Ein Nadelöhr des Welthandels

Der Suez-Kanal

„Ich möchte, dass er ermordet wird.“ Dieser Satz wird dem britischen Premierminister Anthony Eden nachgesagt. Gemeint war der ägyptische Staatschef Gamal Abdel Nasser, nachdem dieser am 30. Juli 1956 den Suez-Kanal verstaatlicht und somit der Kontrolle der britischen und französischen Kolonialmächte entzogen hatte.

Als Reaktion bildeten Großbritannien und Frankreich gemeinsam mit Israel eine Militärkoalition, um den Kanal zurückzuerobern. Das gelang ihnen auch. Allerdings hatten die alten Mächte nicht mit den neuen Spielern, den Supermächten USA und UdSSR gerechnet. Letztere hatten aus unterschiedlichen Gründen kein Interesse an einer militärischen Eskalation in Ägypten und einen durch ausländische Staaten herbeigeführten Sturz Nassers. Sie intervenierten bei der Uno und zwangen Frankreich, Großbritannien und Israel zum Rückzug. Seitdem wird der Suezkanal von der „Suez Canal Authority“ betrieben, die sich im Besitz Ägyptens befindet.

Die Geschichte des Suezkanal ist voller Anekdoten. Der Kanal hat sich seit seiner Eröffnung erst zögerlich, dann immer stärker zu einem wichtigen Nadelöhr globaler Lieferketten entwickelt. Ist der Kanal verstopft, stockt der Welthandel. Das Schicksal des sich am 23. März dieses Jahres im Kanal quergelegt habenden Containerschiffs Ever Given ist dafür das jüngste Beispiel. Die Entstehung des Welthandels ist untrennbar mit dem imperialen Weltsystem verbunden ist, zu dessen Geschichte auch der Bau des Suezkanals gehört.

Imperiales Megaprojekt

Der Kanal ist eines der gigantischen Infrastrukturprojekte zur Beschleunigung des Welthandels, die ohne Rücksicht auf Mensch und Natur durchgeführt wurden. Der Suezkanal war ein solches Projekt. Und er ist es immer noch. Er wird ständig vertieft und erweitert. Der letzte große Ausbau des Kanals fand in den Jahren 2014 und 2015 statt. Seitdem ist die gleichzeitige Passage auch für große Containerschiffe in beiden Richtungen möglich. Der buchstäbliche Fluss des Warenverkehrs ist nun noch schneller, noch effizienter. Denn Waren müssen fließen, damit der Kapitalismus leben kann.

Vater des Kanals ist der 1805 in Versailles geborene Ferdinand de Lesseps, ein französischer Diplomat, der sich später zum transnational aktiven Geschäftsmann wandelte. Lesseps konnte sich auf eine Idee berufen, die schon seit vielen Jahrhunderten, eigentlich seit der Zeit der ägyptischen Pharaonen, existierte. Seit die Menschheit Handel treibt, gibt es Pläne für eine Wasserstraße zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer. Lesseps Inspirationsquelle waren Vermessungs- und Untersuchungsergebnisse, die Napoléon Bonaparte im Rahmen seiner Ägypten-Expedition in Auftrag gegeben hatte. Auch Napoléon hatte vom Bau eines Kanals geträumt, den Gedanken aber schließlich verworfen.

Persönliche Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren sind der Bindestoff großer Bauprojekte. So war Lesseps ein enger Freund des damaligen ägyptischen Vizekönigs Muhammad Said, nach dem später die für den Bau des Suezkanals aus dem Boden gestampfte Hafenstadt Port Said benannt werden sollte. Said erteilte Lesseps eine Konzession für den Kanalbau und finanzierte das Unternehmen mit riesigen Beträgen, was Ägypten, damals noch Teil des Osmanischen Reichs, an den Rand des finanziellen Ruins bringen sollte. Das Vereinigte Königreich präsentierte sich hier, im Jahr 1875, als Retter in der Not und kaufte die ägyptischen Anteile an der von Lesseps für den Bau gegründeten Kanalgesellschaft. Damals begann Großbritannien Einfluss in Ägypten zu gewinnen, was mit der Suezkrise 1956 sein unrühmliches Ende fand.

