Deutscher Bund und deutsche Frage: Kleindeutschland oder Großösterreich?

Ein Rückblick auf Entstehung und Entwicklung des Deutschen Reichs

Österreich hatte nicht nur einen Doppeladler als Wappen, sondern kurzzeitig auch einen Doppelkaiser: Von 1804 bis 1835 stand Franz I. dem von ihm begründeten Kaisertum Österreich vor, von 1792 bis 1806 hingegen war er als Franz II. der letzte Kaiser des „Heiligen Römischen Reichs“ (der mit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Gebrauch gekommene Zusatz „Deutscher Nation“ bedeutete übrigens nicht, dass es auf seinem Territorium einen Frankreich vergleichbaren Nationalstaat gegeben hätte).

Franz hatte die richtige Ahnung gehabt, dass infolge der Eroberung zunächst der links-, später auch der rechtsrheinischen Gebiete durch die französischen Revolutionsarmeen die Tage des später so genannten Altreichs, des, wie Friedrich Engels ihn nannte, „alten ruhigen heiligen römischen Dunghaufens“, gezählt waren; er verschaffte sich die Würde eines Kaisers von Österreich und legte am 6. August 1806, nach der im Dezember 1805 verlorenen Schlacht von Austerlitz, die Reichskrone nieder, und damit erlosch das „Altreich“. Die Vorgeschichte der Gründung des deutschen Reichs beginnt also mit einem Untergang. Ihm folgte im Oktober 1806 die von den preußischen Truppen verlorene Schlacht bei Jena.

Erst infolge der französischen Besetzung der preußischen Gebiete kam es dort zu entschiedenen Reformen, so wie es Franz Mehring hundert Jahre später formulierte: „Politisch hat es die deutsche Bourgeoisie nie verwunden, dass sie sich nicht selbst emanzipiert hat, sondern durch ausländische Hilfe emanzipiert worden ist. Deshalb ist der deutsche Bürgersmann auch nie ein Freier geworden, sondern immer nur ein Freigelassener, dem die zerbrochene Kette bei jedem Schritte mit verräterischem Klirren nachschleicht.“ Auch aus diesem Grunde hat der Revolutionär Kurt Eisner die „Befreiungskriege“ immer die „Freiheitsbefreiungskriege“ genannt.

Nach deren Ende fand 1815 der Wiener Kongress statt, der eine weitgehende Restauration alter Verhältnisse einleitete. Zwar wurde das „Altreich“ nicht wieder hergestellt, aber der an dessen Stelle getretene Deutsche Bund beendete die feudale Zersplitterung keineswegs. Vor allem hatten Preußen und Österreich ihre schon im „Altreich“ eingenommene Sonderrolle behalten, da große Teile ihrer Territorien auch jetzt nicht zum Deutschen Bund gehörten.

Die zögerliche Überwindung der feudalen Zersplitterung begann auf eine Art, die für kapitalistische Entwicklungen bis heute charakteristisch ist, nämlich mit ersten Schritten zur Herstellung eines einheitlichen inneren Marktes, zunächst durch den Abbau von Binnenzöllen und Akzisen (Verbrauchssteuern). Der Prozess begann schon zu napoleonischer Zeit in süddeutschen Ländern wie Bayern, Baden und Württemberg und erreichte einen ersten Höhepunkt mit analogen Maßnahmen innerhalb Preußens. Sofern die Transportwege durch preußisches Gebiet führten, erschwerte die damit verbundene Einführung neuer und erhöhter Transitzölle den Handel zwischen den kleineren Ländern, den sogenannten Mittelstaaten. Seine im Ergebnis des Wiener Kongresses erreichte Ausdehnung von Ost- bzw. Altpreußen bis zu den am Rhein gelegenen Provinzen, die zuweilen „Neupreußen“ genannt wurden, bei nach wie vor vorhandener Zersplitterung, erzwang in gewisser W eise, dass Preußen in Deutschland „hineinzuwachsen“ begann.

Als Gegenreaktion entstand das Projekt eines Zollvereins, der verschiedene süd- und mitteldeutsche Staaten umfassen sollte, sich dann jedoch auf Bayern und Württemberg beschränkte. Dem stand der wenig später gebildete preußisch-hessische Zollverein gegenüber, was zu einer weiteren Gegenreaktion, zur Bildung des Mitteldeutschen Zollvereins, führte, wohingegen Österreich auf seinem eigenständigen Schutzzollsystem bestand. Aufgrund der politischen und zunehmend auch ökonomischen Dominanz Preußens entstand aus dieser Gemengelage schließlich 1834 der Deutsche Zollverein, dem sich Österreich jedoch nicht anschloss.

Das Kaisertum Österreich war zu dieser Zeit der Fläche nach der zweitgrößte Staat Europas, der Bevölkerung nach der drittgrößte (nach Russland und Frankreich), und zwei Drittel seines Territoriums lagen außerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes. Damit war es einerseits faktisch aus Deutschland „hinausgewachsen“, andrerseits nach wie vor Präsidialmacht des Deutschen Bundes. Die deutsche Frage – ein schon damals aufgekommener Begriff – blieb ungelöst.

Die Konkurrenz zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft innerhalb des Deutschen Bundes führte während der Revolution von 1848/49 in der Frankfurter Nationalversammlung zu der Debatte, wie ein künftiges Deutsches Reich herzustellen sei, ob unter der Führung Preußens (die kleindeutsche Lösung) oder unter Einschluss Österreichs (die großdeutsche Lösung). Österreich selbst propagierte ein den Deutschen Bund ablösendes Großösterreich, in dem Preußen die zweite Geige gespielt hätte, denn ein solches Gebilde hätte von den Bevölkerungszahlen her über 70 Millionen Einwohner umfasst, davon 38 Millionen aus dem Kaisertum Österreich, 16 Millionen aus dem Königreich Preußen und 18 Millionen aus den übrigen Mitgliedsländern des Deutschen Bundes.

Auch befürchteten die deutschsprachigen Länder, dass die nichtdeutschen Gebiete Österreichs, die die Mehrheit der Bevölkerung Österreichs stellten (26 Millionen), einen zu großen Einfluss auf die „gesamtdeutsche“ Politik gewinnen würden. Allerdings scheiterte auch der preußische Gegenplan, eine „Erfurter Union“ unter Ausschluss Österreichs zu bilden, denn ihn lehnten auch süddeutsche Länder wie Bayern, Baden und Württemberg ab, da sie befürchteten, dass Preußen in diesem „Kleindeutschland“ zu großen Einfluss gewinnen würde.

Also blieb es beim Deutschen Bund. Allerdings veränderten sich nach 1850 die ökonomischen Konstellationen drastisch. Durch die industrielle Revolution übernahm Preußen ökonomisch die Führung, während Österreich mehr und mehr an Einfluss verlor. Bismarck hatte die völlig richtige Reihenfolge gewählt, als er 1862 formulierte, dass die Reichseinigung nur durch „Eisen und Blut“ zu erreichen sei (die Formel wurde erst später umgekehrt). Die innerdeutschen Einigungskriege von 1864 und 1866 führten zur Bildung des Norddeutschen Bundes; der Deutsche Bund war damit aufgelöst. Es bedurfte jedoch noch eines dritten Krieges, des preußisch-französischen, um die kleindeutsche Reichseinheit zu erreichen. Ihre Herstellung erfolgte durch den Anschluss der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund, dessen Verfassung mit minimalen Änderungen zur Reichsverfassung wurde.

Im Unterschied zum 120 Jahre später erfolgten Anschluss der DDR an die BRD kümmerte die „Anschließer“ nicht einmal, dass die erforderliche Zustimmung der bayrischen zweiten Kammer erst drei Tage nach der Kaiserkrönung vom 18. Januar 1871 erfolgte.

Damit war aber der Kampf um die Lösung der „deutschen Frage“ keineswegs beendet, denn der preußisch-österreichische Dualismus sollte die Geschichte noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein beschäftigen. Den Anfang machte wiederum Bismarck, der, nach dem Berliner Kongress von 1878 und der Aufkündigung des Dreikaiserabkommens durch Russland, Österreich einen Zweibund vorschlug, der eine umfangreiche politische und wirtschaftliche Allianz beinhalten sollte.

Zwar drang er mit diesem Vorschlag nicht durch, weil dadurch die Gegenseite zu einem bloßen Juniorpartner Preußen-Deutschlands herabgesunken wäre. Aber immerhin wurde ein gegen Russland gerichtetes Verteidigungsbündnis geschlossen, das vom Historiker Golo Mann zum „Schicksalsbündnis des deutschen Reichs“ hochstilisiert worden ist, weil auf dessen Grundlage Österreich-Ungarn und Deutschland gemeinsam in den Ersten Weltkrieg zogen.

Die Bindungen zwischen dem Deutschen Reich und dem deutschsprachigen Teil Österreichs wurden noch nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns als so eng empfunden, dass die im November 1918 ausgerufene Republik Deutsch-Österreich laut Verfassung ein „Bestandteil der Deutschen Republik“ war (auch die Ende 1918 gegründete Kommunistische Partei nannte sich anfangs KP Deutsch-Österreichs). Der Verfassungsartikel musste zwar gemäß den Bestimmungen des Vertrags von Saint-Germain gestrichen werden, aber das verhinderte nicht ein Weiterbestehen von Bestrebungen, doch noch zu einer Einheit zu gelangen. Dass Österreich inzwischen nicht nur ein souveräner Staat, sondern eine Nation geworden war, das wurde auch von progressiven Kräften viel zu spät begriffen.

Erst Alfred Klahr (1904-1944) zeigte im Frühjahr 1937 in der KPÖ-Zeitschrift „Weg und Ziel“ auf, dass sich Österreich zu einer eigenständigen Nation entwickelt hatte. Aber der Artikel erschien in Prag, denn in Österreich herrschte schon der Austrofaschismus, und ein Jahr später fand der „Anschluss“ statt, dem 1943 die Proklamation des „Großdeutschen Reiches“ folgte, das nur zwei Jahre später – den Alliierten sei Dank – endgültig unterging.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin