Der Schock eines Kriegsbeginns bewirkt auf der Linken fast immer Verwirrung und Sprachlosigkeit
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass, wer nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine das weitgehende Schweigen linker Friedensbewegungen in Europa beklagt, zwar recht, aber wenig von der realen Situation verstanden hat.
Beispielsweise fanden in der Woche vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs allein in Deutschland mehr als 250 Kundgebungen mit insgesamt fünf- bis siebenhunderttausend Teilnehmern gegen die drohende Kriegsgefahr statt, aber nach Kriegsausbruch schlug die Stimmung in der Bevölkerung binnen Tagen in eine allgemeine Kriegsbegeisterung um, und es war nur noch von Vaterlandsverteidigung die Rede, vor allem vom Sieg gegen Franzosen, Briten, Russen und Serben. Am 4. August stimmten im Reichstag alle Fraktionen geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite, einschließlich der Sozialdemokratie. Das Diktum von Kaiser Wilhelm II., er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, ging in Erfüllung. Die revolutionäre Linke war paralysiert, und es dauerte bis zum 10. September, bis vier von ihnen (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin) eine Erklärung ver-fassten, dass ihr Standpunkt zwar dem parteioffiziellen der SPD „nicht entspricht“, aber: „Der Belagerungszustand macht es uns vorläufig unmöglich, unsere Auffassung öffentlich zu vertreten“ – eine Erklärung, die erst am 30. Oktober im neutralen Ausland publiziert werden konnte.
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