Walther Rathenau (1867-1922)
Walther Rathenau wird von der Forschung mit einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe seiner Schriften, Briefe und Notizen bedacht, eine Ehre, die wohl keinem anderen deutschen Kapitalisten zuteil geworden ist und auch nur wenigen deutschen Politikern.
Der hundertste Jahrestag seiner Ermordung gibt Anlass, auf sein vielfältiges Werk zu blicken, zu dem auch der zwischen Deutschland und Sowjetrussland geschlossene Vertrag von Rapallo gehört, den er als Außenminister im April 1922 unterzeichnet hatte und der neuerdings aus durchsichtigen Motiven ein „verhängnisvolles Abkommen“ genannt worden ist (Zeit 13. 4.).
Rathenau wurde einerseits „mit einem goldenen Löffel im Mund“ geboren – sein Vater Emil (1838-1915) war der Gründer der „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) –, andererseits war er als ungetaufter Jude im Kaiserreich nach eigenem Zeugnis stets ein „Bürger zweiter Klasse“. Dies wiederum hinderte ihn keineswegs, deutsch-national zu denken und zu handeln und seinem Vaterland zu dienen; er war also das, was der anglophile Chaim Weizmann (1874-1952), der erste Staatspräsident Israels, despektierlich einen „Kaiserjuden“ genannt hat.
Nach dem Studium der Philosophie, Chemie und Physik, das er mit einer Dissertation in Physik abschloss, und einem weiteren in Maschinenbau, trat der vielseitig, vor allem an Kunst und Literatur interessierte Rathenau widerwillig und zugleich sehr erfolgreich in den väterlichen Betrieb ein und baute die Elektrochemischen Werke in Bitterfeld auf. Daneben betätigte er sich schriftstellerisch und veröffentlichte in der von seinem damaligen Freund Maximilian Harden geleiteten anti-wilhelminischen Zeitschrift „Die Zukunft“ zahlreiche literarische und kulturphilosophische Aufsätze. 1904 stieg er in den Aufsichtsrat der AEG auf und wurde 1912 dessen Vorsitzender.
In den Jahren 1907 und 1908 reiste er im Auftrag der Reichsregierung, aber auf eigene Kosten, nach Afrika in die deutschen Kolonien und schrieb außerordentlich kritische Berichte über die dortigen Zustände. Er konstatierte, dass es weder hier noch in den von ihm besuchten englischen Kolonien irgendwelche zivilisatorischen Fortschritte gegeben habe. Die von deutscher Seite geführten Kolonialkriege seien dilettantisch vorbereitet gewesen und das Resultat sei die Ausrottung ganzer Volksgruppen, also die Vernichtung von Menschen, dem nach seinen Worten „wertvollsten Produkt“ des Landes. Kein Wunder, dass seine Berichte der Regierung nicht genehm waren.
Am 12. Februar 1907 publizierte Rathenau im „Hannoverschen Courier“ einen Artikel über „Die neue Ära“, in dem es hieß, „dass neuere Kriege nicht mehr durch Einzelkämpfe der Heroen wie zu Homers Zeiten noch durch gedrillte Grenadiere entschieden werden… Der Kriegsgott unserer Tage heißt wirtschaftliche Macht.“ Diese Vorhersage verhallte in Deutschland ungehört, man konzentrierte sich auf die Rüstung und ging ökonomisch nahezu unvorbereitet in den Krieg, denn man glaubte, ein leichtes Spiel zu haben und „Weihnachten wieder zu Hause“ zu sein.
In der Tat hat sich Rathenaus Vorhersage über den „Kriegsgott unserer Tage“ für das gesamte 20. Jahrhundert als richtig erwiesen, nicht nur in den beiden Weltkriegen und den ungezählten kleinen Kriegen, sondern auch im Kalten Krieg. Zwar war die UdSSR bis zum Schluss in der Lage, im militärischen Bereich das „Gleichgewicht des Schreckens“ aufrechtzuerhalten, aber das überforderte ihr Wirtschaftssystem so sehr, dass ihr – in Kombination mit vielen anderen (darunter auch selbstverschuldeten) Problemen, auf die hier nicht eingegangen werden kann – im zivilen Sektor nicht genügend Mittel zur Verfügung standen, dem Gegner auch auf diesem Feld Paroli zu bieten; im Gegenteil, in den 1980er Jahren verschlechterte sich die Versorgung der eigenen Bevölkerung zunehmend und dementsprechend wuchs deren Unzufriedenheit. Die insbesondere von den USA forcierte Strategie des „Totrüstens“ war also aufgegangen, und der Sozialismus sowjetischer Prägu ng ging unter.
Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs machte Rathenau erneut auf die unzureichende wirtschaftliche Kriegsvorbereitung aufmerksam und empfahl als Erster eine zentrale Bewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe – ein bis dahin unerhörter Vorschlag. Ihm wurde sogar gefolgt und im preußischen Kriegsministerium eine von Rathenau organisierte und zunächst (bis März 1915) unter seiner Leitung stehende „Kriegsrohstoffabteilung“ (KRA) eingerichtet. Darüber hinaus kam es zu einer staatlichen Beaufsichtigung der deutschen Industrie durch sogenannte Kriegswirtschaftsgesellschaften. Das war ein erster und ganz wesentlicher Schritt auf dem Wege zu dem, was späterhin „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ genannt worden ist. Nachdem Rathenau die Leitung der KRA an Joseph Koeth (1870-1936) übergeben hatte, widmete er sich vorrangig der Organisation der Rüstungsproduktion innerhalb der AEG, aber zugleich schon vorausschauend der nach dem Krieg notwendig werdenden Konversion auf Friedensproduktion. Dabei entwickelte er auch die Idee einer kapitalistischen Planwirtschaft, auf deren Basis sowohl dem während des Krieges angeschwollenen sozialen Elend der Massen als auch den ebenso gewachsenen Superprofiten der Rüstungskonzerne Einhalt geboten werden sollte.
Die Fähigkeit, sich aktuell anstehenden Problemen zu widmen und zugleich Zukunftsvisionen zu entwickeln (vgl. sein 1917 erschienenes Buch „Von kommenden Dingen“), zeichnete ihn als einen der klügsten und am weitesten vorausschauenden Vertreter seiner Klasse aus. War er einerseits ein vehementer Verfechter einer aggressiven Kriegsführung – bis hin zur Bombardierung Londons und der Deportation belgischer Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland –, so war er andererseits dagegen, die von ihm konzipierte „Mitteleuropäische Zollunion“ (selbstredend unter deutscher Führung) auf dem Wege von Annexionen zu errichten, denn die Nationalstaatsidee habe sich überlebt. Von der geographischen Ausdehnung her schwebte Rathenau so etwas wie das Frankenreich unter Karl dem Großen (747-814) vor. Wer diese Idee im Nachhinein als aberwitzig abtut, hinterwäldlerisch und romantisch-reaktionär, sollte einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Europäisc hen Gemeinschaften nach dem Zweiten Weltkrieg werfen: Die erste von ihnen, die Montanunion, wurde 1951 errichtet, und deren Mitgliedsländer (Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Westdeutschland/BRD) lagen alle auf dem Territorium des über ein Jahrtausend zuvor aufgeteilten Frankenreichs. Rathenau war also mit dieser Idee zwar seiner Zeit weit voraus, aber ungeheuer hellsichtig gewesen.
Aufgrund seiner aggressiven Kriegspolitik, er war 1918 sogar gegen den von ihm als verfrüht betrachteten Waffenstillstand, hatte Rathenau nach Kriegsende zunächst Schwierigkeiten, aktiv in die aktuelle Politik einzugreifen. Als Schriftsteller verfasste er in dieser Zeit mehrere Werke, darunter Die neue Wirtschaft, Die neue Gesellschaft und Der neue Staat. Nach Zwischenspielen als Mitglied der Zweiten Sozialisierungskommission (die Aufnahme in die erste war am Widerstand der in der USPD organisierten linken Sozialdemokraten gescheitert) und als Wiederaufbauminister trat er am 31. Januar 1922 sein Amt als deutscher Außenminister an, ein Amt, das ihm wegen seiner wirtschaftlichen Expertise und seines auf dem internationalen Parkett unter Beweis gestellten Verhandlungsgeschicks angetragen worden war. Dahinter stand auch die Hoffnung, auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genua eine Neuregelung der von Deutschland zu zahlenden Reparationen zu erreichen, was aber vor allem am Widers tand Frankreichs scheiterte. Um Deutschland außenpolitisch größeren Handlungsspielraum zu verschaffen, schloss er im Gegenzug mit dem in ähnlicher Situation befindlichen Sowjetrussland den Vertrag von Rapallo, übrigens nicht ohne Bedenken, die ihn sogar auf eine Neuverhandlung drängen ließen, was aber von sowjetrussischer Seite abgelehnt wurde.
Jüdische Glaubensgenossen hatten Rathenau abgeraten, sich als Außenminister derart zu exponieren, aber er sah sich auch der Republik gegenüber wieder in der Pflicht. Am 24. Juni fiel er einem Attentat der rechtsradikal-terroristischen Organisation Consul zum Opfer.
Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin. Im Mai erschien im VSA: Verlag Hamburg die von ihm herausgegebene und kommentierte Ausgabe von Karl Marx, Lohn, Preis und Profit. Das „kleine Kapital“: ein Vortrag zur Politischen Ökonomie des Kapitalismus.