Sozialer Vertrag in der Krise

Der ökonomische und soziale Kontext der aktuellen Auseinandersetzungen in Belarus

In der bisherigen Medienberichterstattung zu Belarus kamen wirtschaftliche und soziale Aspekte nur am Rande vor. Hintergrundwissen zur Funktionsweise der belarussischen Wirtschaft und zur sozialen Lage der Bevölkerung ist aber nützlich, um ein vollständiges Bild zum Land und zur aktuellen Situation zu bekommen.

Das weißrussische „Wirtschaftswunder“

<I>In den Wirtschaftswissenschaften wurde die belarussische Entwicklung während der 1990er und 2000er Jahre als große Ausnahme diskutiert. Das Land war eine der wenigen post-sowjetischen Republiken, die nach der Auflösung der Sowjetunion nicht massiv privatisierten und liberalisierten. Sogar vor dem Machtantritt von Präsident Lukaschenko im Jahr 1994 waren nur 13 Prozent der Staatsbetriebe verkauft worden. Lukaschenko stoppte dann vorerst alle weiteren Privatisierungen. Auch heute sind noch – je nach Schätzung – 60 bis 70 Prozent der belarussischen Wirtschaft staatlich. Neoliberale Fachleute zeigten sich vor diesem Hintergrund verwundert, dass Belarus‘ Wirtschaft in den ersten beiden Dekaden nach der Unabhängigkeit dennoch konstant wuchs. Freundlicher gestimmte Einschätzungen sprachen von einem weißrussischen Wirtschaftswunder. Belarus war es gelungen, das von der Sowjetzeit geerbte industrielle Potenzial zu erhalten, strukturellen Wandel durch die umfassende Restrukturierung von Industrieunternehmen zu vermeiden und hohes BIP-Wachstum ohne Marktreformen zu erreichen. Laut Zahlen, auf die sich die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen stützt, wuchs das weißrussische BIP zwischen 1981 und 2015 um den Faktor 2,4. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate belief sich im selben Zeitraum auf 2,6 Prozent. Damit hatte Belarus eine bedeutend dynamischere Wirtschaftsentwicklung als andere GUS-Staaten, zum Beispiel Russland oder die Ukraine (siehe Grafik).

Kritikerinnen und Kritiker hielten der Regierung allerdings „Reformstau“ vor und argumentierten, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Folge einer Marktöffnung noch viel besser gewesen wäre. Zudem wäre das belarussische Modell nur aufgrund der subventionierten Rohöllieferungen aus Russland überlebensfähig. Dieses wird von Belarus in zwei Raffinerien aus der Sowjetzeit weiterverarbeitet und dann an die Ukraine und in den Westen zum Marktpreis verkauft. Im Jahr 2017 wurde so ein Viertel der Einnahmen aus den Warenexporten erzielt. Früher lag der Wert noch darüber. Die so erlangten Devisen werden zur Tilgung von Staatsschulden verwendet, aber auch für Quersubventionen für den stark regulierten staatlichen Sektor.

Bezogen auf die Wirtschaft hat Belarus viel aus Sowjetzeiten beibehalten. Es gibt einen starken staatlichen Industriesektor, der ungefähr ein Viertel des BIP erwirtschaftet und in dem auch ungefähr ein Viertel aller Beschäftigten angestellt ist. Eine tiefgreifende Modernisierung inklusive umfassender Rationalisierung der weißrussischen Industrie ist bisher ausgeblieben. So herrscht heute, aus einer Effizienzperspektive betrachtet, in vielen Werken Überbeschäftigung. Die Industriestruktur wurde zudem gezielt dezentral erhalten, um auch außerhalb von Minsk und Umgebung Industriearbeitsplätze vergeben zu können. Der Sektor ist sehr diversifiziert und auf die möglichst autonome Versorgung des Binnenmarktes ausgerichtet. Die meisten der großen Industriebetriebe sind staatlich, zum Beispiel Belaruskali (Kalidünger), MTZ (Traktoren), MAZ (LKWs) oder BELAZ (Muldenkipper u.a. Spezialfahrzeuge). Auslandsinvestitionen kommen meist im Rahmen von Privatisierungen zustande, während Joint Ventures mit Staatsunternehmen sowie Neugründungen relativ selten sind.

