Blaue „Ehrenmedaille“ für die Grünen

Das österreichische Modell für die EU

Als der alt-neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz im Jänner 2020 seinen Antrittsbesuch bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte, äußerte sich diese geradezu euphorisch über die neue Regierungskoalition zwischen der türkis-konservativen ÖVP und den Grünen. Sie hoffe, dass „das österreichische Modell in der EU Schule macht – auch in Hinblick auf die Schwerpunkte im Regierungsprogramm.“ (Kurier vom 12. Januar 2020). Werfen wir also einen Blick in das 326 Seiten dicke türkis-grüne Regierungsprogramm.

Im Programmpunkt „Budgetpolitik“ wird das 4. Kriterium des Maastricht-Vertrages vorgegeben: Der Schuldenstand des EU-Mitglieds darf danach 60 Prozent des BIP nicht übersteigen und das gesamtstaatliche Defizit darf maximal 3,0 Prozent des BIP erreichen“. Da Österreich derzeit bei einem Schuldenstand von 74 Prozent liegt, übt das beträchtlichen Druck auf die öffentlichen Budgets aus. Um die Bereitschaft zur Unterordnung unter die EU-Vorgaben zu zelebrieren, fordert die Regierung ausdrücklich „Sanktionen“ für all jene EU-Staaten ein, „die sich nicht an diese Regeln halten“ (S. 175). Gleichzeitig aber verspricht die neue Regierung, „unabhängig davon, die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sicherzustellen“ (S. 69). Diese positive Ankündigung wird aber wieder relativiert, wenn es heißt, dass „ökologische und nachhaltige Infrastrukturprojekte und Sanierungsmaßnahmen sowie deren Finanzierung unter Einhaltung des innerösterreichischen Stabilitätspaktes“ (S. 72) zu erfolgen haben. Dieser „Stabilitätspakt“ ist die österreichische Variante der im EU-Fiskalpakt geforderten „Schuldenbremse“.

Doppelte Umverteilung

Doch nicht nur die restriktiven Budgetvorgaben bringen den Sozialstaat und öffentliche Investitionen unter Druck, die türkis-grüne Regierung will gleichzeitig die öffentlichen Einnahmen austrocknen: Die Staatsabgabenquote soll von derzeit 42,6 Prozent auf 40 Prozent des BIP zurückgefahren werden. Gemessen am BIP von 2019 bedeutet das Minderausgaben von 10 Milliarden Euro – jährlich! Zum Vergleich: Das ist deutlich mehr als die Hälfte aller öffentlichen Bildungsausgaben.

Bemerkenswert ist auch, wie die Staatseinnahmen gesenkt werden sollen: Die geplante Absenkung der Körperschaftssteuer (Gewinnsteuer für Kapitalgesellschaften) von 25 Prozent auf 21 Prozent beschert den Konzernen Steuergeschenke von 1,5 Milliarden jährlich. Die Befreiung von Kursgewinnen im Bereich „Wertpapiere und Fondsprodukte“ von der Kapitalertragssteuer nach einer gewissen „Behaltefrist“ freut vor allem Aktionäre. Auch die geplante Senkung der Einkommenssteuer (um 3,9 Milliarden Euro) fällt höchst ungleich aus: Das untere Drittel hat davon gar nichts, Hauptprofiteure sind gut Verdienende.

Das Resultat dieser Budgetpolitik ist eine doppelte Umverteilung von unten nach oben: Jene, die von der Steuerentlastung wenig bis gar nicht profitieren, werden die Hauptverlierer des Sozialabbaus sein, der durch die Austrocknung der Staatseinnahmen droht.

Widersprüchliche Klima- und Verkehrspolitik

Die Kapitel zum Klimaschutz gehören aus grüner Sicht zu den Erfolgen des Regierungsprogramms. Tatsächlich kündigt die Regierung hier eine Reihe erfreulicher Maßnahmen an: So soll bis 2030 die Stromversorgung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energieträgern erfolgen. Dafür werden der ambitionierte Ausbau von Photovoltaik, Wasserkraft, Windenergie, Biomasse, Geothermie, Biomethan, aber auch Maßnahmen zum Energiesparen (z.B. Investitionen in die thermische Sanierung) in Aussicht gestellt.

Auch der Öffentliche Verkehr soll gefördert werden: zum Beispiel durch Einführung des 1-2-3-Tickets, d.h. ein 365-Euro Jahresnetzkarte (=1 Euro/Tag) zur Benutzung des Öffentlichen Verkehrs in einem Bundesland, ein 730-Euro-Jahresticket (=2 Euro/Tag) für zwei benachbarte Bundesländer und ein 1095 Euro Jahresticket (=3 Euro/Tag) für den Öffentlichen Verkehr im gesamten Bundesgebiet. Außerdem kündigt das Regierungsprogramm an, eine Nahverkehrsmilliarde für den ÖPNV in Ballungsräumen und eine Öffi-Milliarde für den Regionalverkehr bereitzustellen. Da dafür aber kein Zeitraum angegeben wird und auch unklar ist, ob die Kosten des 1-2-3-Tickets hier eingerechnet werden, bleibt offen, welcher finanzielle Spielraum sich dadurch tatsächlich für Öffi-Investitionen auftut – umso mehr, als über allem ja das Damoklesschwert der restriktiven Budgetvorgaben und Einnahmenkürzungen schwebt.

