Friedrich Engels und die Geschlechterfrage

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Die soziologische Frauenforschung beklagte schon lange, dass die großen Gesellschaftstheorien, die sich mit Arbeit befassen, die Leistung der Frauen für die Erschaffung und den Erhalt der Gesellschaft ignorieren. Die Arbeiten in der Familie, bei der Erziehung der Kinder, der Pflege der Hilfsbedürftigen und in der ehrenamtlichen Arbeit fielen lange Zeit nicht unter die Definition Arbeit, weil sie bekanntlich nicht bezahlt und privat, ohne Arbeitsvertrag und ohne soziale Rechte erbracht werden und angeblich auch unbezahlbar erscheinen. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung hat sich – ausgehend von einem international getragenen Konsens in der Ablehnung von Frauenunterdrückung und Frauenausbeutung – bereits in den 1970er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Erarbeitung einer „feministischen Gesellschaftstheorie“, der ein erweiterter Arbeitsbegriff zugrunde liegt, notwendig ist. Schließlich galt seit 1968 die Erkenntnis: Das Priv ate ist politisch. Ziel war die Aufhebung der geschlechtsspezifisch-hierarchischen Arbeitsteilung in allen Bereichen menschlicher Arbeit – nicht nur individuell, sondern auch kollektiv. Das ist bis heute nicht erreicht.

Was hat das mitFriedrich Engels zu tun?

Engels Ausführungen zur Geschlechterfrage wirken auch heute noch prägnant und aktuell. In der Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieb er (1845) die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Arbeit beider Geschlechter. In den gemeinsam mit Karl Marx verfassten Texten „Die Deutsche Ideologie“ (1845) und „Die Heilige Familie“ (1846) sowie im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848) prangerten beide die ausbeuterischen Bedingungen im kapitalistischen Produktionsprozess ebenso wie die Unterdrückung der Frauen in der nach bürgerlichen Normen verfassten Ehe und Familie an. In einer seiner bekanntesten Schriften „Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats“ (1884) sah Engels die Notwendigkeit der Frauenbefreiung durch die „Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie“, also in die bezahlt geleistete Arbeit zur eigenständigen Existenzsicherung. Er sah aber auch den zweiten unbezahlt geleisteten Arbeitsbereich, der meist den Frauen zugeordnet wurde, und forderte die Vergesellschaftung der Hausarbeit durch „die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft“.

Diese theoretische Position war innerhalb der Arbeiterbewegung nicht unumstritten – ja, sie stand in Widerspruch zur traditionellen Haltung eines großen Teils der Arbeiterbewegung, wie sie bereits zwei Jahrzehnte zuvor vertreten wurde. Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter dem Vorsitz von Ferdinand Lassalle wandte sich in seiner Gründungsresolution gegen die Frauenerwerbsarbeit. Darin hieß es: Die Frau sorge für ,,die Reproduktion der Familie, versorge den Haushalt, ziehe die Kinder auf und biete dem Mann einen kompensatorischen Ausgleich für den Kampf ums tägliche Brot”. Das mag der Antrieb gewesen sein, dass Engels sich 1883, kurz nach Karl Marx’ Tod, daranmachte, aus dessen hinterlassenen umfangreichen Notizen und seinen eigenen Überlegungen die erwähnte Schrift „Der Ursprung der Familie“… zu verfassen, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Das Buch wurde zu einem der meistgelesenen und einflussreich sten marxistischen Klassiker. Engels verweist darin auf den engen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Familie und auf die Abhängigkeit der Familie und der Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder untereinander von der jeweiligen Gesellschaftsordnung und der zugrunde liegenden Produktionsweise.

Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens

Im Vorwort zur ersten Auflage 1884 schreibt Engels: „Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andererseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie“.

Engels geht also von zwei Produktionsformen aus: Aus der einen entstehen die Menschen und aus der anderen die Lebensmittel und Güter, die diese Menschen brauchen. Er fordert damit, dass dem weiblichen Akt der Reproduktion die gleiche Bedeutung beizumessen sei wie der Produktion der materiellen Lebensgrundlagen. Diese Aufwertung der Rolle und Funktion der Frau war zu seiner Zeit in und außerhalb der Arbeiterbewegung außerordentlich ungewöhnlich. Allerdings behält er die Trennung der beiden Arbeitsbereiche in einerseits (Erwerbs)arbeit und andererseits Familienarbeit bei, die – wie er selbst in der Schrift erklärt – zur Abwertung der durch Frauen geleisteten Arbeiten führt.

