Einbildung

Ganz gelassen soll er gewesen sein, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, als er im Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt den Satz raushaute: „Die größte Ungleichheit ist die der Bildung“.

Das Interview, das die damalige Chefredakteurin Annette Bruhns führte, erschien in der Mai-Ausgabe und in 19 weiteren Straßenmagazinen.

Der Mann hat insoweit Recht, als dass es in den 1960er und 1970er Jahren für Arbeiterkinder einfacher war, mit Abitur und Studium in Berufe zu kommen, die ein höheres Einkommen als das ihrer Eltern gewährten.

Aber ist der Unterschied in der Bildung, die sozialen Aufstieg ermöglichen soll, wirklich die „größte Ungleichheit“ in unserer Gesellschaft?

Lindner tut so, als bestünde nur ein Unterschied in der Möglichkeit, in Sphären der Macht aufzusteigen, und nicht in der sehr unterschiedlichen Chance, dort Herrschaft auszuüben. Und damit ist nicht die Macht gemeint, die Christian Lindner möglicherweise nach der Bundestagswahl als Mitglied einer Regierung wird ausüben dürfen. Auch nicht die Macht, viel für den eigenen Konsum auszugeben. Sondern die Macht, die Geldbesitzer über diejenigen haben, die sie für sich arbeiten lassen. Und über diese Macht verfügen sie, weil sie eben Produktionsmittel besitzen und nicht nur einfach Geld in der Tasche haben.

„Einbildung ist auch eine Bildung“, hat meine Großmutter gesagt, und sie wusste das, weil sie auf Gut Emkendorf in Schleswig-Holstein als Gärtnergehilfin gearbeitet hat und anschließend als Dienstmädchen in Hamburg.

Auch der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung kann Konsumeinkommen und Produktionsmittelbesitz nicht unterscheiden, kann die Möglichkeit, gut zu essen und wirklichen Einfluss auszuüben, nicht auseinanderhalten.

Einkommensreichtum, der vielleicht durch Bildungsaufstieg zu erlangen ist, fängt im diesjährigen Bericht bei unter 4000 Euro netto im Monat an, Reichtum an Vermögen ab einer halben Million Euro. In der Statistik landen so Hausbesitzer, die einen SUV, Hund, Haus, Kinder und Ehepartner ihr eigen nennen, in einer Gruppe mit denjenigen, die dazu auch noch einen Konzern besitzen oder die Wohnungen eines halben Stadtteils.

Wenn Lindner Obdachlosen erklärt, die größte Ungleichheit ließe sich überwinden, indem man „für jede Frau und jeden Mann die Aufstiegschance erhöht“, so nährt er nur die Illusion, mit guter Bildung stünden jeder und jedem alle Wege offen und eine Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten existiere gar nicht.

Und er begreift Bildung offenbar nur als wertvoll für die Möglichkeit, teil an der Macht zu haben, andere für sich arbeiten zu lassen. Als gäbe es keinen Interessengegensatz zwischen den Wohnungslosen und den Eigentümern von Wohnungen, deren Macht ganz ungebildet daherkommen kann und dennoch wirkt. Wenn der Wert Hunderttausender Wohnungen steigt, deren Mieten viele nicht bezahlen können, wie gebildet sie auch seien, dann wirkt Macht.

Und Lindner scheint Bildung nur als Weg zu sehen, an der Macht teilhaben zu können und nicht auch als eine Voraussetzung für die Ausbildung einer Moral, die sich mit den Herren nicht gemein machen will.

Meine Oma hat ihren Mann, der sehr viel größer war als sie, immer gerüffelt, wenn er zu katzbuckelig zu den hohen Herren war, allzu willfährig deren Wünsche erfüllen wollte und denen durchgehen ließ, dass sie ihre Macht ihrer Bildung zu verdanken glaubten und nicht ihrer Skrupellosigkeit, Arschkriecherei und geerbtem Geld. Ihr sicheres Gefühl für ihre Stellung und dafür, mit wem man solidarisch sein sollte, gefällt mir bis heute.

Die größte Ungleichheit ist in der Tat die der Bildung, und zwar derjenigen Bildung, die die Kenntnis der Gesellschafts- und Machtverhältnisse vermittelt.

Jürgen Bönig schreibt Geisterbahn, damit hinter jedem Popanz die Mechanik seines Auftritts sichtbar wird.