Vielvölkerstaaten in Europa und ihr Schicksal

Ein Rückblick auf das 20. und ein Ausblick auf das 21. Jahrhundert

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs existierten in Kontinentaleuropa drei Staatsgebilde, die mit vollem Recht als Vielvölkerstaat bezeichnet werden können – das Osmanische Reich, das Russische Reich und Österreich-Ungarn –, im Unterschied etwa zu solchen multinationalen Gebilden wie der Schweiz und Belgien oder auch Staaten, in denen nationale beziehungsweise ethnische Minderheiten bis heute um ihre Unabhängigkeit vom Zentralstaat kämpfen oder wenigstens um einen autonomen Status innerhalb desselben, wie die Katalanen, die Basken, die Korsen. Im Unterschied zu den anderen europäischen Großmächten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, hatten diese Vielvölkerstaaten ihre Kolonien nicht in Übersee, sondern sozusagen im eignen Land, denn die vom Kernland eroberten oder ihm angeschlossenen Gebiete standen unter der Herrschaft des türkischen Sultans, des russischen Zaren, des österreichischen Kaisers.

Nach dem Ersten Weltkrieg existierte keines dieser Großreiche mehr. Zwar entstanden der Vielvölkerstaat Jugoslawien und der Zweivölkerstaat Tschechoslowakei, aber beide hatten niemals die Bedeutung eines Großreiches; im Gefolge der Beendigung des Kalten Krieges zerfielen beide wieder in mehrere Nationalstaaten, wobei nur die Sezession von Tschechen und Slowaken friedlich verlief.

Das österreichische Imperium zerfiel unmittelbar mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in eine Anzahl unabhängiger Staaten, darunter die gleich im November 1918 ausgerufene Republik Deutschösterreich. Das damit zum Ausdruck gebrachte enge Verhältnis zum – wenn auch auf reduziertem Territorium – fortbestehenden Deutschen Reich, vor allem aber die damit verbundene Gefahr eines Nachholens der insbesondere durch die Politik Preußens vereitelten großdeutschen Lösung der deutschen Frage, veranlassten die damaligen Siegermächte, den Zusatz „Deutsch“ im Namen zu verbieten und ebenso jeglichen Hinweis auf eine besonders enge Verbindung zwischen den beiden Staaten. Zwar gelang den Nazis nach dem „Anschluss“ 1938 kurzzeitig, ab 1943, die Kreation eines Großdeutschen Reiches, aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte von solchen Ambitionen keine Rede mehr sein. Lediglich die Südtirolfrage spielte bis zum Ende der 1980er Jahre immer wieder eine Rolle in den Beziehungen zwischen Österreich und Italien.

Das Ende des Osmanischen Reiches gestaltete sich anders. Die meisten seiner Besitztümer in Südosteuropa hatte es schon verloren, insbesondere durch die zwischen 1878 und 1912 erfolgte Bildung souveräner Staaten auf dem Balkan. Die von ihm beherrschten Gebiete im Nahen Osten und in Nordafrika verlor es an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die sie entweder in sogenannte Mandatsgebiete oder aber in neue Kolonien verwandelten. Seit 1923 existiert die von Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) begründete laizistische Republik Türkei. Obgleich ihr Verhältnis zu ihren unmittelbaren Nachbarn – vor allem zu Griechenland, dem Irak und Syrien –, milde formuliert, nie ganz spannungsfrei war, hatte sie über Jahrzehnte keinerlei Großmachtambitionen. Aber seit Beginn der Herrschaft Erdo ˘ gans, verstärkt sich der Einfluss der zwar offiziell noch laizistischen, aber faktisch mehr und mehr dem Islamismus zuneigenden Türkei im Nahen Osten, befördert auch durch die Organisation der Turkstaaten, der außer der Türkei fünf ehemalige Sowjetrepubliken angehören. Zudem wird die Erinnerung an das Osmanische Reich in Gestalt des Neoosmanismus wieder gepflegt.

