Zwischen Liberalismus, Oligarchentum und Staatsdirigismus

Putins Russland – ein Wirtschaftsbefund

Diese Vorhersage ist leicht und risikoarm zu tätigen: Wladimir Putin wird dereinst in die russischen Geschichtsbücher als Lichtgestalt eingehen, deren Strahlkraft jene Lenins und Peter des Großen in den Schatten stellen könnte. Die Prognose mag seltsam anmuten, berücksichtigt aber eine Reihe von Faktoren. Zum einen die schlichte Tatsache, dass Putin am Ende seiner Amtszeit, die sich dieses Jahr anlässlich der bevorstehenden Wahlen im Frühjahr 2018 nochmals verlängert, 24 Jahre lang das größte Land der Welt regiert haben wird. Eine ganze postkommunistische Generation ist von seiner Politik geprägt und die Generationen davor danken ihm ein Leben lang, wie er Russland aus den katastrophalen 1990er-Jahren der Jelzin-Ära herausgeführt hat. Zusammen mit einer traditionell wenig kritikverliebten russischen Geschichtsschreibung müsste schon dies genügen, um Putin für künftige Jahrzehnte als großen Landesvater zu portraitieren.

Ein Rückblick auf die sozio-ökonomischen Daten unterstreicht diesen Befund. Nicht zuletzt durch eine im Mai 2000 unmittelbar nach seinem Amtsantritt erfolgreich durchgeführte administrative Zentralisierung konnte das Land auch in wirtschaftlicher Hinsicht stabilisiert werden. Zwischen 2000 und 2015 verdreifachte sich das pro Kopf gemessene Bruttoinlandsprodukt. Die Leistungsbilanz drehte sich zur Jahrtausendwende ins Plus, wie Zahlen des renommierten Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) ergeben. Auch den Haken daran nennt Russland-Experte Vasily Astrov vom WIIW im Gespräch. Der gesamte Aufschwung der Jahre bis 2014/15 basierte auf dem Export von Energie. Ohne diesen, so Astrov, würde Russland mit einem beträchtlichen Handelsbilanzdefizit zu kämpfen haben, das dem Budget in den Jahren vor der Ukraine-Krise hart zugesetzt hätte.

Die einseitige Abhängigkeit vom Öl- und Gasverkauf bereitet dem Kreml seit Jahren Kopfzerbrechen. Putins kurzzeitiger Statthalter im Amt des Präsidenten, Dmitri Medwedew, forderte bereits 2010 die Konzentration auf die sogenannten „vier I“: Institutionen, Innovationen, Investitionen und Infrastruktur. Eine langfristige Modernisierung der russischen Ökonomie bedarf einer entsprechend strukturellen Diversifizierung. Der Ölpreisverfall und die westlichen Sanktionen im Jahr 2014 haben dafür – indirekt und unbeabsichtigt – einen Weg frei gemacht. Ob dieser ausreichend beschritten wird, darüber herrscht auch in Russland Uneinigkeit.

Die Krise des Jahres 2014

Ölpreisverfall und Wirtschaftssanktionen beendeten im Jahr 2014 einen seit dem Rubel-Crash 1998 anhaltenden Aufschwung. Das Interessante an den zwei krisenauslösenden Faktoren: keiner war hausgemacht, beiden lagen externe Einflüsse zugrunde. Freilich hätten Ölpreisverfall und Sanktionen eine auf mehreren Beinen stehende Volkswirtschaft weniger hart getroffen. Die strukturelle Schwäche der russischen Wirtschaft darf nicht übersehen werden; ebenso wenig kann man allerdings leugnen, dass ausländischen Playern schon länger an einer Schwächung Russlands gelegen war. Spekulationen, wie es ab November 2014 zum Verfall des Ölpreises von 120 US-Dollar auf 35 Dollar pro Barrel kommen konnte, wollen wir hier beiseitelassen. Es sei jedoch daran erinnert, dass die Weigerung Saudi Arabiens, auf ein Überangebot von Öl mit einer Drosselung der Förderung zu antworten – wie es die OPEC zuvor oft gemacht hatte – mit ökonomischer Logik nicht zu erklären ist.

