Pflege- und Bewahrarbeit

Einige politökonomische Aspekte

Auch in einer kapitalistischen Wirtschaft gibt es Bereiche, in denen bezahlte Arbeit verrichtet wird, die keinen Wert und daher auch keinen Mehrwert produziert. In der professionalisierten Altenpflege beispielsweise leisten die dort beschäftigten Arbeitskräfte eine sehr wichtige – und zumeist völlig unzureichend bezahlte – Arbeit, aber sie fügen den von ihnen Gepflegten keinen Wert hinzu – wie es ja überhaupt unzulässig sein sollte, einem Menschen Wert im politökonomischen Sinne zu- oder abzusprechen (unbeschadet der historischen Tatsache, dass Menschen in die Sklaverei verkauft wurden und ihr Verkäufer eine Summe Geldes bekam, die den Preis der in die Sklaverei Verkauften repräsentierte). Dasselbe gilt für die professionalisierte Krankenpflege, in der allenfalls, sofern es sich bei den Gepflegten um Berufstätige handelt, der Wert von deren Arbeitskraft wiederhergestellt wird, aber die sie Pflegenden haben der Arbeitskraft der von ihnen Gepflegten keinen Wert hinzugesetzt. Pflege produziert keinen Arbeitswert, die Gepflegten werden durch die Pflege nicht wertvoller.

Vorstehendes bedeutet nicht, dass Firmen, die die Pflege von Alten und Kranken für sich als Geschäftsfeld entdeckt haben, nicht höchst profitabel sein können. Aber der von ihnen erzielte Profit wird nicht von den dort arbeitenden Pflegekräften produziert, sondern resultiert aus der bloßen Umverteilung von andernorts produziertem Mehrprodukt, aus Steuern und Versicherungsbeiträgen sowie aus den sogenannten Zuzahlungen jener, die auf Pflege angewiesen sind. Auch die in den Firmen beschäftigten Arbeitskräfte werden daraus bezahlt. Weil die finanzielle Grundlage des gesamten Pflegesystems auf Umverteilung beruht, sind die Firmeneigentümer daran interessiert, dass „ihr“ Personal bei möglichst geringer Bezahlung möglichst schnell und effektiv arbeitet, so dass der erzielte Profit möglichst hoch ist. Die daraus resultierende Arbeitshetze und Minderbezahlung ist kapitalistischer Alltag – auch in Pandemiezeiten wird nur applaudiert, aber nicht w irklich mehr gezahlt. Letzteres setzte den von Gewerkschaftsseite immer wieder geforderten Abschluss eines allgemein verbindlichen Tarifvertrags voraus; der aber wird ausgerechnet von den kirchlichen Pflegeeinrichtungen strikt abgelehnt.

Gegen das in diesem Zusammenhang immer wieder mal vorgebrachte Argument, dass durch die Pflege von Alten und Kranken der Gesellschaft „untragbar hohe“ Kosten entstünden, sei auf die enorm gestiegene Arbeitsleistung in den produzierenden Bereichen der Wirtschaft verwiesen, auf die unglaubliche Verschwendung von Produkten und nicht zuletzt die geradezu ins Unermessliche gestiegenen Vermögen der wirklich reichen Mitglieder dieser Gesellschaft.

Es gibt aber weitere Bereiche, in denen bezahlte Arbeit verrichtet wird, die keinen Wert und daher auch keinen Mehrwert produziert. Dabei handelt es sich aber nicht um die Pflege von Menschen, sondern von Sachen. Deshalb sollte für die Benennung solcher Arbeiten vielleicht besser der Terminus Bewahrarbeit verwendet werden. Sie sind klar zu unterscheiden von den Wartungs- und Reparaturarbeiten, die an funktionsfähigen Produktionsmitteln durchgeführt werden. Diese Aufwendungen sind, aus arbeitswerttheoretischer wie auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht, den direkten Produktionskosten zuzurechnen.

Ein unmittelbar einleuchtendes Beispiel ist die Arbeit, die zur Bewahrung von Kulturgütern (bzw. zur Pflege eines nationalen bzw. des Welt-Kulturerbes) aufgewendet werden muss. Sie fügt den zu bewahrenden Dingen keinerlei Wert zu, obgleich allein deren Aufbewahrung immense Kosten verursacht, die zumeist aus Steuermitteln, Stiftungsvermögen, privaten Spenden und Ähnlichem, also zu großen Teilen aus andernorts produziertem Mehrwert beglichen werden müssen. Aus Kostengründen können sich daher Bibliotheken gezwungen sehen, weniger nachgefragte Buchbestände auszusondern und zu verkaufen, oder auch Museen, die im Interesse der Erhaltung anderer Bestände bestimmte Einzelstücke oder ganze Sammlungen verkaufen müssen. Noch gravierender sind die Folgen, wenn in Archiven entschieden werden muss, unwichtig scheinende Archivalien auszusondern oder zu kassieren, da sie damit zumeist unwiederbringlich verloren sind. Immer sind es Kostengründe, die zu solchen E ntscheidungen führen, und zwar zunächst ganz unabhängig davon, ob Kultureinrichtungen sogenannten marktwirtschaftlichen Zwängen unterliegen oder nicht. In Analogie zu den faux frais de production, den zwar notwendigen, aber nach Marx stets einen Abzug vom Mehrwert darstellenden Nebenkosten der Produktion, können diese Kosten als faux frais de civilisation bezeichnet werden. Diese fallen jedoch nicht nur unter den Bedingungen kapitalistischer Mehrwertproduktion an, sondern faktisch in allen Gesellschaften, die – im Sinne der von Engels vorgenommenen Klassifikation – die Stufe der Barbarei hinter sich gelassen haben und sich der Bewahrung ihres Kulturerbes verpflichtet fühlen.

Heutzutage hat die Menschheit aber auch mit weitaus weniger angenehmen Hinterlassenschaften früherer Generationen zu tun, deren Bewahrung sie viel Arbeit kostet und in Zukunft noch viel mehr Arbeit kosten wird. Ein in Deutschland besonders bekanntes Beispiel sind die sogenannten Ewigkeitskosten stillgelegter Steinkohlengruben im Ruhrgebiet, im Saarrevier usw. Auch wem in diesem Zusammenhang der Terminus Ewigkeit suspekt erscheinen mag, wird zugeben müssen, dass zurzeit niemand in der Lage ist, irgendeine Aussage darüber zu treffen, wie lange dafür gesorgt werden muss, dass Steinkohlestollen nicht einstürzen, die Grubenwasserhaltung funktioniert, die Grundwasserreinigung garantiert ist. Weil es sich um unabsehbar lange Zeiträume handelt, kann in diesem Fall das Verursacherprinzip nur in begrenztem Umfang und in langfristig immer geringerem Maße greifen: Auch wenn die Kohlebarone in der Vergangenheit riesige Profite eingestrichen haben, die der Gesellschaft beziehu ngsweise dem bürgerlichen Staat alles Recht gaben, sie entsprechend zur Kasse zu bitten – für die Finanzierung von Ewigkeitsaufgaben reicht kein in vergangenen Zeiten erzielter Profit, wie hoch er auch gewesen sein mag. 1

Zukünftige Generationen werden an diesem Erbe, wenn vielleicht auch nicht auf ewig, so doch auf sehr lange Zeit zu tragen haben. Die von ihnen dabei verrichtete Arbeit, so nützlich und notwendig sie auch ist, schafft aber keinen Wert im ökonomischen Sinne, denn die stillgelegten Bergwerke werden durch diese Arbeit nicht wertvoller; gleichgültig, wie viel Arbeit ursprünglich in sie investiert worden war, heute sind sie wertlos und bleiben es auch.

Zu den Hinterlassenschaften indus-
trieller und – wenn auch in geringerem Maße – landwirtschaftlicher Produktion, mit deren sicherer Verwahrung sich noch einige Generationen zu befassen haben werden, gehören ebenso dort anfallende hochtoxische Abfallprodukte. Die hierzulande nicht abreißende Debatte um die Auswahl sogenannter Endlagerstätten für die nicht mehr nutzbaren radioaktiven Brennelemente ist wohl das bekannteste Beispiel, wobei der Terminus Endlager jedoch in doppelter Weise irreführend ist: Erstens kann wegen unvorhersehbarer geologischer Ereignisse wie Verschiebungen in der Plattentektonik, Vulkanausbrüchen, Erdbeben oder anderem nie von einer endgültig sicheren Lagerung radioaktiver Abfallstoffe gesprochen werden, sondern allenfalls von einer langfristigen Zwischenlagerung; zweitens sollte im Auge behalten werden, dass die Menschheit vor hundert Jahren nicht einmal wusste, dass es solche Abfälle geben würde – warum sollte es ihr also in den kommenden hundert Jahre n nicht gelingen, geeignete Methoden zu finden, sie wieder zu verwenden und auf diese Weise in den Kreislauf der Reproduktion einzuspeisen? Dasselbe kann vielleicht auch für andere toxische Abfallprodukte gelten.

Das ändert nichts daran, dass die sichere Aufbewahrung dieser Stoffe gegenwärtig einen enormen Arbeitsaufwand erfordert. Je mehr an dauerhaftem „Dreck“ produziert wird, je mehr Zeit daher für die Arbeit des sicheren Aufbewahrens verwendet werden muss, desto weniger Zeit kann die Gesellschaft für die Herstellung von Produktionsmitteln und Konsumgütern verwenden.

Wenn die mit Pflege- und Bewahrarbeiten Beschäftigten zwar Werte erhalten, aber keinen Wert produzieren, dann können sie erst recht keinen Mehrwert produzieren. Sind aber die sie beschäftigenden Firmen in Privatbesitz, so müssen nicht nur die Kosten für Arbeitskräfte und Produktionsmittel (im weitesten Sinne des Wortes) auf dem Wege der Umverteilung finanziert werden, sondern auch die Profite. Schon von daher müssen – anständige Lohnzahlung und korrekte Rechnungsführung vorausgesetzt – die Kosten privatisierter Krankenhäuser und Seniorenheime entschieden höher sein, und eben deshalb gehören sie in die öffentliche Hand.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

Anmerkung:

1 Nach Fertigstellung dieses Artikels las ich, dass die Firma Northern Data (Frankfurt/M.) eines ihrer Rechenzentren, das dem Bitcoin-Mining dient, wegen günstigerer klimatischer und hydroenergetischer Bedingungen in einem stillgelegten Bergwerk in Lefdal (Norwegen) untergebracht hat. Damit entfallen zwar nicht die „Ewigkeitskosten“, aber sie gehören nun zu den üblichen Produktionskosten eines profitablen Unternehmens.