Imperiale Widersprüche

Dabei hatte Großbritannien lange Zeit rein gar nichts für den Kanal übrig, und sah durch diesen im Gegenteil nationale – sprich: imperiale – Interessen gefährdet. Dafür gab es vielfältige Gründe. Zum einen kontrollierte Großbritannien damals die einzige Überseeroute zwischen Europa und Indien. Handelsschiffe mussten an Gibraltar und dem Kap der guten Hoffnung vorbeisegeln. Beide Punkte wurden vom Vereinigten Königreich militärisch dominiert. Eine neue Wasserstraße als Alternativroute bedrohte somit die britische Vorherrschaft im Welthandel.

Gleichzeitig war das britische Empire als damals führende Handelsnation verkürzten Handelsrouten als solchen nicht abgeneigt. Nur dachte man dort, anstatt an eine Wasserstraße durch die Wüste, über den Bau von britisch kontrollierten Eisenbahnrouten nach. Der Kanalbau war der britischen Seite nicht zuletzt deshalb ein Dorn im Auge, weil sich in diesem von Beginn an französische, und somit rivalisierende, Interessen manifestierten. Auch kontinentaleuropäische Mächte wie das Deutsche Reich oder Österreich-Ungarn waren an dem Kanal interessiert, da er einen besseren Zugang zu Märkten und schnellere Handelsrouten versprach. Der Kanal ermöglichte Österreich-Ungarns größter Handelsgesellschaft, der österreichischen Lloyd, ein rasantes Wachstum. Im Ersten Weltkrieg versuchten die Mittelmächte erfolglos, den Suezkanal britischer Kontrolle mit militärischen Mitteln zu entreißen.

All dies muss man im Hinterkopf behalten, wenn man sich Lesseps ursprüngliche Vision in Bezug auf den Kanal vorstellt. Der war nämlich ein echter Vorreiter der Globalisierungsideologie. Lesseps Compagnie universelle du canal maritime de Suez war als globales Unternehmen auf der Basis von international gestreutem Aktienbesitz geplant. In allen großen europäischen Ländern ließ er die Werbetrommel rühren. Doch nur in Frankreich griffen die Menschen nach den Aktien. Überall anders blieben sie liegen, auch aufgrund britischer Gegenpropaganda, die von Beginn an danach trachtete, das Projekt zu diskreditieren. Es blieb deshalb weitgehend an Ägypten hängen, das nötige Kapital aufzubringen. Von der Idee eines von Imperien und Nationalstaaten unabhängigen Weltkonzerns blieb hingegen nur wenig übrig.

Megaprojekt der Zwangsarbeit

Gigantisch waren dann die Baumaßnahmen. Die dafür nötige Infrastruktur musste überhaupt erst geschaffen werden. Ganze, noch heute existierende Städte wurden dafür von Grund auf errichtet. Baracken, Lagerplätze für Baumaterialien, Anlegeplätze und ein Leuchtturm wurden gebaut. Werkzeuge, Maschinen, Kohle, Eisen und Holz mussten aus Europa geholt werden. Für deren Transport wurde entlang des geplanten Kanals eine Eisenbahnstrecke verlegt, auf der in der gesamten Bauzeit Frachtzüge mit Dampflokomotiven verkehrten. Diese wiederum benötigten ihre eigene Infrastruktur mit Kohledepots und Wasserversorgung. Wasser und viele Materialien, die Tag für Tag Hunderte Kilometer durch die Wüste von mehr als tausend Kamelen herangekarrt werden mussten.

Der Bau des Suezkanals war ein Megaprojekt, welches nur aufgrund der im aufkommenden Industriekapitalismus entstandenen Technologien in dieser Form möglich geworden war. Gleichzeitig setzte man ausgerechnet hier lange Zeit auf primitive Arbeitstechniken. So griff man zu Beginn für die Hauptarbeit, den Aushub des Kanals, fast ausschließlich auf menschliche Arbeitskraft zurück. 1,5 Millionen Arbeitskräfte sollen während der zehnjährigen Bauzeit hier geschuftet haben. Menschenketten von bis zu 34.000 Arbeitern wurden gebildet, um Aushub in Binsenkörbe zu füllen und von Hand zu Hand bis zur Böschungskrone zu bringen.

Die wenigsten dieser Menschen waren freiwillig da. Vielmehr handelte es sich bei ihnen um so genannte Corvée-Arbeiter. Das Wort Corvée bezeichnet ein aus feudaler Zeit stammendes, im 19. Jahrhundert in Ägypten gängiges Zwangssystem, durch welches Kleinbauern vom Staat zu Arbeitseinsätzen verpflichtet werden konnten. Zwar wurden die am Kanal schuftenden Corvée-Arbeitskräfte für ihre Tätigkeit entlohnt, am Zwangscharakter ihrer Tätigkeit änderte das aber nichts. Ausgerechnet Großbritannien, das über Jahrhunderte durch globalen Sklavenhandel reich geworden war, führte eine internationale Propagandakampagne durch gegen die beim Bau des Suez-Kanals verübte Corvée-Arbeit. Mit Erfolg. Die Corvée-Arbeit wurde schließlich aufgegeben. Plötzlich fehlten Zehntausende Arbeitskräfte. Die missliche Lage zwang die Bauherren zur Entwicklung und zum Einsatz neuartiger Baggermaschinen, welche nun einen Großteil der menschlichen Arbeitskraft ersetzten.

Kontrollverluste

Am 17. November 1869 wurde der Suez-Kanal mit einer prunkvollen Party eröffnet. Der nun startende Normalbetrieb erwies sich aber zunächst als finanzieller Flop. Noch waren großenteils Segelschiffe auf den Weltmeeren unterwegs. Diese bevorzugten die etablierten Routen rund um das Kap der guten Hoffnung. Erst die aufkommende Dampfschifffahrt machte den Suez-Kanal aufgrund der nun möglichen erheblichen Zeitersparnis attraktiv.

Interessant war der Kanal seitdem auch für das britische Empire. Immerhin verkürzte sich durch ihn der Seeweg nach Indien um 7.000 Kilometer. Nachdem Großbritannien Ägypten im Jahr 1875 durch den Kauf der ägyptischen Anteile an der Suez-Kanalgesellschaft vor dem Staatsbankrott gerettet hatte, kam es zu einer schwierigen, aber dauerhaften Kooperation mit dem Rivalen Frankreich. Beide Nationen setzten 1876 eine Kontrollkommission zur Regulierung der ägyptischen Finanzen ein, wodurch sie sich die wirtschaftliche Kontrolle über das Land und den Kanal sicherten. Das ist ein frühes Beispiel für eine imperiale Praxis, wie sie während der Eurokrise nach 2008 auch von EU, Weltbank und IWF Griechenland aufgezwungen wurde.

Allerdings gibt es kaum jemals in der Geschichte eine Aktion ohne Reaktion. Die de-facto Besetzung Ägyptens durch Großbritannien und Frankreich erwies sich als Geburtshelferin für eine ägyptische Nationalbewegung, deren Aufstand zwar militärisch niedergeschlagen wurde, die aber dennoch eine Wegbereiterin für den später von Nasser praktizierten Pan-Arabismus und dessen Verstaatlichung des Suez-Kanals war.

Christan Bunke lebt in Wien. Er ist bei Lunapark21 für die Rubrik „Ort & Zeit“ verantwortlich.


Zitat Marx:

Anstelle 12 Monaten nun 12 Wochen…

„Das Hauptmittel zur Verkürzung der Zirkulationszeit [der Waren; d. Red.] sind verbesserte Kommunikationen. Und hierin haben die letzten fünfzig Jahre eine Revolution gebracht, die sich nur mit der industriellen Revolution der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vergleichen lässt. Auf dem Lande ist die makadamisierte* Straße durch die Eisenbahn, auf der See das langsame und unregelmäßige Segelschiff durch die rasche und regelmäßige Dampferlinie in den Hintergrund gedrängt worden, und der ganze Erdball wird umspannt von Telegraphendrähten. Der Suezkanal hat Ostasien und Australien dem Dampferverkehr erst eigentlich erschlossen. Die Zirkulationszeit einer Warensendung nach Ostasien, 1847 noch mindestens zwölf Monate … ist jetzt ungefähr auf ungefähr ebensoviel Wochen reduzierbar geworden… Die Umschlagszeit des gesamten Welthandels ist in demselben Maß verkürzt, und die Aktionsfähigkeit des darin beteiligten Kapitals um meh r als das Doppelte oder Dreifache gesteigert worden. Dass dies nicht ohne Wirkung auf die Profitrate geblieben, versteht sich von selbst.“Karl Marx, Das Kapital, Band III MEW 25, S. 81.

* Spezifische, nach ihrem schottischen Erfinder John Loudon McAdam benannte Bauweise von Straßen mit drei unterschiedlichen Schichten