Ein reformistischer Vorschlag zur Abwendung einer Katastrophe
Um es gleich vorauszuschicken: Marx war schon 1850 der Auffassung, die Steuerreform sei „das Steckenpferd aller radikalen Bourgeois, das spezifische Element aller bürgerlich-ökonomischen Reformen.“ Die Ver-teilungsverhältnisse, „die Verhältnisse zwischen Arbeitslohn und Profit, Profit und Zins, Grundrente und Profit, können durch die Steuer höchstens in Nebenpunkten modifiziert, nie aber in ihrer Grundlage bedroht werden“ (Marx/Engels: Werke [MEW], Bd. 7. S. 285). Wohl auch deshalb haben sich linke Ökonomen nur selten mit dem Problem einer Steuerreform befasst, denn es geht vordergründig „nur“ um die Umverteilung schon produzierten Mehrwerts, und Verteilungskämpfe, da nicht an die Substanz gehend, sind immer mit dem Geruch des Reformismus behaftet. Allerdings hatten Marx und Engels im Frühjahr 1850 ein baldiges Wiederaufflammen der Revolution (von 1848/49) erwartet, und das allein rechtfertigte das abschätzige Urteil ð cber eine Steuerreform. In nichtrevolutionären Zeiten wie den jetzigen ist es meines Erachtens keine Schande, über radikale Reformen nachzudenken. Rosa Luxemburg nannte so etwas revolutionäre Realpolitik.
Anlass für mein Nachdenken ist zunächst die Tatsache, dass die kapitalistischen Zentralbanken sich seit mehr als zwölf Jahren mit einer Null-Zins-Politik vergeblich darum bemühen, Kapitaleigner dazu zu bewegen, mehr in die Realwirtschaft zu investieren. Vergeblich, denn die spielen weiter an der Börse, schichten ab und an ihre Aktienpakete gewinnbringend um, aber ansonsten passiert faktisch nichts. Hinzu kommt der Misserfolg der Bemühungen von Thomas Piketty, der seit Jahren für eine durchgreifende Erneuerung der Steuerpolitik argumentiert (vgl. den Beitrag von Georg Fülberth in Lunapark21, Heft 54).
Die Unlust der Kapitaleigner, Investitionen in der Realwirtschaft vorzunehmen, resultiert aus einer einfachen Tatsache: Wenn durch Spekulationen in der Finanzsphäre viel höhere Profite viel leichter und viel schneller zu erlangen sind als durch langfristige Anlagen in der Produktionssphäre, sind die unmittelbaren Folgen für Produktion und Akkumulation absehbar, insbesondere dann, wenn eine von Engels im Kapital-Band III getroffene Feststellung auf die gegenwärtigen Verhältnisse angewendet wird. Sie lautet: „Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger wenigen, fertiger Großkapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern.“ (MEW, Band 25, S. 255 – meine Hervorhebung.)
Engels’ Feststellung erklärt einiges von dem, was ich in Heft 55 dieser Zeitschrift unter dem Titel „Neoliberale Mangelwirtschaft“ beschrieben hatte, die Verrottung von Infrastrukturen, das Reißen der Lieferketten, das vorratslose Wirtschaften, die fehlenden Investitionen im Gesundheitswesen, in Bildung und Ausbildung. Vor allem trägt sie zur Klärung der Situation in dem Bereich bei, über den zwar ständig geredet wird, in dem aber, gemessen an der Aufgabenstellung, bislang kaum etwas getan worden ist – die zwar noch nicht eingetretene, aber immer wahrscheinlicher werdende Klimakatastrophe, die die Fortexistenz der Menschheit bedroht. Gerade hier sind, allen hochtönenden Versprechungen und zum Fenster hinaus gerufenen Parolen zum Trotz, die Aussichten auf Veränderung schlechter als je zuvor – angesichts der weiter fortgesetzten neoliberalen Wirtschaftspolitik, der Nicht-Ergebnisse diverser Weltklimakonferenzen (die der im November 2021 in Glasgow zu Ende gegangenen hat Greta Thunberg zu Recht als „Blablabla“ charakterisiert) und bislang ziemlich erfolglos gebliebener Aktionen wie „Fridays for future“ und ähnlicher Proteste.