Eindeutiger ist die Sachlage im Fall der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die EU-Europa und US-Amerika zeitgleich im April 2014 verhängten. Offiziell werden sie als Reaktion auf die russische Ukraine-Politik verkauft, der man im Westen eine Annexion der Krim vorwirft.

Tatsächlich begann der ökonomische Angriff auf Russland schon lange vorher. Das Ziel der mit hohem Aufwand betriebenen „Ostpartnerschaft“ der Europäischen Union bestand seit 2009 darin, sechs ehemalige sowjetische Republiken – Moldawien, Georgien, Belarus, Aserbaidschan, Armenien und die Ukraine – von einem von Moskau betriebenen Integrationsprojekt fern zu halten. Dafür bot Brüssel sogenannte Assoziierungsabkommen, um das bestehende ökonomische Ungleichgewicht, das zwischen der EU und den mit ihr künftig Assoziierten besteht, für Westkonzerne nutzbringend zu machen. Belarus und Aserbaidschan blieben in Wartestellung. Die anderen vier Kandidaten sollten am 29. November 2013 während eines großen Gipfels in Vilnius der Öffnung ihrer Märkte nebst anderen Grundsätzen der liberalen Wertegemeinschaft zustimmen. Dass nur zwei von ihnen, Georgien und Moldawien, unterschrieben und beide noch dazu nicht einmal eine territorial gefestigte Staatlichkeit aufweisen (Stichworte: Abchasien, Südossetien; Transnistrien), war ein schwerer Schlag für Brüssel. Armenien hatte bereits Monate zuvor abgewunken. Die Ukraine entschied sich kurzfristig gegen das westliche Angebot, das ihre enge wirtschaftliche Bindung an Russland untergraben hätte. Im ersten Anlauf war der ökonomische Ausgriff der EU gründlich schief gegangen, weswegen der Westen auf einen Regimewechsel in Kiew setzte. Damit glaubte man dem weiterführenden Ziel, einer Schwächung Russlands, näher zu kommen.

Die Wirtschaftssanktionen gegen Moskau waren also weniger eine Reaktion auf die russische Ukraine-Politik als vielmehr die Fortsetzung eines bereits vorhandenen russlandfeindlichen Engagements. Sie betrafen von Anfang an drei Sektoren: den Bankensektor, Erdölförderungstechnologien und Militärgüter, die auch im zivilen Bereich einsetzbar sind. Kurzfristig am teuersten kam Moskau die erzwungene Abkopplung der fünf größten Banken vom westlichen Finanzmarkt, die ihnen die Möglichkeit nahm, sich dort zu rekapitalisieren. Das Moskauer Institut für Wirtschaftsprognosen (EDIRC) an der Akademie der Wissenschaften schätzt, dass die Finanzsanktionen der russischen Volkswirtschaft langfristig bis zu 150 Milliarden Euro kosten könnten. Dazu kommt das Embargo von Erdöl- und Erdgasfördertechnologien, das langfristig Produktionseinbußen bringen wird. Damit dürften die gesamten Kosten des Wirtschaftskrieges gegen Russland das Land bis 2030 rund 700 Milliarden Euro betragen. Das entspricht laut dem Russland-Experten Astrov fast zwei Drittel eines jährlichen Bruttoinlandsproduktes.

Moskau antwortete auf die westlichen Wirtschaftssanktionen seinerseits mit Importverboten für Lebensmittel. Sämtliche EU-Staaten sind davon betroffen. Für landwirtschaftliche Produkte aus der Schweiz und Serbien, die sich am Russland-Embargo nicht beteiligen, steht der russische Markt weiter offen. Daraufhin sanken seit 2014 die russischen Importe um 50 Prozent; im Lebensmittelbereich waren es sogar 70 Prozent.