Vollkommen anders verlief die Entwicklung im Russischen Reich nach der Oktoberrevolution von 1917. Zwei Grundprinzipien bestimmten die damalige sowjetische Politik – die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und die Idee der Weltrevolution. Der Rat der Volkskommissare (die russische Regierung) billigte den Völkern Russlands das Recht auf Sezession zu, woraufhin das finnische Parlament am 6. Dezember 1917 die Unabhängigkeit Finnlands von Russland erklärte. 1918 folgten die drei baltischen Länder sowie Polen. Nicht dazu im Widerspruch steht, dass Sowjetrussland im Kampf gegen die ausländischen Interventionstruppen und deren Vertreibung nicht an seinen Grenzen halt machte, denn dies sollte dem „Weitertreiben“ der Weltrevolution dienen; allerdings scheiterte das Konzept eines „Exports der Revolution“ völlig, insbesondere gegenüber Polen, das im Ergebnis des Friedens von Riga 1921 seine Grenzen weit nach Osten verschieben konnte und so T eile von Russland, Belarus und der Ukraine annektierte. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wollte Stalin die alte – zaristische – Ordnung wiederherstellen; das gelang ihm auch mit der Besetzung Ostpolens im September 1939 und des Baltikums im Sommer 1940, misslang ihm aber im „Winterkrieg“ 1939/40 gegen Finnland.

Schon im Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 wie auch – und noch viel deutlicher – in der Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 31. Januar 1924 wurden zehn Tage nach Lenins Tod zwei Grundsätze festgeschrieben: das Recht jeder Sowjetrepublik, aus der Union auszutreten, und das Recht schon bestehender oder in Zukunft entstehender Sowjetrepubliken, der Union beizutreten. Letzteres geschah allerdings nie, auch nicht mit den nach 1945 in Osteuropa gebildeten „Volksdemokratien“. Auch bestanden viele der Nationalitätenprobleme unterschwellig weiter, wurden aber, von der unmittelbaren Nachkriegszeit abgesehen, als Sezessionsforderungen erst zum Ende der 1980er Jahre offen vorgetragen. Das Ende der Sowjetunion wurde am 8. Dezember 1991 durch das Belowescher-Abkommen zur Gründung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ besiegelt, die die damaligen Staatschefs von Russland (Boris Jelzin) , der Ukraine (Leonid Krawtschuk) und Belarus (Stanislau Schuschkewitsch) unterzeichnet hatten.

Es ist bezeichnend, dass der russische Präsident Putin keinen dieser drei Namen in der Rede genannt hat, die er am Vorabend des Überfalls auf die Ukraine hielt. Stattdessen beschuldigte er, unter völliger Missachtung der tatsächlichen historischen Zusammenhänge, die Bolschewiki, vor allem Lenin, mit der Souveränitätsklausel die Grundlage für den siebzig Jahre später erfolgten Untergang der Sowjetunion gelegt zu haben. Dass das Zarenreich seine Kolonien im eignen Land hatte, dazu kein Wort, im Gegenteil: Dass deren Selbstbestimmungsrecht durch die Dekrete der Sowjetmacht gesetzlich fixiert worden ist, genau das sei der Fehler gewesen. Und so folgte in seiner Rede eine Geschichtsklitterung der andern, vor allem hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der Ukraine, der er sogar die historische Existenzberechtigung absprach. Hier hat niemand anders als der großrussische Chauvinist gesprochen, der „sein“ Russisches Reich in den Grenzen von 1914 zurückh aben will. Insofern sind die Sorgen der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, wer denn als nächste überfallen werden soll, allzu verständlich. Diejenigen westlichen Politiker und Kommentatoren aber, die behaupten, dass durch den Überfall die Nachkriegsordnung in Europa zerstört worden sei, haben doppelt und dreifach Unrecht: Diese Ordnung ist am Ende des 20. Jahrhunderts zuerst durch den von ihnen ausnahmslos begrüßten Zerfall der Sowjetunion und sodann durch den von ihnen nahezu einhellig befeuerten Krieg in und gegen Jugoslawien zerstört worden. Sie konnte nicht mehr von Putin zerstört werden, der etwas ganz anderes will, nämlich die vor 1914 herrschende imperial-imperialistische Ordnung.

Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die Nato, allen voran die USA, in den vergangenen dreißig Jahren alles dafür getan haben, Russland zu demütigen, es als bloße „Regionalmacht“ klein zu reden, durch die Nato-Osterweiterungen faktisch einzukreisen, wirtschaftlich immer stärker unter Druck zu setzen und, nicht zuletzt mit den Mitteln der psychologischen Kriegsführung, den Überfall geradezu herbeizureden. Diesem Druck der Einkreisung und der sich daraus ergebenden und sich permanent zuspitzenden Bedrohung Russlands hat dessen Präsident Putin nicht mehr standgehalten, schlicht die Nerven verloren und den Krieg begonnen. Dies entschuldigt nichts, aber erklärt einiges.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin. Der Artikel wurde am 28. Februar 2022 verfasst.