Selbstregierung der Arbeitenden

quartalsbericht 02/2021 150 jahre pariser kommune

Vor 150 Jahren wehrte sich die Nationalgarde von Paris gegen ihre Entwaffnung, und die Kommune von Paris begann vom 18. März bis zu ihrer Niederschlagung am 28. Mai 1871, die Stadt in einer neuen Form zu verwalten. Der erste Quartalsbericht in Lunapark21 Heft 53 beschäftigte sich mit der Rolle der Frauen in der Pariser Kommune.

Am letzten Tag mussten sie Deckung nehmen hinter Grabsteinen, am 27./28. Mai 1871 auf dem Friedhof Père Lachaise. Hinter ihnen die Preußen, die Paris belagerten und niemanden entkommen ließen, vor sich die französischen Truppen, die Stadtteil für Stadtteil, Barrikade für Barrikade vordrangen und deren Verteidiger ermordeten, entsandt von der nach Versailles entflohenen Regierung Frankreichs. Die Verteidiger der Kommune von Paris wurden zusammengeschossen von der eigenen Armee, von freigelassenen Kriegsgefangenen, die bei den Schlachten von Metz und Sedan im September 1870 gefangen worden waren. Die exekutierten jetzt den Willen der Regierung in Versailles, nämlich vor Preußen zu kapitulieren und einen Friedensvertrag mit Annexionen und Reparationen zu akzeptieren. 30.000 wurden in Paris umgebracht, darunter Beteiligte der Kommune wie auch Unbeteiligte, weitere 40.000 gefangen genommen, hingerichtet, eingesperrt oder deportiert.

Ein Signal ging von der Niederschlagung der Pariser Kommune von 1871 jedenfalls aus – dass die herrschenden Klassen eine Niederlage im Krieg gegen einen anderen Staat eher hinzunehmen bereit sind als eine Niederlage gegen die Arbeiterklasse, die sie um ihre ökonomische Herrschaft bringen könnte.

Wessen Krieg?

Wer hatte da welchen Krieg geführt, zu welchem Ende und in wessen Interesse?

Auf der einen Seite Louis Bonaparte, Neffe Napoleons, der nach der Niederschlagung des Aufstandes zur Verteidigung der Nationalwerkstätten in Paris in allgemeinen Wahlen im Dezember 1848 zum Präsidenten gewählt worden war, sich im Dezember 1851 diktatorische Vollmachten anmaßte und 1852 zum erblichen Kaiser der Franzosen von Volkes und Gottes Gnaden erheben ließ. Eine bürgerliche Fraktion nach der anderen, Großbürger und Kleinbürger, hatte er beim Kampf um die Macht durch Bestechung, Betrug und brutale Gewalt aus dem Weg geräumt und wurde doch von der großen Mehrheit der französischen Bevölkerung an die Macht gebracht.

Während der Modernisierung Frankreichs verteidigte die große Zahl der französischen Bauern ihr erst jüngst errungenes freies kapitalistisches Eigentum an Grund und Boden, gegen diejenigen, die keine Produktionsmittel besaßen und als freie Lohnarbeiter keineswegs mit der herrschenden bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsform einverstanden sein konnten.

Louis Bonaparte hatte sich von Otto von Bismarck in einen Krieg verlocken lassen, um seine wankende Herrschaft zu erhalten. Seine ruhmreiche Armee brach unerwartet schnell zusammen, weil Korruption, Günstlingswirtschaft und Desorganisation ein erfolgreiches militärisches Vorgehen gegen die preußische Armee unmöglich machten.

Karl Marx hatte den Weg der Modernisierung der französischen Gesellschaft und der Entwicklung eines entsprechenden Staates bereits 1852 in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte beschrieben und diese Schrift nach der Veröffentlichung des erstens Bandes des Kapital 1867 nochmals 1869 herausgebracht. In Artikeln und Adres-sen über den Deutsch-Französischen Krieg, dann über den Bürgerkrieg in Frankreich hatten Marx und Engels die Analyse wieder aufgenommen (MEW 17). Neben den Bewegungsgesetzen des Kapitals bestimmten nämlich der Ausgang politischer Kämpfe und Kriege das Schicksal einer Gesellschaft. Wie der bürgerliche Staat seine neue wichtige Rolle bei der Gestaltung der allgemeinen Bedingungen der Produktion spielte, war in den Ländern unterschiedlich, keineswegs von vornherein nach einem Modell geformt und stark von der historischen Entwicklung jedes Staates bestimmt.

Wessen Staat?

