Volk oder Gesellschaft?

„Das ukrainische Volk will den Frieden. Die ukrainischen Machthaber wollen den Frieden.“ Das sagte Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar, kurz vor dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine den Bürgerinnen und Bürgern Russlands. Auf russisch – seiner Muttersprache, die der ukrainische Präsident noch vor dem Ukrainischen lernte. Es ginge aber nicht um Frieden um jeden Preis, sondern „um das Recht jeder Gesellschaft auf Sicherheit und das Recht jedes Menschen auf ein Leben ohne Bedrohung.“ Selenskyj, ein aus der Ukraine stammender Jude, macht einen Unterschied zwischen Volk und Gesellschaft..

Volk war vor der Französischen Revolution das gemeine Volk, das in der ständischen Gesellschaft politisch nicht mitzuwirken hatte.

Als die napoleonischen Massenheere die Ideen der Französischen Revolution in die feudalen Gesellschaften Europas trugen, wertschätzten deren Machthaber plötzlich auch das Volk und adelten es zur Nation. Denn die Volksmassen wurden gebraucht – als Soldaten gegen die französischen Revolutionsarmeen. Um den sozialen Gehalt der Revolution von der feudal beherrschten Bevölkerung fernzuhalten, wurde die Idee geboren, dass es wichtig sei, woher jemand stammte, welche Sprache der Untertan sprach und welcher Kultur er zugehörte. Die Menschen wurden mit einer absondernden Eigenschaft begabt, der geografischen Herkunft.

Die Nation war erfunden, auch in deutschen Landen, und die Streiter gegen Napoleon waren noch unsicher, ob die Einheit eines neuen deutschen Staates wichtiger war oder die innere Struktur, die an eine Verfassung gebundene Monarchie sein mochte oder sogar die Republik. Aber während der sogenannten Befreiungskriege wurden Vorstellungen zur gesellschaftlichen Struktur und über Mitwirkungsrechte der Person verdrängt von Fragen nach Abstammung, Herkunft und Sprache.

Putin ist mit dem Krieg gegen die Ukraine auf den Standpunkt zurückgekehrt, den das Zarenreich gegen Napoleon eingenommen hat – dass es mehr um die Herkunft der Gesellschaftsmitglieder gehe als um die Art ihres Zusammenlebens, und dass die Selbstbestimmung der Nation darin bestehe, in der eigenen Sprache das Maul halten zu dürfen.

Selenskyi hat dem ukrainischen Volk die Selbstbestimmung der Gesellschaft gegenübergestellt, also die inneren Verhältnisse. Das heißt, er hat eben nicht die Herkunft von Gesellschaftsmitgliedern zum Maßstab dafür genommen, in welchem Staat und unter welcher Herrschaft sie leben sollen. Damit knüpft er an die ursprüngliche Idee bürgerlicher Freiheiten an, nach der Bürger Frankreichs alle diejenigen seien, die das Ziel der Französischen Revolution, also die Vorstellung über ihren sozialen Inhalt, teilten – egal welcher Herkunft, Sprache, Abstammung und, in einem Moment der Klarheit, auch der Hautfarbe.

Der ukrainische Präsident hat die Freundschaft zu vielen Bewohner:innen der von Russland besetzten Gebiete hervorgehoben, weil ihm klar ist, dass der Krieg im Namen einer Herkunft, einer Nation selbst Nationalismus und Rassismus hervorbringt.

Jedes Opfer in diesem Krieg, jeder Tote wird den Gedanken an Rache befördern, und weil Putin die Armee im Namen und für die russischsprechenden Bewohnerinnen der Ukraine bomben und schießen lässt, wird der Nationalismus der ukrainisch-sprechenden Menschen befördert. Das ist die verbrecherische Wirkung eines Krieges, wie Putin ihn geplant und umgesetzt hat: Er erhebt eine Art Stammeszugehörigkeit zum Maßstab des Handelns, der einen jeden zwingt, sich zu entscheiden, zu welcher Räuberbande man gehören will. Nicht zu einer Gewalt ausübenden Bande gehören zu wollen und sich dennoch zu wehren, ist ein schwieriger Balanceakt. Wenn es, wie Putin unter Missbrauch des Kampfes gegen Nazi-Deutschland behauptet, um den Kampf gegen Faschismus ginge, dann hat er mit seinem Krieg dem Antifaschismus das Schlimmste angetan, was sich denken lässt – nämlich den Nationalismus und Rassismus ungeheuer befeuert und alle Alternativen zum bewaffneten Nationalismus di skreditiert.