Über die Besonderheiten bei der jüngsten Welle politischer Proteste im Iran
Am 28. Dezember 2017 wurden die Straßen des Irans von einer Protestwelle ergriffen, die binnen sehr kurzer Zeit mehr als 100 Groß- und Kleinstädte überwältigte. Das Ausmaß dieser Proteste steht ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte des Landes – sowohl in Bezug auf die geographische Verbreitung dieser Demonstrationen als auch hinsichtlich der Radikalität. Die Rebellion gipfelte in einer Welle von Demonstrationen, die mehr als 10 Tage anhielten. Doch, wie erwartet, wurde diese Rebellion schließlich vom iranischen Staat gewaltsam unterdrückt.
Offiziellen Angaben zufolge wurden mehr als 4000 Demonstranten – überwiegend junge Leute aus armen Verhältnissen – verhaftet und mehr als 20 während der Proteste getötet. Wieder andere seien in der Haft ums Leben gekommen. Da der Gipfel des Aufstands nun zwei Monate zurück liegt, ist es möglich, ein klares Bild dieser Proteste, deren Hintergrund und Bedeutung zu zeichnen. In diesem Artikel werde ich mich dabei auf zwei Hauptmerkmale der Proteste konzentrieren. Erstens werde ich ausführen, wie diese Proteste darauf hindeuten, dass die Klassendynamik des iranischen Staates im rapiden Wandel begriffen ist. Zweitens, wird beschrieben, wie das in den westlichen Medien vorherrschende Verständnis der iranischen Politik – wonach die Politik im Iran durch einen Kampf zwischen den sogenannten „reformistischen“ und „traditionellen“ Fraktionen des islamischen Regimes charakterisiert ist – mit diesem jüngsten Aufstand grundsätzlich in Frage gestellt wurde.
Die erste wichtige Besonderheit dieser Proteste ist die Tatsache, dass sie eine etablierte und hartnäckige Annahme aus der Welt schaffen: nämlich die Prämisse, dass die „Armen“ und Ausgegrenzten im Iran die Unterstützungsbasis des repressiven islamischen Regimes bilden würden, während die städtischen, aufgeklärten Mittelklassen (die Schicht, die sich 2009 am sogenannten „Green-Movement“ beteiligte) als die authentische Opposition gegen die Theokratie zu betrachten sei. Diese Vorstellung hat sich mit dem Erscheinen des jüngsten Aufstands als falsch erwiesen – zur Überraschung beider Fraktionen des Regimes und vieler Iranexperten. Im Gegensatz zu den Protesten um die angefochtene Präsidentschaftswahl im Jahre 2009 begannen die jüngsten Demonstrationen an den Rändern der iranischen Gesellschaft; sie konzentrierten sich auf marginalisierte Orte. Besonders vertreten waren somit kleinstädtische Bevölkerungen und provinzielle Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten und einer hohen Dichte von ethnischen Minderheiten, die vom iranischen Staat wirtschaftlich, kulturell und politisch diskriminiert werden.
Vor vier Jahrzehnten, während der Revolution von 1979, war die Mehrzahl der Armen in den Städten des Irans noch ungebildet, religiös; meist mit traditionell-konservativer Grundhaltung. Folglich war diese Bevölkerungsgruppe besonders empfänglich für die heuchlerische ‘“anti-westliche“ und „Gerechtigkeitspropaganda“ der islamistischen Kräfte. Mit einer solchen Propaganda ist es dem islamischen Regime in den vergangenen 40 Jahren weitgehend gelungen, die armen Bevölkerungsteile des Irans unter seiner ideologischen Hegemonie zu halten – auch wenn sich die wirtschaftliche Lage der arbeitenden Schichten im Iran verschlechterte, insbesondere infolge der aggressiven neoliberalen Politik, die der iranische Staat seit 1990 verfolgt. Die heuchlerische Gerechtigkeitsrhetorik erklärt auch zum Teil den Wahlsieg des politischen Außenseiters, Mahmud Ahmadinedschad, der in seiner Wahlkampagne im Jahr 2005 einen Kreuzzug gegen Ungerechtigkeit und Korruption versprach. Aber jede Rhetorik kennt eben ihre Grenzen. Die neoliberale Politik des Irans und die alleinige Kontrolle der politischen Elite (unter anderem, die Revolutionsgarde) über die Ressourcen des Landes und die vermeintlich privatisierten Zweige der iranischen Wirtschaft schließen nämlich aus, dass es in der islamischen Republik auch nur annähernd zu einer gerechten oder gleichmäßigen Wohlstandsverteilung kommt – ganz zu schweigen von einer Abschaffung der Korruption.[1]
Die nouveau poor, die neuen Armen, die im Mittelpunkt der neuesten Demonstrationen standen, bestehen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten: Fabrikarbeiter, die täglich zur Arbeit gehen und dennoch systematisch nicht entlohnt werden (es kommt vor, dass Arbeiter bis zu 30 Monate warten müssen, bevor sie ihren Lohn bekommen); Jugendliche, die zwar einen Uni-Abschluss besitzen, jedoch keine Aussichten auf bezahlte Arbeit haben; ethnische und religiöse Minderheiten, die auf verschiedenste Weise diskriminiert werden; und Landarbeiter, die ein überlastetes und unterbezahltes Leben an den Rändern der Großstädte führen. Schließlich waren in der Bewegung auch die ärmeren Schichten des Mittelstandes vertreten, deren Lebensumstände sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert haben. Für diese unterschiedlichen Bevölkerungsschichten hat die Politik des Regimes anscheinend einen point of no return erreicht. Doch die Proteste sind nicht bei wirtschaftlichen Beschwerden stehengeblieben. Und damit kommen wir zur zweiten, wichtigen Besonderheit der jüngsten Bewegung.
