… wie im alten Rom

Kapitalismus ohne Wachstum?

Als Georg Fülberth 2005, in der Erstauflage seines Buchs „G-Strich – kleine Geschichte des Kapitalismus“, die Prognose abgab, der Kapitalismus könne noch 500 Jahre existieren, fand ich die Voraussage allzu pessimistisch. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht geht der Kapitalismus doch so unter wie das alte Rom, das nach dem Eintritt in die Krise der Sklavenhalterordnung im dritten Jahrhundert noch weitere Jahrhunderte brauchte, ehe sich dort, nach seiner Zerstörung durch die „Barbaren“, ein auf Leibeigenschaft basierter Feudalismus entwickelte. Das ist zwar eine wenig erfreuliche Aussicht, jedenfalls für mich, aber dass es so kommen wird, ist leider nicht auszuschließen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung in Engels‘ Edition von Marx‘ Kapital-Band III. Sie basiert zwar auf einem Missverständnis des Marxschen Originaltextes, macht aber auf ein spannendes und aktuelles Problem aufmerksam. Engels schreibt: „Die Profitrate, d.h. der verhältnismäßige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig für alle neuen, sich selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger wenigen, fertigen Großkapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern. Die Profitrate ist die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion, und es wird nur produziert, was und soweit es mit Profit produziert werden kann.“1

Diese Situation herrscht seit etwa 15 Jahren am Kapitalmarkt in den meisten OECD-Ländern. Faktisch wird dort nicht mehr in die sogenannte Realwirtschaft investiert, sondern nur noch in die Finanzwirtschaft. Weil letztere sehr viel lukrativer ist als erstere, hat die Neue Zürcher Zeitung Anfang Dezember 2019 diesen Vorgang sehr treffend als „Kannibalisierung“ der Realinvestitionen durch die Finanzinvestitionen beschrieben. Das Phänomen wurde allerdings in den vergangenen drei Jahren durch zwei außerökonomische Ereignisse verdeckt, die es jedoch zugleich enorm verstärkt haben.

Der erste exogene Schock war der Ausbruch der Corona-Pandemie. Sie hatte zwar nur die Probleme offen zutage treten lassen, die der vor Jahrzehnten eingeführte neoliberale Kapitalismus erzeugt hatte, aber diese Tatsache wurde von der Politik und den Staatsmedien geflissentlich ignoriert: Das bis dahin gepriesene vorratslose Wirtschaften war ins Trudeln geraten (Stichwort: just-in-time-production), die globalen Lieferketten waren gerissen (Stichwort: Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer), und die Substanz der Infrastrukturen war schon seit Jahrzehnten auf Grund unzureichender Pflege und fehlender Investitionen hochgradig gefährdet (Stichwort: ungenügende Renditen). All das konnte auf die zu einem Naturereignis hochstilisierte Pandemie zurückgeführt werden.

