Der AWO-Skandal und die Ökonomisierung des Sozialen

Die Affäre kam für die Arbeiterwohlfahrt zur Unzeit. Gerade erst hatte der Wohlfahrtsverband mit etwas Pomp und viel Pathos sein hundertjähriges Bestehen gefeiert, da erschütterte ihn ein Skandal bislang ungekannten Ausmaßes. Anlass waren Berichte über die Ehefrau des Frankfurter SPD-Oberbürgermeisters Peter Feldmann, die als Leiterin einer AWO-Kita ein ungewöhnlich hohes Gehalt bezogen und einen Dienstwagen gestellt bekommen hatte – was bei einer Kita-Leitung nicht gerade üblich ist. Der OB selbst steht in Verdacht, als ehemaliger AWO-Mitarbeiter Einfluss genommen zu haben.

Doch in der Folge wurden noch weitaus krassere Vorfälle bekannt, die weit über die Rhein-Main-Region hinaus für Erschütterungen sorgen. Die AWO-Kreisverbände Frankfurt am Main und Wiesbaden entpuppten sich als Selbstbedienungsläden, die über Jahrzehnte von einer familiär verbundenen Funktionärsclique kontrolliert wurden. Jahresgehälter von über 300.000 Euro, fette Dienstwagen, ungerechtfertigte Honorarzahlungen – und das in einem Verband, der sich als Teil der Arbeiterbewegung Werte von Solidarität und Gerechtigkeit auf die Fahnen schreibt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Betrug und Untreue. Staatliches Geld, das für die Flüchtlingsarbeit gedacht war, soll zweckentfremdet worden sein.

Die Vorgänge seien „in dieser Fülle und Konzentration einmalig“, erklärte der AWO-Vorstandsvorsitzende Wolfgang Stadler. Einmalig? Bezogen auf die Dimension stimmt das womöglich. Doch es gibt strukturelle Ursachen, die in der Expansion einer „Wohlfahrtsindustrie“, der Ökonomisierung des Gesundheits- und Sozialwesens und dem Rückzug des Staates zu suchen sind. Verbände wie die AWO sind zu Wohlfahrtskonglomeraten mit hunderttausenden Beschäftigten mutiert. Allein die Arbeiterwohlfahrt beschäftigt fast 231.000 Menschen und betreibt 18.000 Einrichtungen – von Pflegeheimen und Kitas bis zu Behinderteneinrichtungen und Stadtteilzentren. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas haben zusammen sogar mehr als eine Million Beschäftigte. Hinzu kommen das Deutsche Rote Kreuz mit rund 150.000 Beschäftigten und etliche kleinere Organisationen wie der Internationale Bund, für den etwa 14.0000 Menschen arbeiten.

Politische Grundlage dieser Expansion ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Demnach soll der Staat soziale Leistungen möglichst nicht selbst in eigenen Einrichtungen erbringen, sondern freigemeinnützige oder auch kommerzielle Anbieter damit beauftragen, die Betreuung von Kindern, soziale Arbeit unter Jugendlichen oder Hilfe für behinderte Menschen zu organisieren. Mit Geld der Steuerzahler und der Sozialversicherten, versteht sich. In Kombination mit dem zunehmenden Bedarf an sozialen Dienstleistungen hat das dazu geführt, dass sich die Wohlfahrtsverbände zu großen Konzernen entwickelt haben – allerdings mit der kleinteiligen und oft unprofessionellen Struktur eines dezentral organisierten Verbandes. So sollen ehrenamtliche, lokale Vorstände Geschäftsführungen kontrollieren, die Millionenbeträge bewegen und tausende Beschäftigte kommandieren. Im Frankfurter AWO-Skandal ist offensichtlich geworden, dass das nicht funktioniert, weshalb auch AW O-Chef Stadler davon spricht, die Aufsicht habe „völlig versagt“.

Staat überlässt den Trägern das Feld

Doch der Rückzug des Staates hat noch weitaus problematischere Konsequenzen: In vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens dominieren inzwischen private, profitorientierte Konzerne das Geschehen. So zum Beispiel in der Altenpflege, deren Beschäftigtenzahl sich innerhalb von 20 Jahren auf 1,15 Millionen (2017) nahezu verdoppelte. Besonders seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 bauen kommerzielle Firmen ihren Marktanteil kontinuierlich aus und stellen mit 54 Prozent die Mehrheit der stationären und ambulanten Betreiber. Und das sind nicht in erster Linie kleine Pflegedienste. Gerade in den letzten Jahren haben große Konzerne und Finanzinvestoren den boomenden Markt als lukratives Anlagefeld für sich entdeckt. Sie übernehmen Pflegeketten, pumpen sie durch Zukäufe auf und verkaufen sie nach wenigen Jahren gewinnbringend weiter. Dabei sind es oft Immobiliengesellschaften, die eher an den Grundstücken als am Betrieb von Pflegeheimen Interesse haben. In jedem Fall engagieren sich diese Investoren kaum für eine qualitativ hochwertige Versorgung. Fast immer steigen die Unternehmen nach Übernahme öffentlicher Einrichtungen aus den Tarifverträgen aus. Entschieden wehren sich ihre Lobbyorganisationen gegen Versuche, Mindeststandards bei der Bezahlung und der Personalbesetzung festzuschreiben.

