Neoliberale Mangelwirtschaft

Der Terminus Mangelwirtschaft (shortage economy, defizitnaja ekonomika) wurde 1980 von dem ungarischen Wirtschaftswissenschaftler János Kornai in die ökonomische Literatur eingeführt. Er bezeichnet eine Wirtschaft, in der auf den verschiedensten Gebieten die Nachfrage ständig (und nicht nur ausnahmsweise) das Angebot übersteigt, so dass Mangel herrscht und die Käufer Schlange stehen.

Kornai sah ein Grundmerkmal sozialistischer Planwirtschaft sowjetischen Typs in der Tatsache, dass wegen fehlender Anreize für die Produzenten zu wenig produziert wird, und er stellte ihr jene Marktwirtschaften gegenüber, in denen ständig Überfluss produziert wird. Letzteres erinnert an einen schon damals zwanzig Jahre alten Bestseller, „Gesellschaft im Überfluss“ (The affluent society), geschrieben von dem linksliberalen Keynesia-ner John Kenneth Galbraith. Beide Merkmale hatte schon Marx vorausgesehen, den Mangel als Haupthindernis und den Überfluss (Überproduktion) als Hauptregulator künftiger (sozialistischer) Produktion.

Heute sind die Planwirtschaften sowjetischen Typs fast überall verschwunden, aber auch die Gesellschaften im Überfluss scheinen nicht mehr zu existieren; es mehren sich die Nachrichten über zunehmende Lieferengpässe in den unterschiedlichsten Bereichen der Marktwirtschaft. Gegenwärtig klagt nahezu jedes zweite Unternehmen in Deutschland darüber, dass es seine teilweise prall gefüllten Auftragsbücher nicht abarbeiten kann. Jetzt stehen auch in der neoliberalen Marktwirtschaft die Käufer Schlange. Die Ursachen dafür sind sicherlich anderer Art, denn erstens spielen die Interessen der Produzenten, beziehungsweise der Werktätigen, wie sie zu realsozialistischen Zeiten genannt wurden, in der Marktwirtschaft nur eine sehr untergeordnete Rolle, und zweitens haben die produzierenden Firmen offenbar ein vitales Interesse, Produktion und Umsatz zu erhöhen, sonst würden sie sich ja nicht über ihre Unterversorgung beschweren.

Die Liste fehlender Produkte ist lang. Sie reicht von Holz und Baustoffen über Halbleiter und Chips bis zu Fahrrädern und Arzneimitteln. Die Vielfalt der vergeblich nachgefragten Erzeugnisse belegt, dass die Corona-Pandemie, die in den vergangenen anderthalb Jahren als „unabwendbare Naturkatastrophe“ so gern zum Bestimmungsgrund allen Ungemachs hochstilisiert wurde, allenfalls ein die Versorgungskrise verschärfendes Moment darstellt. Sicherlich gibt es Wirtschaftszweige, die von der Pandemie schwer getroffen wurden, wie beispielsweise der internationale Tourismus (weniger der nationale) und der Personenflugverkehr, nicht zu reden von den Kultureinrichtungen verschiedenster Art und der Gastronomie. Aber deren Schwierigkeiten haben wenig bis nichts mit den Engpässen zu tun, die die deutsche Wirtschaft zu Recht mit Sorge erfüllen. Wer also nach den Ursachen fragt, muss schon etwas genauer hinsehen und nicht nur die letzten zwei Jahre betrachten.

Die seit Jahren von den Zentralbanken geübte Praxis des billigen Geldes hat, entgegen ihrer Zielsetzung, keineswegs zu einer Erhöhung der Investitionen in der produzierenden Wirtschaft geführt; die aber wäre wesentliche Voraussetzung dafür, mehr zu produzieren, auf diese Weise das Angebot zu erhöhen und so die Nachfrage zu befriedigen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein – beispielsweise war in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. Dezember 2019, also Wochen vor den ersten Pandemieberichten, sehr treffend die Rede von einer „Kannibalisierung der realen Investitionen“ durch die zwar schuldenfinanzierten, aber viel renditeträchtigeren Finanzinvestitionen.

Wenn die Rendite, das Verhältnis von Kapitalertrag und Kapitaleinsatz, selbst unter Berücksichtigung bestimmter Risikofaktoren, zum alles beherrschenden Bestimmungsgrund wirtschaftlicher Aktivität wird und zudem durch Spekulationen in der Finanzsphäre leichter und schneller zu erlangen ist als durch langfristige Anlagen in der Produktionssphäre, kommt es zu dieser Kannibalisierung, die überdies den Eindruck vermittelt, es handle sich um einen „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“.