Im Juli 2017 verschärfte dann der US-Kongress die Sanktionen. Sie erhielten eine neue Dimension, indem sie neben Russland auch die EU – und hier insbesondere deutsche, österreichische und italienische Unternehmen – bedrohen und sich zugleich gegen den der Russophilie verdächtigen US-Präsidenten Donald Trump richten. Im Visier des neuen US-Gesetzes, das im Repräsentantenhaus mit 419 Stimmen (gegen drei) und im Senat mit 98 Stimmen (gegen zwei) beschlossen wurde, stehen auch europäische Unternehmen, die gemeinsame Erdölförderprojekte mit russischen Partnern unterhalten. Die Fertigstellung der zweiten, durch die Ostsee laufenden Erdgaspipeline „Nord Stream 2″, ist dadurch ins Stocken geraten. Die – neben der geopolitischen Dimension – ökonomische Rationalität dahinter: Deutschland und andere EU-Länder sollen künftig anstatt sibirischen Gases Energie in gefrackter und verflüssigter Form aus den USA kaufen. Ein dafür gebauter Flüssiggasterminal im polnischen Swinemünde ist seit Dezember 2015 einsatzbereit, wird derzeit aber kaum genutzt.

So einig sich Brüssel, Berlin und Washington bei der Einführung der Embargomaßnahmen gegen Russland im April 2015 waren, so ablehnend wurden die neuen US-amerikanischen Sanktionen vom Juli 2017 in der EU kommentiert. Der damalige österreichische Kanzler Christian Kern nannte sie „vollkommen inakzeptabel“. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel meinte, man werde „eine extraterritoriale Anwendung dieser US-Sanktionen gegen europäische Unternehmen auf keinen Fall akzeptieren“. Dass der Wirtschaftskrieg gegen Moskau von Anfang an unterschiedliche Auswirkungen auf US-amerikanische und EU-europäische Unternehmen haben würde, zeigt ein Blick auf die Außenhandelsstatistik. Im letzten Jahr vor den Sanktionen, 2013, nahm die EU 51 Prozent der russischen Exporte ab und bestritt 36 Prozent der Importe. Die Vergleichszahlen für die USA lauteten: 2,5 und 4,8 Prozent. Die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Europäischer Union und Russland ist mit einem Wort erschöpfend beschrieben: Gas. Russlands größter Konzern, Gazprom, hält einen Anteil von 34 Prozent an den gesamten Gasimporten der EU; Deutschland ist zu 39 Prozent vom russischen Gas abhängig, Österreich zu 48 Prozent und die Schweiz immer noch zu 23 Prozent.

Die neuen, im Juli 2017 verhängten US-Sanktionen gegen Russland bergen noch eine andere, vor allem zeitlich weit reichende Sprengkraft. Dem Kongress ist es nämlich bei der Abfassung des Gesetzestextes gelungen, dem Präsidenten diesbezüglich die Handlungsfähigkeit zu rauben. Mit anderen Worten: Kein US-Präsident kann im Alleingang die Aufhebung der Sanktionen beschließen; und bis sich eine Mehrheit im Kongress findet, die das Sanktionsregime gegen Russland beendet, wird entweder noch viel Zeit vergehen oder in Moskau ein Regimewechsel stattfinden müssen, der den Herren in Washington genehm ist.

Den im Vergleich zu den Sanktionen kurzfristig größeren Schaden richtete in den vergangenen drei Jahren allerdings der niedrige Ölpreis an. Vasily Astrov vom WIIW macht ihn für 75 Prozent der Krisenschäden verantwortlich – gegenüber 25 Prozent resultierend aus dem Sanktionsregime. Seit 2014 verlor der Rubel mehr als 50 Prozent seines Wertes. Die sich daraus ergebenden Preissteigerungen für Importprodukte beflügelten die Inflation. Als Folge sanken Kaufkraft und mit ihr die Nachfrage. Soziale Proteste blieben nicht aus, Transportunternehmen streikten, im Gesundheits- und Bildungsbereich kam es zu Lohnkämpfen. Ganz generell nahm die Unzufriedenheit zu.

Erst 2016 erholte sich die russische Wirtschaft ein wenig. 2017 wuchs dann das Bruttoinlandsprodukt laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche erstmals wieder: um zarte 1 Prozent.