Dieses Umfeld prägt auch das Handeln der freigemeinnützigen Träger, deren Zweck zwar nicht die Gewinnerzielung ist, die sich dem „Druck des Marktes“ aber in aller Regel beugen. Ablesbar ist das unter anderem an der Zersetzung der Flächentarifverträge bei nahezu allen Wohlfahrtsverbänden. So kündigte beispielsweise die Arbeiterwohlfahrt 2006 ihren bundesweiten Tarifvertrag. Seither ist ein Flickenteppich entstanden, mit Einrichtungen, die ihre Beschäftigten für die gleiche Arbeit ganz unterschiedlich bezahlen und zum Teil überhaupt keinen Tarifvertrag anwenden. „Die AWO hat sich in einen Kostensenkungswettlauf mit den kommerziellen Anbietern eingelassen“, stellten Be-
triebsräte bei einer 
ver.di-Konferenz im März vergangenen Jahres in Leipzig fest. „Leidtragende sind die Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege, im Sozial- und Erziehungsdienst, in den Behinderteneinrichtungen, in den Beratungsstellen und letztlich die zu pflegenden und zu betreuenden Menschen. Das ist der falsche Weg.“ Zum hundertjährigen AWO-Jubiläum müsse sich der Verband wieder auf seine Wurzeln besinnen und „100 Prozent Tarif“ garantieren.

Noch weiter geht das Lohndumping unter dem Dach des Deutschen Roten Kreuzes. Oft werden tariflose DRK-Gesellschaften nur zu dem Zweck gegründet, andere Anbieter bei Ausschreibungen zu unterbieten – zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe in Nordrhein-Westfalen. Eine Reihe von DRK-Gliederungen haben Gefälligkeitstarifverträge mit der „Gewerkschaft“ DHV geschlossen, deren Tariffähigkeit derzeit vor Gerichten überprüft wird und die weit unter dem sonstigen Tarifniveaue liegen.

Mit dabei: die Kirchen

Nicht nur die weltlichen, auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände haben ihren Charakter im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen verändert. So nutzen etliche Einrichtungen in der evangelischen Diakonie ihre rechtliche Sonderstellung aus, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Laut Grundgesetz steht den Kirchen ein Selbstordnungsrecht zu, womit diese ein ganz eigenes Arbeitsrechtsystem begründen. Statt in Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften werden Löhne und Arbeitsbedingungen in kircheneigenen, sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen festgelegt. In diesen bestimmt letztlich der Arbeitgeber, was (notfalls per Zwangsschlichtung) entschieden wird – zumal die Kirche ihren Beschäftigten zugleich das Grundrecht auf Streik abspricht. Diese Praktiken haben dazu geführt, dass die Beschäftigten in etlichen diakonischen Einrichtungen weit unter dem Niveau des öffentlichen Dienstes vergütet werden.

Die Expansion und Ökonomisierung der Wohlfahrtsindustrie verändert auch das Verhältnis zwischen den Verbänden und ihren Unternehmen. Nicht nur AWO-Chef Stadler hat wenige Möglichkeiten, die örtlichen Gliederungen zu einem Verhalten zu verpflichten, das zu den Ansprüchen des Verbandes passt. Auch in der Diakonie geben nicht die Verbandsfunktionäre den Ton an, sondern die Vertreter der Unternehmen, namentlich der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VddD) und der Agaplesion-Konzern, der mit weit über eine Milliarde Euro Jahresumsatz Deutschlands viertgrößer Klinikbetreiber ist. Die Leiter dieser eigentlich gemeinnützigen Unternehmen agieren auf einem umkämpften und milliardenschweren Markt. In ihrem Verhalten und Selbstverständnis unterscheiden sie sich kaum von den Managern kommerzieller Firmen. Die bei der Frankfurter AWO bekannt gewordene Selbstbereicherung dürfte auch darin begründet sein.

Daniel Behruzi ist freiberuflicher Journalist und lebt in Darmstadt. Zuletzt erschienen: Daniel Behruzi/Fanny Zeise (Hrsg.): Individuelle Bedürfnisse, kollektive Aktionen, politische Alternativen. Beiträge zur neuen Arbeitszeitdebatte. https://www.rosalux.de/publikation/id/40786/individuelle-beduerfnisse-kollektive-aktionen-politische-alternativen/