Diese Situation grundlegend zu ändern, erforderte Investitionen in Billionenhöhe. Nun kann aber in der freien unsozialen Marktwirtschaft unter normalen Umständen weder die Zentralbank noch der bürgerliche Staat Kapitaleigner dazu zwingen, in der Realwirtschaft oder gar in von ihnen bestimmten („geplanten“) Bereichen Investitionen zu tätigen, wenn sie sich nicht „rechnen“. Altliberale wie der große Adam Smith wussten noch, dass für alles, was nicht profitabel für die Unternehmer ist, der Staat zuständig ist, der das aus seinem Haushalt finanziert. Neoliberale wie der kleine Christian Lindner dagegen glauben, dass all das, was sich in öffentlicher Hand befindet und nicht profitabel wirtschaftet, abgeschafft gehört. Dementsprechend sieht die Lage in diesen Bereichen aus.
Es ist davon auszugehen, dass – im Positiven wie im Negativen – die Steuern, ökonomisch ausgedrückt, das Dasein des Staates sind (vgl. MEW, Bd.4, S. 348). Sie sind es, die dem Staat das für seine Tätigkeit notwendige Geld verschaffen, das zwar im Prinzip massenhaft vorhanden ist, aber zurzeit in durchaus falschen Händen, nämlich in denen der an der Börse spielenden, jedoch investitionsabstinenten Kapitaleigentümer. So titelte z.B. Focus online am 9.11.2021: „Warren Buffett sitzt auf 143 Milliarden Dollar Cash – doch kauft [er] fast nur eigene Aktien.“
Derselbe Buffett beschwert sich seit Jahren, dass er weniger Steuern zu zahlen habe als seine Sekretärin (vgl. Handelsblatt vom 25.1.2012), und verlangt mehr Steuern für die Superreichen: „Meine Freunde und ich sind lange genug von einem Milliardär-freundlichen Kongress verhätschelt worden“ (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.8.2011). Dem Manne könnte geholfen werden – nicht etwa durch einen revolutionären Akt, sondern durch eine Steuerreform. Dabei ginge es zunächst nur um die Rückkehr zu den heutzutage nahezu mittelalterlich anmutenden Zuständen vor der neoliberalen „Revolution“. Da- mals befand sich der Präsident der Ford Company, Lee Iacocca (1924-2019), „in der Steuerklasse von 90 Prozent“, und er schrieb in seiner später (zusammen mit William Novak) verfassten Autobiografie völlig ungerührt und ohne jedes Selbstmitleid: „…um zwei Dollar ausgeben zu können, mussten wir zwanzig Dollar verdienen.“ Verdienen? Nun, der Euphemismus sei dem Verstorbenen verziehen, denn seine Botschaft ist so klar wie die von Warren Buffett: Es geht allein um die Steuern, die die Angehörigen der höchsten Einkommensklassen zu entrichten haben. Aber das würde voraussetzen, dass die Politik mit dem „Verhätscheln“ der Milliardäre aufhört und sich von einer neoliberalen Ideologie verabschiedet, die die Wirtschafts- und Finanzpolitik seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher, also seit vierzig Jahren, beherrscht, also die Herrschaft des Neoliberalismus gebrochen wird. Auf der Basis derart erhöhter Steuereinnahmen könnten, sinnvo ll eingesetzt und nicht vom Lobbyistenklüngel eingesackt, sukzessive die notwendigen Realinvestitionen in Billionenhöhe getätigt werden. Dann könnten sich Klima, Ozeane, die belebte Natur usw. langsam erholen und die Selbstreinigungsprozesse der Natur wieder in Gang kommen.
Das ist kein revolutionäres Programm. Aber vorschnelle Kritiker sollten bedenken, was Marx in vergleichbarer Lage in Kapital-Band I schrieb. Die andauernde Arbeitszeitverlängerung während der industriellen Revolution, der dadurch hervorgerufene Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft, führte seiner Ansicht nach damals nicht nur „eine Reaktion der in ihrer Lebenswurzel bedrohten Gesellschaft herbei und damit einen gesetzlich beschränkten Normal-Arbeitstag“, sondern: Die von den gesetzlich verordneten Arbeitszeitverkürzungen initiierte „wundervolle Entwicklung von 1853 bis 1860, Hand in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter, schlug das blödeste Auge. Die Fabrikanten selbst… wiesen prahlend auf den Kontrast mit den noch ‚freien’ Exploitationsgebieten hin.“
Vergleichbares auf dem Wege der Reform für eine heute in ihrer Lebenswurzel bedrohte Weltgesellschaft zu erreichen, eine tatsächliche Wiedergeburt der Natur, es wäre vielleicht doch nicht die schlechteste Variante.
Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin.