Daten & Fakten: Errichtung: 1684 fertiggestellt, im Zuge des 1678 begonnenen Ausbaus der Versailler Schlossanlagen
Ausmaße: Der Saal ist 73 Meter lang, 10,5 Meter tief und 12,3 Meter hoch. Es ist einer der größten Räume in Versailles
Spiegel: Es gibt 17 riesige, bis an die Decke reichende Spiegel. Herr der Spiegel: Jean-Baptiste Colbert, der Begründer der französischen Merkantilismus und Kolonialismus.
18.1.1871 Das Deutsche Reich wird im Spiegelsaal proklamiert
18.3- 28.5.1871 Die Niederschlagung der Pariser Kommune wird von Versailles aus organisiert
28.6.1919 Der Friedensvertrag von Versailles wird im Spiegelsaal unterschrieben.
Wichtiges Motto: „L’État c’est moi – Der Staat bin ich“.
„Le Roi gouverne par lui-meme“ – „Der König regiert selbst“. Das ist der Titel eines von zahlreichen Gemälden im Spiegelsaal von Versailles. Gehuldigt wird damit der Zentralgewalt des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. – und damit auch der Idee des Zentralstaats. Versailles ist ein Tempel der Obrigkeit und der Spiegelsaal ist das Zentrum dieses Tempels. Hier hielten Könige Hof. Hier wurde repräsentiert.
Begrenzt wird der Spiegelsaal durch einen Salon des Kriegs und einen Salon des Friedens. Im Salon des Krieges residierte der König, im Salon des Friedens die Königin.
Gerade weil der Spiegelsaal derart symbolisch aufgeladen ist, war er in seiner Geschichte mehrfach Schauplatz bedeutungsschwangerer Ereignisse.
Der Preußenkönig Wilhelm II ließ sich hier 1871 zum Kaiser des deutschen Reiches proklamieren. Damit machte er sich einerseits den absolutistischen Machtanspruchsgedanken des Spiegelsaals zu Eigen.
Gleichzeitig demütigte er nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg die französische Nation im Zentrum ihrer Macht. 1919 wetzte Frankreich diese Schwarte aus, indem es die Vertreter des Deutschen Reichs am 28. Juni 1919 zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages und zur Anerkennung der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zwang – in just diesem Spiegelsaal. Gerade in der Großmachtpolitik spielen Symbole eine wichtige Rolle.
Ein Tempel der Macht
Christian Bunke
Woran denkt man beim Begriff „Sonnenkönig“? An menschliche Hybris und ein viel zu großes Ego? Vielleicht an die Lächerlichkeit, die jeder zur Schau gestellten Macht auch innewohnt? An Mythologie? Für den Sonnenkönig Ludwig XIV hatte der Palast von Marseilles definitiv eine mythologische Bedeutung. In Dekoration und Gemälden wird auf vielfache Weise der Bezug zum griechischen Sonnengott Apollon hergestellt – Apollon, der Gott des Lichts, der Weisheit, der Heilung aber auch der Rache, des Todes, des Krieges und der Vernichtung. Apollon, ein Herrscher über die Geschicke der Welt. Ludwig XIV. stellte sich in seinem Palast in die Nähe dieses Gottes und spielte so mit dem Konzept des Gottkaisers. Gleichzeitig vermied er so einen direkten Vergleich mit dem christlichen Gott und somit einen Konflikt mit der katholischen Kirche.
Alles im Spiegelsaal ist darauf ausgerichtet, dem absolut herrschenden Monarchen größtmögliche Kontrolle über seine Umgebung zu ermöglichen. Hier traf sich die Hofgesellschaft. Der König erschien mindestens einmal täglich. Er allein entschied, mit wem er sprechen wollte, und mit wem nicht.
Gleichzeitig war Versailles ein extrem ritualisierter Ort, wie es sich für einen echten Tempel gehört. Nichts passierte zufällig. Alles war in eine auf Königin und König ausgerichtete Hierarchie eingefügt. Der König als Kopf eines ihm dienenden Körpers. Versailles als organisatorisches Zentrum des Staates und gleichzeitig als dessen Abbild. Der König verteilte Rechte und Privilegien an die Mitglieder der Hofgesellschaft und konnte diese jederzeit wieder entziehen. Der König gibt und nimmt, wie auch Apollon Krankheit oder Gesundheit schenkt.
Herr der Spiegel
Absolutistische Herrscher sehen sich gerne als allmächtige Verwalter ihrer Reiche. Doch die niedrigen Arbeiten haben andere zu verrichten. Unter dem Sonnenkönig war Jean-Baptiste Colbert so ein Mann. Er ist im Spiegelsaal zentral verewigt. Genauer gesagt hätte es ohne Colbert nie einen Spiegelsaal gegeben. Denn die in den 17 Spiegeln verarbeiteten 350 Spiegelflächen stammen allesamt aus Colberts eigener Glasmanufaktur. Die glas- und Spiegelherstellung stellte für Frankreich einen technologischen Sprung nach vorn dar. Zuvor hatten venezianische Hersteller ein de-facto-Monopol auf die damals sündhaft teure Glasherstellung.
Ohne Colbert hätte das absolutistische Regime unter dem Sonnenkönig nicht funktionieren können. Als Finanzminister war er dafür verantwortlich, das für den Betrieb von Versailles dringend nötige Geld heranzuschaffen. Versailles war ein Monsterbetrieb. Einerseits diente das Schloss als eine Art Disneyland für im Absolutismus politisch entmachtete Adelige. Während zunehmend Beamte die Geschicke des Landes regelten, wurde der Adel nach Versailles verfrachtet und dort mit riesigen Partys ruhiggestellt. So wollte der Sonnenkönig Intrigen gegen ihn vermeiden oder im eigenen Interesse lenken. Feinde muss man besonders nahe halten, das wußte Ludwig XIV. ebenso gut wie es die Mafia weiß.
Zeitweilig hielten sich 10.000 Menschen dauerhaft in Versailles auf, darunter hunderte Bedienstete, Köche, Gärtner und so weiter. Frankreich schrammte deshalb immer knapp am Staatsbankrott vorbei. Colbert war der Mann, der dem begegnen musste. Er gilt als einer der Erfinder des Merkantilismus. Colbert sorgte für einen Ausbau französischer Manufakturen und die Förderung deren Exporte bei größtmöglicher Vermeidung von Importen. Er investierte in großem Stil in Wissenschaften, Handel und Verkehr. Colbert gründete neben anderen Unternehmungen die französische Westindienkompanie und etablierte damit die für den Aufstieg Frankreichs als Kolonialmacht nötige globale Infrastruktur. Somit ist es nur folgerichtig, dass sich Colbert im Versailler Spiegelsaal selbst ein Denkmal gesetzt hat.
Die Ironie der Geschichte besteht zugleich darin, dass das Schloss von Versailles und insbesondere der Spiegelsaal auch die sich entwickelnde Krisenhaftigkeit der absolutistischen Herrschaft repräsentiert. Denn um Hofstaat und Kolonialismus zu finanzieren musste man Besitzlose, Kleinbauern und Handwerker in immer größerem Umfang finanziell auspressen. Hinzu kam die fortschreitende Landenteignung durch Adlige, die sich zu Fabrikanten entwickelten. Hungersnot herrschte, Brot verteuerte sich. Aber in Amerika musste eine Armee auf Seiten der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen das mit Frankreich rivalisierende England finanziert werden. Das Großmachtstreben geriet in Widerspruch zu dem Bedürfnis großer Bevölkerungsteile nach einer würdigen Existenz. In der sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit Frankreichs entwickelten sich deutliche Sympathien für das Unabhängigkeitsstreben der in Amerika lebenden Kolonisten. Der absolutistische S taatsgedanke sah sich nun, teilweise verursacht durch die eigene Politik, in Frankreich selbst herausgefordert.