Importsubstitution mit ausländischem Kapital

Handelsbarrieren wohnt immer eine potenzielle Schutzfunktion inne. Im Fall der Wirtschaftssanktionen gegen Russland zwang der als Gegenembargo verkündete Importstopp für eine ganze Reihe von Lebensmitteln die russische Landwirtschaft zu Produktionssteigerungen. Wenn, wie geschehen, die Lebensmittelimporte um 70 Prozent sanken, mussten diese substituiert werden. Auf dem nun von ausländischer Ware geschützten Binnenmarkt konnten heimische Produzenten leichter reüssieren. Dass es dabei bei vielen Lebensmitteln zu oft markanten Preissteigerungen kam, verwundert nicht und trug zu weit verbreiteter Unzufriedenheit bei. Im Großen und Ganzen jedoch blieb die Versorgung mit agrarischen Gütern gewährleistet, was u.a. auch einer guten Getreideernte geschuldet war. Auch neue Außenhandelsverträge mit Ländern wie Marokko oder Serbien, die im großen Stil Obst und Gemüse lieferten und liefern, halfen bei der Überwindung der Krise.

Die Problematik einer Ökonomie, bei der viele Branchen importabhängig sind und eine periphere Stellung in der Weltwirtschaft einnehmen, war den Verantwortlichen im Kreml allerdings auch vor den (geo)politisch verordneten wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen des Jahres 2014 bewusst. Mangels fehlender technologischer Ausstattung und eigenen Kapitals, das sich in wenigen oligarchischen Händen befindet und für industriepolitische Pläne nicht zur Verfügung stand, versuchte Moskau einen speziellen Weg der Importsubstitution. Man griff auf ausländisches Know-how und Kapital zurück, indem man große Konzerne durch hohe Importzölle zwang, Produktionsstätten in Russland zu errichten, um so ihren Absatzmarkt zu sichern. Vergleichbares fand 2008 geradezu musterhaft in der Automobilindustrie statt. Möglich war dies, weil Russland zu diesem Zeitpunkt noch nicht Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) war, für die Importzölle eine dirigistische Maßnahme und damit ein roten Tuch sind.

Heute werden Volkswagen, BMW, Peugeot, Citroen, Renault, Dacia, Ford, Toyota, Mazda, Nissan und Hyundai für den russischen Markt vor Ort produziert und abgesetzt, Daimler begann im Juni 2017 mit dem Bau eines Werks in der Nähe von Moskau. Höchst widersprüchlich ist demgegenüber die Politik der US-Autokonzerne: Die damalige GM-Tochter Opel gab den russischen Markt 2015 auf. Der seit 2017 neue Opel-Eigentümer PSA scheint bislang keine Rückkehr von Opel in Russland zu planen bzw. PSA-Konzernchef Tavares setzt hier auf die Kernmarken Peugeot und Citroen. Ford hingegen entschied sich 2017 vor dem Hintergrund einer Erholung des Pkw-Absatzes in Russland, die Fertigung in Russland, die in einem Joint Venture mit dem Ford-Partner Sollers JSC erfolgt, deutlich auszuweiten. Reichlich verwirrend ist dann, dass der Fiat-Konzern, der seit 2008 den drittgrößte US-Hersteller, Chrysler, kontrolliert, das Modell Fiat 500L seit 2017 zollfrei nach Russland importieren darf … weil es im Fiat-Werk im serbischen Kragujevac gefertigt wird. Dieses Autowerk, das jahrzehntelang als Zastava fungierte, wurde im übrigen im Kosovo-Krieg 1999 von US-amerikanischen und italienischen Kampfflugzeugen in Schutz und Asche gebombt. Was dann auch die Voraussetzung dafür war, dass Fiat 2008 die Kontrolle über den ehemals führenden jugoslawischen Pkw-Hersteller übernehmen konnte.