Die staatlichen Unternehmen wurden nach 1996 durch subventionierte Kredite unterstützt, bei denen staatliche Banken Zinsraten unter dem Marktpreis vergaben und der Staat den Banken die Differenz ausglich. Möglich war dies unter anderem wegen der Einnahmen aus den Erdölexporten. Auf diese Weise wurden Staatsbetriebe vor Restrukturierungsmaßnahmen bewahrt. Dies wurde auch kritisiert, da so auch ineffiziente und defizitäre Betriebe überleben konnten. Außerdem erzeugten diese starken Eingriffe in das Finanzsystem (siehe auch weiter unten) in weiterer Folge makroökonomische Ungleichgewichte und Währungsprobleme. Belarus könnte also als autoritärer Entwicklungsstaat charakterisiert werden, dessen Führung auf die relativ autonome wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes ausgerichtet war und ist.[1]

Modell im Straucheln

<I>Das starke Wachstum von durchschnittlich mehr als 8 Prozent zwischen 2001 und 2008 ging auf viele – vor allem staatliche getragene – Investitionen zurück. Allerdings akkumulierte das Land mit der Zeit ein beachtliches Leistungsbilanzdefizit, das zum Teil auf das hohe Investitionslevel und die Ausweitung des Binnenkonsums zurückzuführen war. Die Exporte konnten mit den Importen nicht Schritt halten. Niedrige Preise für russische Gas- und Erdölimporte schwächten das Problem bis 2006 ab. Die Wechselkurspolitik hingegen verstärkte die Probleme. Der Wechselkurs wurde nominal stabil gehalten, was bei einer höheren Inflationsrate als in den Ökonomien der wichtigsten Handelspartner zu einer realen Währungsaufwertung führte und die Importe weiter befeuerte. 2008 lag das Leistungsbilanzdefizit schon bei 8,4 Prozent des BIP und wurde zunehmend durch Auslandskredite finanziert.

Die globale Wirtschaftskrise von 2008/9 schränkte dann (auch) die belarussischen Exportmöglichkeiten stark ein und es wurde immer schwieriger, das Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren. Es kam daraufhin zu mehreren Währungskrisen mit darauffolgenden Abwertungen, nämlich 2009, 2011 und 2015. Belarus war außerdem gezwungen, Kredite vom IWF und dem Anti-Krisen-Fond der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft anzunehmen. Insgesamt verlangsamte sich das Wachstum und der wirtschaftspolitische Gestaltungsspielraum für Lukaschenko verengte sich deutlich. Das durchschnittliche BIP-Wachstum war zwar bis 2015 höher als jenes der anderen GUS-Staaten sowie vieler osteuropäischer Länder, dennoch lag es deutlich unter jenem der vorangegangenen Periode. Einen weiteren Schlag stellten für Belarus die Sanktionen gegen Russland dar, die 2014 vom Westen verhängt wurden.

Zwar konnten belarussische Unternehmen zum Teil EU-Produkte auf dem russischen Markt ersetzen bzw. diese unter Verstoß gegen die Ursprungsregeln des eurasischen Markts dort hineinschmuggeln. Das gelang allerdings nicht in dem Ausmaß, wie der Nachfragerückgang nach belarussischen Exporten aus Russland die eigene Wirtschaft traf. Immerhin ist Russland nach wie vor der mit Abstand wichtigste Handelspartner von Belarus. Hinzu kamen die Importsubstitutionsmaßnahmen am russischen Binnenmarkt, die zum Teil auch weißrussische Unternehmen vom russischen Markt verdrängten. Diese Faktoren führten dazu, dass sich auch in Belarus eine Rezession auftat. Sowohl 2015 wie 2016 verringerte sich zum ersten Mal seit 20 Jahren die Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr. Das weißrussische Entwicklungsmodell war an seine Grenzen gestoßen.

Während es Belarus einerseits gelungen war, das industrielle Erbe der Sowjetzeit zu behalten und weiterzuentwickeln, wurde in den vergangenen Jahren gehäuft diskutiert, ob die dazu nötigen Begleitmaßnahmen – gelenkte Kredite, Wechselkurspolitik, Umverteilung der Ölrenten – nicht eigentlich der Beweis waren, dass dieses System auf Sand gebaut war. Besonders zeigt sich das an einem seit Jahren schwelenden Konflikt rund um die verbilligten russischen Erdöl- und Erdgasimporte, die von Teilen der russischen Eliten schon seit langem infrage gestellt wurden und während der letzten Jahre zu einem konstanten Zankapfel zwischen Lukaschenko und Putin geworden waren. Fielen sie weg, wäre das ein schwerer Schlag für die belarussische Wirtschaft.