Der zweite exogene Schock war der russische Überfall auf die Ukraine. Die USA und die EU reagierten darauf mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland und der Lieferung von Rüstungsgütern an die Ukraine. Aber die Sanktionen wirkten sich auch auf die Wirtschaft der übrigen europäischen Länder negativ aus, insbesondere auf die deutsche, die seit dreißig Jahren intensive Handelsbeziehungen mit Russland pflegte, die den USA stets ein Dorn im Auge waren und die nun, politisch gewollt, faktisch auf Eis gelegt sind. Aber auch viele der übrigen Länder „Kleineuropas“, das ja ohne Russland nur gut sechzig Prozent der europäischen Landfläche umfasst, leiden unter den selbstverschuldeten Folgen dieser Sanktionspolitik, so dass schon eine „Deindustrialisierung Europas“ befürchtet wird – zugunsten einer „Reindustrialisierung“ der USA. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass das Abwandern einiger Industriefirmen aus Europa in die USA dieses öko nomische Schwergewicht sonderlich bewegen oder ihm gar einen neuen industriellen Aufschwung schenken wird, eine Belebung der europäischen Realwirtschaft ist unter diesen Bedingungen erst recht nicht zu erwarten.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die seit den 1990er Jahren von Ökosozialisten im englischen Sprachraum gestellte Forderung nach einer Degrowth economy, einer das Wachstum zurücknehmenden Wirtschaft, in einem anderen Licht. Da sie der Auffassung sind, dass die Rate des Profits nach wie vor der Stachel ist, der die kapitalistische Produktion vorantreibt, entwickeln sie die Idee eines Degrowth communism2. Abgesehen davon, dass Degrowth für die Länder des globalen Südens zurzeit kein erstrebenswertes Ideal sein kann, scheint es doch eher so zu sein, dass die OECD-Länder sich dieser Idealvorstellung annähern und dort ein Kapitalismus ohne Wachstum erzeugt wird, ganz sicher entgegen den Absichten der Zuständigen in Politik und Wirtschaft (von Herrschenden kann da nicht mehr die Rede sein, auch wenn sie weiterhin andere Menschen und Regionen beherrschen).

Hinzu kommt ein weiteres Moment, das im Zusammenhang mit den Fülberth’schen „noch 500 Jahre“ steht und bislang kaum thematisiert wird – das Fehlen einer politisch akzentuierten antikapitalistischen Bewegung. Die Einzigen, die hierzulande noch etwas effektiv bewegen, sind die Gewerkschaften, und deren Aktionen sind einzig und allein auf Besitzstandswahrung und keineswegs auf eine Abschaffung des kapitalistischen Systems orientiert; die Protestaktionen der last generation und ähnlicher Bewegungen regen dagegen zumeist nur auf und bewegen fast nichts. Auch das erinnert mich an das alte Rom, wo der letzte bedeutende Sklavenaufstand vor der Zeitenwende (Spartacus – 73 v.u.Z.) stattfand, also lange vor dem endgültigen Verfall des Systems. Das völlige Fehlen von Voraussetzungen einer politischen Revolution in Europa lässt auch nichts Gutes erwarten. Wahrscheinlich wird es ihm so ergehen wie dem alten Rom und von den „Barbaren“, diesmal aus dem Süden, i n einen Steinbruch verwandelt werden. Vielleicht werden unsere Nachfahren in tausend Jahren diese Ruinen so bewundern wie wir heute die in Athen und Rom.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

Anmerkungen:

1 Marx-Engels-Werke, Bd. 25, S. 269 – meine Hervorhebung. Im Marxschen Rohmanuskript von 1864/65 ist teilweise anderes zu lesen: „Und sobald die Capitalbildung ausschließlich in die Hände weniger fertiger grosser Capitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer derselben erloschen. It would cease shining. Die Profitrate ist die treibende agency in der capitalistischen Production…“ (Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/4.2, S. 332/33). Hier kann sich meines Erachtens das „derselben“ bei Marx nur auf „die Rate“ (des Profits) beziehen und nicht, wie Engels meinte, auf die Produktion, und auch das „it“ im nachfolgenden Satz bezieht sich wohl auf das belebende Feuer (der Rate und nicht der Produktion), dessen „shining“ aufhört, wobei „shining“ (leuchten) wohl ein Marxscher Missgriff für „blazing“ (lodern, auflodern) ist. Vgl. meinen Aufsatz „Fressen und gefressen werden.  Ökonomischer Kannibalismus in Vergangenheit und Gegenwart“ in: Frank Deppe, Georg Fülberth, André Leisewitz (Hg.): Fortschritt in neuen Farben? Umbrüche, Machtverschiebungen und ungelöste Krisen der Gegenwart. PapyRossa Verlag Köln 2022, S. 179-190.

2 Vgl. z. B. Kohei Saito, „Marx in the Anthropocene. Towards the Idea of Degrowth Communism“, Cambridge University Press 2023.