Wie schnell solch Treiben zu Ende gehen kann, zeigt das Beispiel des chinesischen Immobilienriesen Evergrande, der kurz vor dem Bankrott steht und allenfalls auf dem Wege der Staatsintervention gerettet werden kann. Der Bauboom in China bewirkte aber, dass es für die deutsche Forstwirtschaft lukrativer war, das Holz nach China zu exportieren, als es im eignen Land zu verkaufen. Daraus resultierten die bekannten Lieferengpässe (die Käufer stehen Schlange).

Schlange stehen auch all jene Firmen, die in ihre Produkte Chips einbauen müssen. Die meisten von ihnen hatten sich über Jahre darauf verlassen, sie billig in Ostasien einkaufen zu können. Dort werden sie aber mehr und mehr in der eignen, nationalen Produktion verbaut und demzufolge kommt es auf dem Weltmarkt zu den bekannten Lieferengpässen. Es wird, wie das Beispiel der von Infineon im österreichischen Villach errichteten Chipfabrik zeigt, langfristig geplanter und sehr kostenintensiver Investitionen bedürfen, um den Mangel zu beheben. Das Beispiel zeigt zudem, dass die über Jahre so beliebte Methode des Outsourcing nur noch in begrenztem Maße funktioniert – ohne unternehmenseigne Fachkräfte sind solche Projekte nicht zu realisieren.

Outsourcing ist übrigens eine weitere Ursache für die neuerdings zu beobachtende neoliberale Mangelwirtschaft, ebenso das über Jahre befolgte Ideal der Just-in-time-Produktion, des vorratslosen Produzierens. Selbstverständlich erhöht Vorratshaltung die Produktionskosten, und solange die Lieferketten funktionieren, ist es für die Rendite günstiger, auf sie zu verzichten. Aber wie störanfällig globale Lieferketten sind oder zumindest sein können, hat sich erst jüngst gezeigt, als das Containerschiff Evergreen sich im Suezkanal querlegte und ihn über Wochen blockierte, so dass die Schiffseigner die Wahl hatten, zuzuwarten oder den teuren Weg um die Südspitze Afrikas zu nehmen.* Die Auswirkungen dieses Unglücks zeigten sich selbst im deutschen Einzelhandel, wo in den Supermärkten plötzlich Schilder auftauchten, dass bestimmte Waren wegen der Havarie im Suezkanal nicht mehr angeboten werden konnten.

Damit im Zusammenhang steht ein Engpass ganz besonderer Art. Während die Verkehrsmittel immer gigantischere Ausmaße annehmen – ob nun Containerschiffe oder ICE’s, Gigaliner oder SUV’s – hinkt die Infrastruktur bestenfalls hinterher. Bestenfalls, denn der Investitionsstau auf diesen Gebieten wächst seit Jahrzehnten und beträgt allein in Deutschland nahezu hundert Milliarden Euro. Verkehrsmittel lassen sich immer gut absetzen, je größer, desto besser – aber eine Infrastruktur, die von Staatswegen bezahlt werden muss und nicht auf dem freien Markt erhältlich ist?

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die gegenwärtigen ökonomischen Probleme nicht auf das Wirken eines Virus zurückgeführt werden können. Vielmehr ist es doch das allein auf die Rendite – vulgo: den Profit – orientierte Wirtschaftssystem des Neoliberalismus, das gegenwärtig nicht in der Lage ist, den Investoren genügend Anreize zu bieten, sich in der Realwirtschaft zu betätigen, um auf diese Weise die vorhandenen Probleme zu bewältigen.

Kornai zufolge waren fehlende Anreize für die Produzenten Ursache dafür, dass zu wenig produziert wurde und die Käufer Schlange standen. Sie waren letztlich auch die Ursache für den Niedergang der Realwirtschaft und den Untergang der Planwirtschaft sowjetischen Typs. Das dauerte knapp zwanzig Jahre, aber vielleicht ist die neoliberale Mangelwirtschaft auch in dieser Beziehung schneller…

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

* Zur Evergreen-Havarie siehe auch den Artikel “Die Blockierung des Suez-Kanals“ in Lunapark21, Heft 54 vom Sommer 2021, S. 42.