50 Jahre Tempolimit-Debatte

Der Großversuch Tempo 100 im Jahr 1985

Die Debatte um die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen nahm Anfang 2020 Fahrt auf, nachdem auch der ADAC, der vorgibt, für mehr als 20 Millionen Autofahrerinnen und Autofahrer zu sprechen, seinen Widerstand gegen ein solches Tempolimit aufgab. Der Verband erklärte, nunmehr bei diesem Thema „neutral“ zu sein. Gibt es dann, wie es der Greenpeace-Verkehrsexperte Tobias Austrup formulierte, „beim Tempolimit nur Gewinner“?1

Nein, so ist ist es nicht. Tatsächlich gibt es einen Verlierer: die Autoindustrie. Deshalb lehnt der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) weiterhin die Einführung einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung strikt ab. Deshalb startete die CSU im Januar 2020 eine Kampagne für die Beibehaltung der Tempofreiheit auf großen Teilen des Autobahnnetzes. VDA und CSU agieren hier stellvertretend für große Teile der weltweiten Autobranche. Denn alle großen Autohersteller exportieren Autos für den deutschen Markt. Damit stellen alle großen Autohersteller – auch die nicht-deutschen – aufgrund der deutschen „Tempofreiheit“ schwere und sehr teure – also enorm profitable – Fahrzeuge her, die für Geschwindigkeiten von 200 und mehr Stundenkilometer ausgelegt sind.

Besieht man sich die internationale „Landschaft“ der Tempobeschränkungen und vergleicht den Stand im Jahr 2020 mit demjenigen Mitte der 1980er Jahre – siehe Tabelle – , sind zwei Dinge sofort erkennbar: Erstens, dass sich die Tempofreiheit in Deutschland krass und einsam abhebt vom „Rest der Welt“. Zweitens, dass die erlaubten Maximalgeschwindigkeiten seit 1985 deutlich gestiegen sind: In Norwegen und in den Niederlanden um 10 km/h, in Griechenland um 20 km/h, in Dänemark und Ungarn um 30 km/h und in den USA und der Türkei um 38 bzw. 40 km/h. Dennoch liegt der Durchschnitt der genannten Länder immer noch bei 121, 6 km/h (ohne Deutschland).

Die Tempofreiheit in Deutschland übt einen dauerhaften Druck auf andere Länder aus, ihre jeweiligen Tempolimits anzuheben und aufzuweichen. Im Nachbarland Österreich, wo die deutschen Autohersteller marktbeherrschend sind, wurden in jüngerer Zeit Geschwindigkeitsbegrenzungen in einzelnen Bundesländern und auf einzelnen Autobahnabschnitten angehoben. Noch im Juli 2019 wurde in Österreich beschlossen, dass auf Strecken mit einem allgemeinen Tempolimit 100 km/h für Elektroautos 130 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit gilt. Die Anfang 2020 neu gebildete Regierung in Wien hat diese Maßnahme nicht zurückgenommen. Teile der Grünen in Deutschland fordern inzwischen ebenfalls angehobene Geschwindigkeitslimits für E-Autos.2 In den letzten Jahrzehnten wurden die Geschwindigkeitsbegrenzungen in einzelnen Bundesstaaten der USA schrittweise angehoben – weitgehend parallel zum Siegeszug von Mercedes, BMW, Porsche und Audi, den diese Konze rne in Nordamerika seit den 1990er Jahren (u.a. auch mit der Kampagne „Clean Diesel“).

In dieser aktuell defensiven Situation argumentieren der deutsche Bundesverkehrsminister und die Autolobby damit, es lägen „zu wenige Informationen“ über die Wirkung eines solchen Tempolimits vor. Man benötige neue und „verlässliche“ Daten. Vergleichbar argumentiert ADAC. Im Bundestag gab es im Oktober 2019 und im Bundesrat im Februar 2020 jeweils eine Zweidrittelmehrheit gegen ein Tempolimit. Laut repräsentativen Umfragen unterstützen zwei Drittel der Bevölkerung ein Tempolimit.

1985: „Großversuch Tempo 100“

In den Jahren 1983 bis 1985 gab es in Westdeutschland eine breite gesellschaftliche Debatte über die Einführung von Tempo 100 auf Autobahnen. „Spiegel“ und „Stern“, die Grünen, SPD und Teile von CDU/CSU traten dafür ein. Begründet wurde dies mit unterschiedlichen, vorliegenden Studien u.a. der TU Berlin, des Umweltbundesamtes und der Bundesanstalt für Straßenwesen, in denen dokumentiert wurde: Ein solches Tempolimit reduziert die Schadstoffemissionen und die Zahl von Unfällen deutlich. Der ADAC distanzierte sich 1985 auf dem Evangelischen Kirchentag von der – zuvor von ihm selbst propagierten – Losung „Freie Fahr für freie Bürger“.