Auf der anderen Seite stand der preußische Bonaparte, Ministerpräsident Bismarck, dem es gelang, in einem dritten Krieg – nach dem Krieg von Preußen und Österreich gegen Dänemark 1864 und dem innerdeutschen Krieg gegen Österreich 1866 – unter Missachtung des Parlaments auf monarchisch-obrigkeitsstaatlichem Wege einen größeren deutschen Staat durchzusetzen. Langfristig hat sich die Hoffnung, die Engels in einem Brief an Marx am 15. August 1870 ausdrückte, als trügerisch erwiesen: „Siegt Deutschland, so ist der französische Bonapartismus jedenfalls kaputt, der ewige Krakeel wegen Herstellung der deutschen Einheit endlich beseitigt, die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anderem nationalen Maßstab als bisher organisieren, und die französischen … werden sicher ein freieres Feld haben als unter dem Bonapartismus.“ (MEW 33, S. 39)

Noch im Krieg, als die Niederlage des französischen Staates schon absehbar war, wurde am 18. Januar 1871 der neue deutsche moderne kapitalistische Staat proklamiert. Im Spiegelsaal von Versailles, dem Sitz der absolutistischen Könige, auf eine halbe Stunde, so dass manche Teilnehmer gar nicht rechtzeitig eintrafen, rief Bismarck den König von Preußen, Wilhelm I., zum Kaiser des Deutschen Reiches aus.

Der etwas klein geratene Staat mit einem erblichen Monarchen an der Spitze einer undurchsichtigen Regierung hatte mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das in den napoleonischen Kriegen untergegangen war und dessen Erbe das Deutsche Reich beanspruchte, nur wenig gemein. Es war ein kapitalistischer Staat mit rassistisch-nationalistischer Grundierung und obrigkeitsstaatlicher Ordnung, in dem der Adel als ehemals herrschende Klasse weiter eine wichtige Rolle spielte. Von den abhängigen Bauern hatten sich die Adligen befreien lassen gegen Geld, das sie als bürgerliche Grundbesitzer und Agrarproduzenten vermehrten und in die aufkommende Industrie investierten. Ihrem persönlichen Einfluss war der Staatsapparat einer erblichen Monarchie zugänglich. Als Offiziere des stehenden Heeres, eines Berufsheeres, hatten sie im Krieg einen „National“-Staat von oben durchgesetzt und würden ihn fortan erhalten gegen die Arbeiterklasse und ausdehnen in imperialistisch en Kriegen.

Wessen Interessen?

Am Ende waren in der Kommune von Paris nur die Besitzlosen standhaft geblieben – alle anderen hatten sich mit der Niederlage gegen Preußen abgefunden und zur geflohenen Regierung von Premier Adolphe Thiers in Versailles davongemacht. Die Armen und Besitzlose hatten also keinen Staatsapparat übernehmen und nutzen können, Verwaltung und Staatsbeamte hatten sich ja aus dem Staub gemacht. Die Verteidigung von Paris mussten sie selbst organisieren gegen Preußen und die eigene Regierung in Versailles. Die Versorgung der Bevölkerung, die Regelung von Produktion und Verteilung mussten sie neu schaffen in einer experimentellen Weise, die Marx, Engels und die Internationale Arbeiter-Assoziation als ein Vorbild für den künftigen Staat priesen: Denn die in der Verwaltung Beschäftigen sollten nur so viel verdienen wie ein einfacher Arbeiter. Die Delegierten konnten jederzeit abberufen werden. Arbeitsbedingungen waren garantiert und Fabriken in Assoziationen überfü hrt worden. Tatsächlich funktionierte diese Staatsverwaltung, anders als der frühere Staatsapparat, in und mit der Bevölkerung – so gut es eben ging in der Not.

In dem dreimonatigen Kampf für die proletarische Revolution hatten seit dem 18. März 1871 Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten jeder Richtung gefochten. Und sie sollten sich nach der Niederlage, deren Opfer sie wurden, keineswegs darüber einig werden, was an dem Experiment der Selbst-Verwaltung denn bedenkenswert und ob es zukunftsweisend sei. Die Anarchisten würden bestreiten, dass es außer der Verwaltung von Produktion und Verteilung in der Kommune überhaupt etwas geben müsse wie einen Staat, der die Beziehungen zwischen den verschiedenen Regionen und Schichten der Gesellschaft in organisierter Entscheidung verwalten müsse. Eingeschreint seien die Opfer der Kommune in dem großen Herzen der Arbeiterklasse, so hatte Marx in der Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation geschrieben. Jene Opfer, die der bürgerliche Staat bei der Verteidigung seiner Klasseninteressen hatte ermorden, ins Gefängnis werfen und deportieren lassen. Sie seien dann nicht vergebens, wenn sie daran erinnerten, dass das Proletariat einer eigenen Organisation, politischer Klarheit und einer Form der Organisation der Gesellschaft bedürfe, die die bisherigen Herrschaftsformen des Staates überwinde und möglichst viele in die Verwaltung der Angelegenheiten aller einbeziehe.

Jürgen Bönig hat in der Pandemie viel darüber gelernt, wie unterschiedlich „der bürgerliche Staat“ seine Aufgaben erfüllt oder nicht erfüllt.