Im Zentrum von Revolution und Gegenrevolution
Versailles wurde zunehmend zum Zentrum revolutionärer und gegenrevolutionärer Ereignisse. Am 5. Mai 1789 wurden aufgrund des öffentlichen Drucks und wachsender gewaltsamer Unruhen im Land erstmals seit 1614 die Generalstände einberufen. Vertreten waren die drei Stände – Adel, Klerus und einfaches Volk. Wobei sich Letzteres aus einer bunten Mischung aus Bauern, Besitzlosen, Kleinbürgertum und nicht zum Adel gehörenden Großbürgern zusammensetzte und somit zum damaligen Zeitpunkt die überwältigende Mehrheit der französischen Bevölkerung repräsentierte. Der Pöbel verwandelte die Generalstände im Laufe der folgenden Wochen in eine „Nationalversammlung“ und begann Forderungen an den König zu stellen. Der wiegelte ab, versuchte zu verzögern, solange dies ging. Es half alles nichts – die Revolution von 1789 nahm ihren Lauf.
Eines der bedeutendsten Ereignisse dieser Revolution geschah am 5. Oktober, als sich eine Meute wütender, mit Hacken, Äxten und diversen Kanonen bewaffneter Pariser Frauen auf dem Weg nach Versailles machte, um sowohl auf den König als auch die Nationalversammlung Druck auszuüben. Ihnen ging es vor allem um die Senkung der Brotpreise und die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln. Die Menge kampierte über Nacht vor den Toren des Schlosses. Am 6. Oktober nahmen sie den König in Geiselhaft und zwangen ihn und seine Familie zum Umzug nach Paris. Indem sie ihn aus dem absolutistischen Machtzentrum in Versailles entfernten und in das revolutionäre Zentrum Paris beförderten, wollten sie den König dem direkten Druck der Volksmassen aussetzen.
Versaillisten gegen die Kommune
72 Jahre später sollten Lehren aus diesen Ereignissen gezogen werden. Frankreich hatte den Krieg gegen Preußen verloren. Versailles war im Januar 1871 von deutschen Armeen besetzt. Am 18. Januar wurde Wilhelm I im Spiegelsaal zum deutschen Kaiser gekrönt. Höhepunkt der Prozedur war ein Militärgottesdienst im Spiegelsaal von Versailles. Einmal mehr wurde dieser zu einem Tempel der Macht. Deutschland bekundete mit der Zeremonie symbolisch den Anspruch, Frankreich als europäische Großmacht vom Sockel gestoßen und selber zur Führungsmacht aufgestiegen zu sein.
Diese Schmach für das bürgerliche Frankreich war zu diesem Zeitpunkt jedoch eher zweitrangig. Louis Thiers, der von der französischen Nationalversammlung eingesetzte liberal-monarchistische Chef der Exekutive hatte andere Sorgen. Er sollte Friedensverhandlungen mit den Deutschen führen. Doch die großen Städte, allen voran Paris, mit den proletarischen und kleinbürgerlichen Massen wollten dies nicht akzeptieren. Die Pariser Nationalgarde verweigerte die Entwaffnung sowie die Herausgabe ihrer Kanonen. Ansätze eines Rätesystems wurden in der Hauptstadt etabliert. Die berühmte Pariser Kommune wurde errichtet.
Thiers erwies sich dort erfolgreich, wo 1789 der französische König scheiterte. Mit deutscher Unterstützung konnte er Versailles als organisatorisches und symbolisches Zentrum der bürgerlichen Gegenrevolution etablieren. Als die Kommune – ähnlich wie 1789 die Pariser Frauen – Truppen nach Versailles entsandte, konnte Thiers diese mühelos zerschlagen. Das neugegründete Deutsche Reich ließ zehntausende französische Kriegsgefangene frei. Für die herrschende Klasse gilt: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Wer von den Revolutionären nicht auf dem Schlachtfeld das Leben verlor, wurde in Versailles unter höhnischem Gelächter dort versammelter Söhne und Töchter des französischen Bürgertums gefoltert und ermordet. Als Thiers im Mai 1871 Truppen nach Paris entsandte, um die Kommune zusammenschießen zu lassen, bezeichneten sich diese selbst als „Versaillisten“ – als Kämpfer für Versailles. Für die Macht weni ger über die große Mehrheit.
Symbolpolitik ist wichtig. Nicht nur im Krieg der Großmächte, sondern auch im Krieg der Klassen.
Christan Bunke lebt in Wien. Er ist bei Lunapark21 für die Rubrik „Ort & Zeit“ verantwortlich.