Doch auch ohne diese Bedenken hinsichtlich der Finanzierbarkeit ist das Regierungsprogramm von einer umweltfreundlichen Verkehrswende weit entfernt. Denn die Regierung will den Ausbau von Megastraßen und Flugpisten unvermindert fortsetzen. Im nächsten Jahrzehnt sollen in Österreich 20 Milliarden Euro für neue Autobahnen, Schnellstraßen und Flugpisten investiert werden (siehe LP21, Heft 48, S.40f). Bundeskanzler Kurz wird nicht müde zu betonen, dass es keine Abstriche bei diesem Ausbau der Infrastrukturen für den Auto- und Flugverkehr geben werde. Widerworte vom grünen Juniorpartner gibt es keine.

Großangriff auf Neutralität

Will man ergründen, warum von der Leyen gar so überschwänglich das türkis-grüne Programm preist, so muss man wohl bis zum Kapitel Außen- und Sicherheitspolitik blättern. Zur Einstimmung wird mantraartig die Notwendigkeit eines „neuen EU-Vertrags“ wiederholt, um dann in einem Nebensatz die Katze aus dem Sack zu lassen, worum es der neuen Regierung dabei geht: „Annahme von Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit in zusätzlichen Bereichen (z.B. Außenpolitik)“. Die Einstimmigkeit im Bereich der Außenpolitik ist dem EU-Establishment insbesondere in Berlin und Paris schon seit langem ein Dorn im Auge. Schließlich gilt: Eine imperiale Großmacht muss mit einer Stimme sprechen und mit einer Faust zuschlagen können. Die EU-Mächtigen wissen, dass ihre Fähigkeit, andere Länder mit der geballten Wirtschafts- und Militärmacht erpressen und nötigenfalls bekriegen zu können, in der EU solange nicht voll entfaltet ist, solange da s Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht beseitigt wird. Genau dafür will sich die türkis-grüne Regierung nun ins Zeug legen.

Jede ernsthafte Form der Neutralität erfordert politische Unabhängigkeit in der Außenpolitik – gerade gegenüber Großmächten. Nur so kann die Neutralität, die nach wie vor in der österreichischen Verfassung verankert ist, zur Grundlage einer aktiven Friedenspolitik werden. Diese Unabhängigkeit ist schon mit den derzeitigen EU-Verträgen nicht mehr gegeben. Mit der Aufhebung der Vetomöglichkeit in der Außenpolitik würde aber jede Form der Neutralität zu einer Farce verkommen.

Es verwundert daher auch nicht, dass sich das ÖVP-Grüne-Regierungsprogramm in jeder Hinsicht zur Militarisierung der EU bekennt: Um den Vorgaben der EU-Aufrüstungsunion („Ständig Strukturierte Zusammenarbeit“) zu entsprechen, soll das Bundesheer mit der „Weiterentwicklung aller Teilstreitkräfte Land, Luft, Spezialeinsatzkräfte und der Cyberkräfte“ fit gemacht werden (S. 227). Türkis-grün will die Rüstungsforschung an Österreichs Hochschulen in Schwung bringen, indem man die entsprechenden EU-Rüstungstöpfe („European Defense Fund“) kräftig anzapft. „Mindestens 1100 Soldaten“ sollen „als Dauerleistung für Auslandseinsätze“ bereitstehen (S. 228). Ab dem 2. Halbjahr 2020 stehen über 600 österreichische Militärs unter der Führung der deutschen Bundeswehr Gewehr bei Fuß, um auf Zuruf des EU-Rats im Rahmen der EU-Battlegroups innerhalb weniger Tage in Auslandseinsätze zu ziehen. Zur Bekämpfung von Flüchtlingen im Mittelmeer will sich türkis-grün „für die rasche Stärkung von Frontex“ (S. 177) einsetzen.

Doch nicht nur die EU-Kommission, auch die rechtsextreme FPÖ, die bis zum Frühjahr 2019 noch blauer Koalitionspartner von Sebastian Kurz war, findet lobende Worte über das türkis-grüne Regierungsabkommen. Der (Un-)Geist der FPÖ weht durch das türkis-grüne Programm, insbesondere ein antimuslimischer Repressionsgeist, der von der Ausweitung von Kopftuchverboten in den Schulen bis hin zur Einführung einer sog. „Sicherungshaft“ reicht, also dem Einsperren auf Verdacht. Zuletzt gab es eine solche „Sicherungshaft“ in Zeiten des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus. FPÖ-Obmann Norbert Hofer hat deshalb angekündigt, den Grünen eine „Ehrenmedaille für das Umsetzen freiheitlicher Ideen zu verleihen.“ (ORF, Runder Tisch, 3. Januar 2020).

Gerald Oberansmayr ist aktiv bei der Solidarwerkstatt Österreich; siehe: https://www.solidarwerkstatt.at/. Er schreibt regelmäßig für Lunapark21, zuletzt in Heft 48.

Zum ÖVP-Grünen-Regierungsprogramm siehe: https://www.dieneuevolkspartei.at/Download/Regierungsprogramm_2020.pdf