Die neuesten Entwicklungen im Iran unterstreichen deutlich: Im politischen Bereich läuft die islamische Republik nicht mehr auf den Kampf zwischen den „reformistischen“ und den „traditionalistischen“ Regimefraktionen hinaus. Es erhebt sich eine dritte politische Stimme die, auch wenn zurzeit unorganisiert, unterrepräsentiert und politisch eher amorph, dennoch kompromisslos und unüberhörbar ist. Die Rivalität zwischen den beiden Regimefraktionen ist auf eine Zeit vor zwei Jahrzehnten zurückzuführen, als der Anführer des reformerischen Flügels, Mohammad Chātami, zum Präsidenten gewählt wurde. Damit kamen die „Reformisten“ als organisierte Fraktion ins Spiel. Diese waren und bleiben überzeugt davon, dass sie mehr Freiheit und Demokratie im Rahmen des islamischen Regimes selbst verwirklichen können. Anfangs versuchten sie, die Zivilgesellschaft als Mithilfe beim Kampf um die Macht zu mobilisieren, aber infolge einiger wichtiger Ereignisse (vor allem dem Scheitern der ‚Grünen Bewegung“ im Jahre 2009) haben sie viele Aspekte ihrer radikalen Rhetorik aufgegeben und wurden im Austausch an der politischen Macht beteiligt.
Seit Anbeginn der neuesten Bewegung versuchten offensichtlich beide Regimefraktionen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich gegenseitig zu untergraben – beide Fraktionen versuchten, die Bewegung für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren (was man, mit Verweis auf die heutige Popkultur, The Game of Turbans nennen könnte). Aber diese Versuche schlugen bald fehl. Es stellte sich heraus, dass die Demonstranten weder an der einen noch an der anderen Regimefraktion ein Interesse hatten. Eine der beliebtesten Parolen auf den Straßen fasste diesen politischen Ausgangspunkt in wunderbarer Weise zusammen: „Reformisten, Prinzipalisten – eure Tage sind vorbei“ (auf Farsi: ‘eslahtalab, osulgera dige tamoome majera’.)
Ein Teil der städtischen Mittelklasse blieb dieser Bewegung fern; ein anderer Teil verurteilte die Bewegung offen. Diese Reaktion der Mittelklasse spiegelt eine neue Entwicklung in der Politik Irans wider; es scheint, dass diese Schichten eine neue, gemeinsame Sprache mit der expansionistischen und nationalistischen Politik des Regimes gefunden haben.
Nach der brutalen Unterdrückung der Bewegung versucht nun das islamische Regime durch Einschüchterung und Brutalität jeglichem Protest ein Ende zu setzen. Frauen die sich öffentlich entschleiert haben, werden geschlagen, verhaftet und strafechtlich verfolgt. Arbeiter- und Gewerkschaftsaktivisten werden seitens des Regimes einem immensen Druck ausgesetzt. Umweltaktivisten sind verhaftet worden (einer von ihnen kam bereits im Gefängnis ums Leben. Derzeit warten rund 50 (überwiegend linksgerichtete) Studierende auf ihren Prozess.
Es ist eine bekannte Strategie der islamischen Republik, jede Art Maßnahmen gegen Protestbewegungen und deren Anführer zu ergreifen – einschließlich Attentate und Mord. Immer wenn eine grundsätzliche Opposition zustande kommt, wird diese blutig niedergeschlagen; die Aktivisten werden verbannt, verhaftet oder vernichtet. Demoralisierung und Generationsbrüche folgen – und verhindern die Entstehung einer stabilen, generationsübergreifenden und kohärenten Oppositionspolitik. Der Mangel an einer Überlieferung der revolutionären Praxis durch die Generationen hindurch stellt also ohne Zweifel die Achillesferse der radikalen Opposition des Irans dar. Und dieses Problem kam in letzter Zeit deutlich zum Vorschein – nicht nur in den jüngsten Protesten selbst, sondern auch darin, dass die Proteste rasch zerschlagen werden konnten.