Beispiel Pharmaindustrie

Lokalisierung heißt das Zauberwort, das nun auch in der Pharma- und Medizintechnikindustrie Platz greifen soll. Dabei geht es der russischen Regierung vornehmlich um das Zurückdrängen der Einfuhr ausländischer Produkte und deren Ersetzung durch inländische Produktion. Diese kann auch von ausländischen Konzernen ins Werk gesetzt werden. Mit einem eigenen Strategieprogramm „Pharma 2020“ wurde ein Paket zur Förderung des medizinischen Sektors im Land beschlossen, das letztlich auf eine Verbesserung der inländischen Wettbewerbsfähigkeit abzielt. Konkretes Ziel ist eine Steigerung von in Russland oder in der Eurasischen Wirtschaftsunion hergestellten pharmazeutischen Erzeugnissen auf einen 50-Prozent-Marktanteil bis 2020, bei lebenswichtigen Pharmazeutika sollen es 90 Prozent sein. Dafür will der Staat 188 Milliarden Rubel, umgerechnet knapp 3 Milliarden Euro, in heimische Fertigung investieren; und zugleich Schutzmaßnahmen gegen eine Einfuhr von „unentbehrlichen Arzneimittel“, die in einer eigenen Liste aufgeführt werden, ergreifen. Wenn mindestens zwei Bieter aus der Eurasischen Wirtschaftsunion existieren, werden Importe für das jeweilige Produkt verboten, schreiben Sandra Laves und Maria Zimmermann in ihrer Kurzstudie „Lokalisierung oder Contract Manufacturing?“, die im November 2017 in der außenwirtschaftlichen Zeitschrift OstContact erschienen ist. „Ausländische Hersteller geraten deshalb zunehmend unter Entscheidungsdruck, ob sie ihre Produktion nach Russland ausweiten oder nicht“, resümieren die beiden Autorinnen.

Novartis, Merck, Stada und Bionorica sind bereits den Weg der „Lokalisierung“ gegangen, haben also eigene Produktionsstandorte in Russland eröffnet. Andere Pharma-Riesen wie Pfizer oder Teva lassen über russische Kontraktunternehmen ihre Arzneimittel vor Ort herstellen. „Wir glauben, dass die Eurasische Union ein Binnenmarkt ist, den man aus russischer Produktion bedienen kann“, spricht sich Jörg Griesel, der für Osteuropa zuständige Manager der B. Braun Melsungen AG, für die Errichtung eines Standortes in der russischen Stadt Twer aus. Sein in Hessen beheimatetes Unternehmen erzeugt mit insgesamt 55.000 Beschäftigten u.a. Spritzen und chirurgische Instrumente für den Weltmarkt und ist Marktführer in Russland. Mit der „Resolution 102“, die seit der Ukraine-Krise Importe beschränkt und sie durch lokal produzierte Produkte ersetzen will, kann er leben. Solange nach der Herkunft des Kapitals nicht gefragt und der Gewinntransfer nicht blockiert wird, lockt ihn der „attraktive russische Markt“.

Strategische Branchen ohne ausländisches Kapital

Bereits im Jahr 2008 hat der Kreml ein Gesetz erlassen, das Auslandsinvestitionen in bestimmten Branchen beschränkt. Die seit 2014 einsetzende Sanktions- und Embargopolitik des Westens hat diesen Kurs bestätigt. Neben den allgemein als strategisch eingeschätzten Sektoren, die in den meisten Ländern unter staatlicher Kontrolle stehen, wie Militärtechnologie, Weltraum- und Nuklearforschung, hält Moskau auch ein wachsames Auge auf ausländische Investitionen in den Bereichen Flugtechnik, Bergbau, Telekommunikation, Fischereiwesen und Medien. Insgesamt 42 Branchen gelten dem Kreml als „strategisch für die nationale Verteidigung und die staatliche Sicherheit“. Um sie vor ausländischem Zugriff zu schützen, so der Ökonom Astrov, wurde 2008 das „Gesetz für strategische Sektoren“ beschlossen. Grundsätzlich verboten sind Auslandsinvestitionen auch dort nicht, nur dürfen sie keine „dominante Stellung“ in den einzelnen Unternehmen erreichen. Es ist nicht zu übersehen, dass seit dem westlichen Sanktionsregime die Bereitschaft, ausländisches Kapital anzulocken, generell gesunken ist, wie auch in umgekehrter Richtung große westliche Konzerne vorsichtiger mit ihren Russland-Investitionen geworden sind.

Ausblick: Dirigismus oder Liberalismus?

Wie es mit Russlands Wirtschaftspolitik weitergehen wird, dazu gibt es unterschiedliche Konzepte. Zwei völlig konträre werden beide unter der Schirmherrschaft des Kreml ausgearbeitet. Das eine stammt vom langjährigen Finanzminister und Mitglied des präsidialen Wirtschaftsrates Alexej Kudrin. Für das andere ist einer der Mentoren der Eurasischen Wirtschaftsunion und enge Putin-Berater Sergej Glasjew federführend zuständig. Während Kudrin für radikale neoliberale Reformen steht, fordert Glasjew mehr staatlichen Dirigismus und eine Abkoppelung Russlands vom Westen. Glasjew steht als Person auf der Sanktionsliste der Europäischen Union. Kudrin kann sich überall frei bewegen.

