gab, war die Überwindung des regellosen Kapitalismus, der der Zerlegung der sozialistischen Gesellschaft oder der Gesellschaft mit Staatseigentum an Produktionsmitteln gefolgt war. Durch Aneignung des ehemaligen Staatseigentums durch ehemalige Bürokraten war ein Gangstertum der persönlichen Willkürherrschaft entstanden, die kein geregeltes kapitalistisches Funktionieren der Gesellschaft ermöglichte. Putin beendete diesen Zustand durch seine autokratische Herrschaft, allerdings nur unvollkommen – es blieb die Willkür, jederzeit einem Eigentümer von Geld oder ehemaligen Staatsfabriken die Gunst entziehen zu können und den Besitz einem anderen zuzuschlagen, der persönlich oder politisch momentan geeigneter erscheint.
Napoleon III. herrschte, indem er sich den Besitz ehemaliger Unterstützergruppen unter den Nagel riss oder durch inszenierte Aktienspekulationen den Raub auf offener Bühne als Geschäft vollziehen ließ. Weil es sich bei Louis-Bonaparte wie bei Putin wesentlich um die politische Macht über die Ökonomie handelt, wohnt diesem Vorgehen eine Unvorhersehbarkeit inne, die die herrschende Klasse mit Angst erfüllt, wen es als nächstes treffen könnte, dem Besitz und Freiheit genommen werden. Das wiederum verwandelt die Mitchargen dieser Herrschaft in ziemlich erbärmliche Claqueure, die das Schauspiel der Herrschaftsbestätigung unter allen Umständen mitzuspielen versuchen.
Napoleon III. verkalkulierte sich, als er 1870 zur Stabilisierung seiner Herrschaft auf die Provokationen des preußischen Bonaparte, Otto von Bismarck, einging und selbst in den Krieg zog, den er verlor. Nach seinem Sturz waren Preußen und Frankreich einig, dass zuerst die Pariser Kommune beseitigt werden musste als derjenige Teil der Gesellschaft, der bei der Verteidigung Frankreichs das Privateigentum infrage stellte.
Welche Rationalität?
Erkennbar ist Putins Herrschaft vor dem Krieg gegen die Ukraine durch die Schwierigkeiten seiner Ökonomie in Bedrängnis geraten. Als Oberbefehlshaber eignet er sich nun die Rolle des Beschützers des ehemals sowjetischen Machtbereiches, oder genauer, des ehemaligen Reiches des russischen Zaren an, die alle Zweifel an seiner Herrschaft ausräumen soll – wenn der Raubzug denn gelingt.
Machttechnisch hat Putin alle Vorbereitungen dazu getroffen: auf die Sanktionen des Westens wegen der Eroberung der Krim eigene Kapazitäten für die landwirtschaftliche und industrielle Produktion aufgebaut, die Rohstoffe und Energieträger, die den größten Teil der Einnahmen des russischen Staates ausmachen, in den letzten Jahren verzögert geliefert und verknappt, so dass deren Preis stieg.
Es scheint aber, dass Putin ein Element des Transformationsprozesses, den die Produktion der ganzen Welt gerade durchmacht, nicht ausreichend beherrscht: das ist die Digitalisierung und deren materielle Voraussetzung, die die Kommunikation, die Produktion und den Konsum radikal wandelt.
Trotz aller Cyberangriffe, die von Russland auch in diesem Krieg ausgehen, scheint die materielle und ideelle Grundlage der Digitalisierung gehemmt. Die Erkenntnis, dass dies gegenwärtig noch so ist, könnte auch der Grund sein, warum der russische Bonapartist jetzt die kriegerische Ausweitung des russischen Machtbereiches gewählt hat – noch stark genug, um mit seinen Eroberungen möglicherweise die technische Entwicklung noch einholen zu können und gerade noch nicht schwach genug, um es von vornherein unterlassen zu müssen.
Die Analyse, die das russische Herrschaftssystem als Bonapartismus versteht, enthält keine beruhigende Mitteilung – nichts kann einen um die Macht ringenden autokratischen Herrscher, der alle Kritiker beseitigt und sich mit nickenden Lakaien umgeben hat, daran hindern, die Welt zugrunde zu richten – weil niemand ihm mehr die Wahrheit zu sagen wagt. Alle diejenigen Verbrechen, die Putin seinen Gegnern vorwirft – Giftanschläge, Völkermord, Einkreisung, Angriffskrieg und Einsatz von Atomwaffen, sind sämtlich Projektionen seiner eigenen Pläne – wie sich jetzt herausstellt.
Sofern Erfolge ausbleiben, pflegt das Ende autokratischer Herrscher besonders widerlich zu sein, weil die Untergebenen ihre Erniedrigung und vorherige maßlose Angst in zügellose Gewalt bei deren Beseitigung umsetzen. Wir können nur hoffen, dass diese Widerlichkeit die einzige in diesem Prozess bleiben wird.
Jürgen Bönig konnte diesen Text schreiben, weil er ein Buch veröffentlicht über den Verleger von Karl Marx, Otto Meißner in Hamburg.