Aber ganz gleich wie die Zukunft dieser neu entstandenen und noch fragilen Bewegung aussieht, so verdeutlichte die Protestwelle doch, dass es tatsächlich einen „anderen Iran“ gibt: einen bislang nicht in Erscheinung getretenen, einen verletzten Iran, der nichtsdestotrotz dynamisch, hoffnungsversprechend und entschieden ist – und der vor allem bereit ist, über die künstliche Rivalität zwischen den beiden Regimesfraktionen hinauszugehen und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Kein Maß an Repressionen oder Einschüchterung scheint imstande zu sein, die Traditionen, Ideale oder Anschauungen dieses radikalen Irans zu vertilgen.
Persönliche Bemerkung
Den Winter 2007-2008 verbrachte ich im Gefängnis Evin in Teheran. Ich war damals 21 Jahre alt und Jurastudentin an der Universität Teheran. Ich wurde zusammen mit mehr als 50 anderen linksgerichteten Studenten verhaftet. Damals veröffentlichten wir eine Anzahl von Studentenzeitungen, die Artikel zur Frauenbefreiung, zur Arbeiterbewegung und zur progressiven Literatur usw. im Iran enthielten. Zudem organisierten wir regelmäßige Veranstaltungen und Demonstrationen am Tag der internationalen Arbeiterklasse, dem 1. Mai, und am Weltfrauentag, dem 8. März. Nach Isolationshaft, Verhör und zum Teil auch Folter, wurden unsere Genossinnen und Genossen unter anderem des Hochverrats beschuldigt. Wir mussten also entweder das Land verlassen oder lange Gefängnisstrafen absitzen.
Wenn ich nun ein Jahrzehnt später sehe, wie die Jugendlichen des Irans dieselben Parolen rufen, wie wir dies taten, dann nehme ich dies mit einem weinenden und zugleich einem lächelnden Auge zur Kenntnis. Ich empfinde Trauer angesichts des Eindrucks, dass eine weitere Generation den anscheinend endlosen Teufelskreis von Aufstand, Rebellion und Repressionen zu durchlaufen hat. Gleichzeitig empfinde ich Freude darüber, dass, ganz gleich, wie oft die Stimmen für die Freiheit und Gerechtigkeit im Iran zum Schweigen gebracht werden, diese Stimmen stets wieder erhoben werden.
Aus dem Englischen von Ben Lewis
Anmerkung:
[1] Viele Aktivisten und Publizisten im Westen sehen in den Sanktionen gegen den Iran die einzige Ursache für die miserable Lage der iranischen Wirtschaft. Es ist nicht zu leugnen, dass die westlichen Sanktionen eine Beeinträchtigung der Entwicklung der iranischen Wirtschaft darstellen. Doch ein tiefergreifendes Problem liegt in der Verwaltung und Verteilung der Ressourcen im Iran selber. Nach dem Nuklearabkommen zwischen dem Iran und den westlichen Mächten, was die Aufhebung einiger der Sanktionen einleitete, gab es einen begrenzten wirtschaftlichen Aufschwung. Doch dieser Aufschwung kam lediglich einer kleinen, auserwählten Schicht zugute, während sich der Lebensstandard der iranischen Bevölkerung weiter verschlechterte.
Daten zum Iran
Die iranische Wirtschaft erlebte 2011-2015 eine Krise, teilweise durch westliche Sanktionen, teilweise durch Korruption und Unfähigkeit der herrschenden Schicht bedingt. 2016 und 2017 gab es erstmals seit mehreren Jahren wieder ein deutliches ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt. Die Erholung des Ölpreises auf aktuell mehr als 70 US-Dollar je Barrel (2015/2016 lag er unter 45 US-Dollar!) unterstützte diese Erholung. Dennoch leben gut ein Drittel der Bevölkerung an der oder unter der Armutsgrenze. Die offizielle Arbeitslosenquote lag 2015-2017 bei etwas über 11 Prozent; real sind es rund 20 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent, real haben 40 Prozent der Jugendlichen keinen Job.
Seitdem die westlichen Sanktionen gegen den Iran aufgehoben wurden, entwickelt sich das Land zu einem Mekka der Multis. Die Drohungen der US-Regierung führen jedoch dazu, dass sich einzelne Länder, so auch Deutschland, noch zurückhalten. So wurden im Zeitraum März bis Dezember 2017 im Iran bei den zwei einheimischen Autokonzernen Khodro und Saipa wieder 1,1 Millionen Kraftfahrzeuge hergestellt; 430.000 davon waren Renault- und Peugeot-Modelle. Die deutschen Autokonzerne verhandeln noch über einen Einstieg. Auch Südkorea und China (China auch über die Geely-Tochter Volvo) sind stark vertreten. Die deutschen Exporte in den Iran lagen 2010 nahe 4 Milliarden Euro. In den Jahren 2013-2015 waren sie auf die Hälfte abgesackt. 2016 bei 2,6 Milliarden und 2017 lag das Volumen wieder bei 3 Milliarden Euro.