Darauf flüchtete sich die Bundesregierung – damals gestellt von CDU/CSU und FDP mit Helmut Kohl (CDU) als Kanzler und Werner Dollinger (CSU) als Verkehrsminister – in die Behauptung, man benötige zur Beurteilung dieser Forderung genaue Daten „gemessen im Realbetrieb“. Es wurde ein „Großversuch Tempo 100“ beschlossen. Teilstrecken des Autobahnnetzes wurden als „Teststrecken“ für den „Großversuch“ ausgewiesen. Der TÜV wurde als Prüfinstanz eingesetzt. Der „Großversuch“ begann im Februar 1985; er endete vorzeitig bereits im November desselben Jahres. Am 21. November 1985 tat „Bild“ kund: „Millionen Bundesbürger können aufatmen“. Laut TÜV gäbe es bei Tempo 100 „nur ein sehr geringes Einsparungspotential“ bei den Schadstoffemissionen. In Wirklichkeit waren die Rahmenbedingungen des „Großversuchs“ bewusst falsch gesetzt worden. Darüber hinaus besagten die endgültigen Ergebnisse, di e erst Monate später publik wurden, etwas völlig anderes.3

Doch das Ziel war erreicht: Die scheinbar wissenschaftlichen Ergebnisse und das mediale Trommelfeuer gegen ein Tempolimit, das nach dem „Großversuchs“ einsetzte, würgten jede weitere Diskussion ab.

Der damit neu zementierte Zustand der „Tempofreiheit“ hielt dann im Großen und Ganzen 35 Jahre lang an. Auch als nach der Vereinigung von BRD und DDR im Jahr 1990 auf dem Gebiet der damaligen DDR das dort bis 1989 geltende Tempolimit 100 aufgehoben und sich die Zahl der Straßenverkehrstoten in den neuen Bundesländern schlagartig mehr als verdoppelte, kam es zu keinem Aufschrei.4 Vorsichtig geschätzt kostete der Verzicht auf die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen im Zeitraum 1985 bis 2020 mehr als 5000 Menschen das Leben.5

Anmerkungen:

1 Wiedergegeben in: Handelsblatt vom 5. Oktober 2019.

2 So eine entsprechende Forderung des Grünen-MdB und Digitalexperten Dieter Janacek im Februar 2020. Nach: https://www.zeit.de/mobilitaet/2020-02/tempolimit-die-gruenen-e-autos [15.2.2020]

3 Die Manipulationen bestanden u.a. im Folgenden: Erstens wurde öffentlich erklärt (und dies dann so praktiziert), ein Nichteinhalten des Tempolimits werde nicht bestraft. Am Ende stellte sich heraus, dass sich nur 30 Prozent (!) der Autofahrenden an Tempo 100 hielten. Zweitens wurden die Schadstoffemissionen bei Geschwindigkeiten von mehr als 150 km/h erst gar nicht gemessen. In der erst Anfang 1986 bekannt gewordenen TÜV-Studie hieß es dann im Gegensatz zu den Verlautbarungen von November 1985, es gäbe „eine eindeutige Abhängigkeit von Geschwindigkeit und Emissionen“. U.a. in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Januar 1986; zitiert bei: Winfried Wolf, Eisenbahn und Autowahn, Hamburg 1992, S. 389 (zum gesamten Großversuch: dort Seiten 386-390).

4 1989 gab es in der DDR 1330 Straßenverkehrstote. 1991 waren es auf dem Gebiet der Ex-DDR 3800. Auch noch 2001 lag die Zahl der in den neuen Bundesländern im Straßenverkehr Getöteten bei mehr als 2000 und damit erheblich über dem Stand von 1989. Nach: Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S. 321.

5 Die Zahl „5000“ ist betont konservativ geschätzt. Die Berechnung wie folgt: Selbst heute, bei insgesamt deutlich niedrigeren gesamten Verkehrsopferzahlen, geht u.a. die Polizeigewerkschaft GdP davon aus, dass sich „das Risiko schwerer Unfälle mit Schwerstverletzten“ bei Tempo 130 deutlich reduzieren und „so bundesweit etwa 80 Verkehrstote pro Jahr vermeiden“ ließen. Bei Tempo 120 dürfte diese Zahl bei gut 100 liegen. In den 1980er Jahren gab es in Westdeutschland mehr als doppelt so viele Straßenverkehrstote. Tempo 120 hätte damals also sicher zu einer größeren Reduktion von im Straßenverkehr Getöteten geführt. Nach der Wende gab es, wie beschrieben, allein 1991 und 1992 als Folge der Tempofreiheit auf DDR-Gebiet mehr als 3000 zusätzliche Straßenverkehrstote. Die Auswirkungen von begleitenden Geschwindigkeitsreduzierungen im übrigen Straßennetz sind hier noch gar nicht berücksichtigt.