Nach jahrelangem Studium der Anthropologie und Frühgeschichte war Engels zu dem Schluss gekommen, dass in vorgeschichtlichen Zeiten, bevor der Staat entstand, die Gesellschaft in großen Familienbünden, organisiert war, die das kollektive Eigentum an Grund und Boden besaßen und auch gemeinsam beackerten. Es gab kein Erbrecht, da das Eigentum allen Mitgliedern der Bünde gehörte. Mit wachsender Produktivität (z.B. durch technische Erfindungen) begannen einige Menschen einen Überschuss zu produzieren, den sie gegen die überschüssigen Produkte anderer eintauschten. Damit begann der Warentausch, durch den es wenigen Menschen gelang, Reichtümer anzuhäufen. Die überschüssigen Reichtümer wollten sie nun nicht mit den anderen Familienbünden teilen, sondern für die eigenen Nachkommen reservieren. Aufgrund der polygamen Familienstrukturen konnte die Abstammung eines Kindes nur anhand der mütterlichen Linie mit Gewissheit zurückverfolgt we rden. Frauen genossen in diesen Strukturen größeres Ansehen und größere gesellschaftliche Autorität, als sie jemals zu späteren Zeiten erreichten.

Mit der Herausbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Privateigentums veränderte sich auch die Stellung der Frau. Es entstanden die ersten Vererbungsmodelle. Um ihren Besitz an ihre biologischen Erben männlicher Herkunft weitergeben zu können, verlangten die Väter nun die Gewissheit ihrer Vaterschaft und das Verbot für Frauen, sich mit mehr als einem Mann zu paaren. Damit entstand auch der Anspruch auf exklusive Rechte des Mannes auf den Körper einer von ihm erwählten Frau. „Die platte Habgier“, schreibt Engels, „war die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute. Reichtum und abermals Reichtum und zum dritten mal Reichtum, Reichtum nicht der Gesellschaft, sondern des „einzelnen lumpigen Individuums“.

Indem das Mutterrecht durch das Vaterrecht abgelöst wurde, wurde auch die frühere Unabhängigkeit der Frauen in Abhängigkeit verwandelt: „Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung […]. Die erste Wirkung der nun begründeten Alleinherrschaft der Männer zeigt sich in der jetzt auftauchenden Zwischenform der patriarchalischen Familie.” Diese Familie – so versucht Engels nachzuweisen – hat es nicht von Anfang an gegeben. Ebenso wenig wie die Unterordnung der Frauen. Sie wurde institutionalisiert, rechtlich kodifiziert und fest in den Sitten verankert. Um den Vater und damit die legitimen Erben eindeutig zu bestimmen, wurde die monogame Familie, die das Inzestverbot und die sexuelle Unberührtheit sowie die lebenslange Treue der Frau institutionalisierte und rechtlich absicherte, notwendig. Es ging, wie Engels schrieb, um die „Monogamie der Frau“, […] „nicht des Mannes, so daß diese Monogamie der Frau der offnen oder verdeckten Polygamie des Mannes durchaus nicht im Wege stand“. Damit einher ging der Bedeutungsverlust des Stammesverbandes.

Die Entstehung der Hausfrau

Gleichzeitig mit dem Entstehen der Kleinfamilie, deren Grundlage nach Engels die „offene und verhüllte Haussklaverei der Frau“ ist, veränderte sich auch die menschliche Arbeit. Es wuchs der Bedarf an Arbeitskräften, die die Reichtümer weiter vermehrten: „Aus der ersten großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entsprang die erste große Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete“. Klassen haben nach Engels gegensätzliche ökonomische Interessen. Ein Sklavenhalter hat das Interesse, den Sklaven auszubeuten, um maximalen eigenen Gewinn aus ihm zu ziehen. Ein Sklave hingegen hat das Interesse, möglichst wenig für den Sklavenhalter zu arbeiten und stattdessen selbst in Freiheit zu leben.

Die Spaltung der Gesellschaft, die die Unterordnung der Frau zur Folge hat, beschreibt Engels folgendermaßen: „Der Unterschied von Reichen und Ärmeren tritt neben den von Freien und Sklaven – mit der neuen Arbeitsteilung entsteht eine neue Spaltung der Gesellschaft in Klassen, die bis heute das menschliche Zusammenleben prägen. Die Besitzunterschiede der einzelnen Familienhäupter sprengen die alte kommunistische Hausgemeinde überall, wo sie sich bis dahin erhalten hat; mit ihr die gemeinsame Bebauung des Bodens für Rechnung dieser Gemeinde. Das Ackerland wird den einzelnen Familien zunächst auf Zeit, später ein für allemal zur Nutzung überwiesen, der Übergang in volles Privateigentum vollzieht sich allmählich und parallel mit dem Übergang der Paarungsehe in Monogamie. Die Einzelfamilie fängt an, die wirtschaftliche Einheit in der Gesellschaft zu werden“. Die Hausfrau – so folgert Engels – unterliegt einem ähnlichen Ausbeutung sverhältnis durch den Mann, wie der Mann durch den Kapitalisten.

Engels bezweifelte die „Natürlichkeit“ der Familie, zumal er Lebensweisen sah, die nicht der bürgerlichen Familie entsprachen. Er wollte durch seine Forschungen eine Lanze für das Gemeineigentum brechen. Das Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln sowie an Grund und Boden sollte in der neuen – auf höherer Ebene „kommunistischen – Gesellschaft“ wieder abgeschafft werden. Im Staat sah er das Eingeständnis, „daß die Gesellschaft“, deren Produkt der Staat ist, „in einem unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt“ ist bzw. dass „sie sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat.“ Die Unterdrückung der Frau durch den Mann ist nach Engels historisch gewachsen und gesellschaftlich bedingt. Damit ist die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein Produkt der historischen Entwicklungsstufe der ökonomischen Verhältnisse und keine biologische Tatsache. Somit war auch der Beweis erbracht, dass d er männliche Chauvinismus nicht unveränderlich ist.

Engels war sich sicher, dass sich die Gleichheit der Geschlechter durch die bevorstehende gesellschaftliche Umwälzung im Zuge der proletarischen Revolution wieder herstellen wird. Wenn der vererbbare Reichtum erst einmal abgeschafft war und erneut in Gemeinschaftsbesitz überführt sein würde, würden nicht nur die Lohnarbeit und das Proletariat verschwinden, sondern auch der Monogamie und dem Erbrecht die ökonomische Grundlage entzogen sein. Wirkliche Gleichheit zwischen Männern und Frauen könne nur Realität werden, wenn die Ausbeutung beider durch das Kapital aufgehoben werde, die Einzelfamilie aufhörte, wirtschaftlich Einheit der Gesellschaft zu sein, die Pflege und Erziehung aller Kinder, auch der unehelichen, zur öffentlichen Angelegenheit werden würde und die folgende Generation in diesem Sinne erzogen würde.

Heute, 135 Jahre nach dem Erscheinen von Engels’ Buch, erscheint es im bürgerlichen Mainstream, aber auch in Teilen der Linken überflüssig, nach dem Ursprung von Familie, Privateigentum und Staat zu fragen. Familie wird weiter behandelt, als wäre sie Naturgesetz, auch wenn die Realität längst andere Wege geht. Naturgesetze hinterfragt man nicht. Privateigentum wird so behandelt, als ob es aus der menschlichen Natur nicht wegzudenken sei. Und vom Staat hegt man die Meinung, dass ohne ihn das Zusammenleben der menschlichen Gattung dem Chaos und der Willkür ausgeliefert sei. Engels’ Einsichten in die ökonomischen Grundlagen geschlechtsspezifischer Ungleichheit sind in Zeiten, in denen der bezahlte Arbeitsmarkt immer noch geschlechtsspezifisch geteilt ist und Kindererziehung und Hausarbeit ebenfalls ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt sind, so relevant wie eh und je.

Gisela Notz ist Historikerin und Sozialwissenschaftlerin und lebt und arbeitet in Berlin.

Der Text von Engels Der Ursprung der Familie… findet sich in MEW Band 21, Seiten 27-173. Zum Weiterlesen: Gisela Notz: Auseinandersetzung mit Friedrich Engels‘ „Ursprung der Familie …“… und was er uns heute noch zu sagen hat, in: Rainer Lucas/Reinhard Pfriem/Hans-Dieter Westhoff: Arbeiten am Widerspruch – Friedrich Engels zum 200. Geburtstag, Weimar 2020, S. 397 – 416.

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