Der 57-jährige Kudrin will die radikal-liberalen Ideen des früheren Wirtschaftsministers Jegor Gaidar fortsetzen und konkretisieren. Der von Boris Jelzin eingesetzte Gaidar war für das harte Jahrzehnt der wilden Privatisierungen verantwortlich. Sein Credo lautete: Russland soll sich auf den Export von Rohstoffen konzentrieren und mit den Erlösen die Importe bezahlen. Diese Schule einer völligen Unterordnung unter die – ungleichen – Marktverhältnisse konnte auch unter Putin überleben; sie ist insbesondere im Finanzministerium, der Russischen Zentralbank, aber auch unter führenden Staatsbankern verankert. Folgerichtig fordert Kudrin die Öffnung des russischen Marktes, ohne auf mögliche Verluste Rücksicht zu nehmen, und den Verkauf von Staatsanteilen im Erdöl- und Erdgassektor. Sozialpolitisch fordert er eine Erhöhung des Rentenalters und eine Kürzung der Renten. Nur damit könne Russland den rauen Winden der weltweiten Konkurrenz in Zukunft Stand halten.

Das Konzept von Glasjew ist das genaue Gegenteil von Kudrins Ultraliberalismus. Der habilitierte Wirtschaftswissenschaftler und langjährige Duma-Abgeordnete steht für staatliche Regulierungen und einen wirtschaftspolitischen Dirigismus, der an Zeiten der kommunistischen Herrschaft erinnert. Glasjew schlägt ein Schuldenmoratorium für jene staatlichen Verbindlichkeiten vor, die im Zuge der westlichen Sanktionspolitik entstanden sind. Er spricht sich explizit für eine Abkehr vom US-Dollar als internationales Zahlungsmittel aus. Seinen eurasischen Zugang verknüpft er mit einer Hoffnung auf chinesisch-russische Kooperationen, die er vertieft sehen will. Die Einführung einer Extra-Steuer für Oligarchen soll nach Glasjew dazu beitragen, ein ausreichend gut dotiertes Sozialsystem auf die Beine zu stellen.

Zwischen Kudrin und Glasjew positioniert sich in letzter Zeit der Unternehmer Boris Titov mit seinem Konzept einer keynesianisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die dem Staat als entscheidendem Nachfrager eine wichtige industriepolitische Rolle zuweist. Als Vorsitzender der kleinen „Wachstumspartei“ stellt er sich in die Tradition des zaristischen Innen- und Premierministers Piotr Stolypin. Dieser genießt in letzter Zeit hohes Ansehen nicht nur im Kreml. Er ist auch im Volk beliebt. In den Jahren bis 1911 machte Stolypin sowohl wegen seiner mörderischen Politik gegen die Revolutionäre von 1905 als auch wegen einer kapitalistischen Agrarreform, die Bauern erstmals privaten Grund und Boden versprach, von sich reden. Der Unternehmer Titov entwickelte gemeinsam mit dem „Stolypin-Club“ ein ökonomisches Wachstumsprogramm, auf das Putin als Kompromiss zwischen ultraliberalen und dirigistischen Positionen zurückgreifen könnte.

Wesentlich für die bevorstehende Neuausrichtung der russischen Wirtschaftspolitik wird allerdings auch sein, wie sich das internationale Umfeld entwickelt. Denn ökonomisch gesehen befindet sich Russland sowohl in seiner durch die Sanktionen stark beeinträchtigten Beziehung mit der Europäischen Union als auch bei der derzeit verstärkt stattfindenden chinesisch-russischen Zusammenarbeit in einer peripheren Rolle. Diese zu überwinden, ist eine Aufgabe von historischem Ausmaß, an der letztlich sowohl Peter der Große als auch Lenin gescheitert sind.

Von Hannes Hofbauer ist erschienen: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Promedia Verlag, Wien (4. Auflage, 2017)

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