Im Jahr 2018 hatte es schließlich klare Zeichen der ökonomischen Erholung gegeben, wie diese Presseaussendung zum 2019 erschienenen Belarus-Länderbericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) dokumentiert: „Die zyklische Erholung der weißrussischen Wirtschaft schreitet voran, mit einem Wachstum während der ersten drei Quartale 2018 von 3,7 Prozent. Höhere Ölpreise und stabile Auslandsnachfrage haben die Exporte stimuliert, während die heimische Nachfrage einen Impuls durch zweistelliges Lohnwachstum erhielt als Folge von ehrgeizigen Lohnzielen (…). Kluge Geldpolitik kombiniert mit wachsendem Vertrauen in die Zentralbank hielten die Inflation auf historisch niedrigem Niveau (5 Prozent im Jahresvergleich des Monats November 2017/2018) trotz raschem Lohnwachstums” (IWF Länderbericht Nummer 19/9, Jänner 2019, Presseaussendung; eigene Übersetzung). Dann allerdings kam die Pandemie, die trotz der Vermeidung eines Lockdowns zur Einführung von Kurzarbeit für 110.000 Beschäftigte führte, weil die Exporte nach Russland, in die EU und in andere Länder stark einbrachen. Der IWF schätzt, dass die belarussische Wirtschaft infolge von Covid-19 im Jahr 2020 um 6 Prozent schrumpfen wird (für die Ukraine werden 7,7% BIP-Rückgang erwartet, für Russland 6,6 %, für Litauen 8,1% und für Polen 4,6%).

Der soziale Vertrag bröckelt

Lukaschenkos Machtposition stellte lange Zeit nur eine marginalisierte Opposition offen infrage. Begründet wird dies mit dem sozialen Vertrag, der zwischen Regierenden und Bevölkerung etabliert wurde. Die Staatsseite garantierte die ausreichende Verfügbarkeit von Arbeits- und Ausbildungsplätzen sowie regelmäßige Lohn- und Pensionserhöhungen im Austausch für politische Loyalität. In diesem Kontext war die Sozialpolitik seit 1994 darauf ausgerichtet, die Früchte des Wachstums möglichst gerecht unter allen zu verteilen. Dies erfolgte auf mindestens vier Ebenen: durch Reallohnzuwächse, durch den Erhalt von Arbeitsplätzen in Staatsbetrieben und im öffentlichen Sektor, durch kostenlosen und freien Zugang zum Schul- und Gesundheitssystem und durch staatliche Subventionierungen und Vergünstigungen.

Die Zahl der Menschen in Weißrussland, die unter der nationalen Armutsgrenze lebten, verringerte sich laut Belstat von 41,9 Prozent im Jahr 2000 auf 5,7 Prozent 2016. Währenddessen vervierfachte sich das durchschnittlich verfügbare Einkommen der Bürgerinnen und Bürger zwischen 2000 und 2015, während praktisch Vollbeschäftigung herrschte. Die jährlichen Lohnerhöhungen in nationaler Währung erfolgten bis 2015 auch dann ziemlich großzügig, wenn es die Entwicklung der Arbeitsproduktivität eigentlich nicht zuließ – mit negativen Folgen für das makroökonomische Gleichgewicht. Die Lohnziele wurden von der Regierung aber in Dollar angegeben. 2005 bis 2010 sollte das Durchschnittseinkommen in Weißrussland umgerechnet bei 500 Dollar, ab 2015 dann bei 1000 Dollar liegen. Auch wenn diese Steigerung zu einem zentralen Ziel der sozialökonomischen Entwicklungsagenda erklärt wurden, wurde sie – wegen der bereits erwähnten ökonomischen Probleme – deutlich verfehlt. In den Jahren 2015 und 2016 fielen sogar die Reallöhne. Die Restrukturierung einiger staatlicher Betriebe war unvermeidlich geworden.

Die Rezession von 2015 und 2016 erschwerte es dem Staat vorübergehend, Arbeitsplätze für alle Arbeitswilligen bereitzustellen. Dennoch ist Belarus nicht von hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Laut ILO-Schätzungen schwankte die Rate von 2011 bis 2019 zwischen 4,6% und 6,1% und sank ab 2017 wieder deutlich. Die nationale Zählung kommt auf eine noch niedrigere Zahl, weil sie nur jene Personen berücksichtigt, die Arbeitslosenunterstützung von umgerechnet ca. 12 Dollar pro Monat beziehen (eine Erhöhung wird aktuell geprüft). Viele Arbeitssuchende melden sich aber nicht offiziell, weil dann verpflichtende Gemeinschaftsarbeit zu verrichten ist. Neben annähernder Vollbeschäftigung ist der belarussische Arbeitsmarkt aber auch durch große Flexibilität gekennzeichnet. Es dominieren befristete Verträge, die nur für ein Jahr abgeschlossen werden; der Arbeitgeber hat keine Verpflichtung, sie nach Ablauf zu erneuern. Dafür verantwortlich gemacht wird u.a., dass es keine unabhängige Gewerkschaftsbewegung von Relevanz gibt, während die existierenden, offiziell anerkannten Gewerkschaften regierungsnah sind.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie zum Primär- und Sekundärbereich des Bildungssystems war und ist kostenlos. Die Studiengebühren sind mit 500 bis 1500 Dollar pro Jahr relativ niedrig angesetzt; bei hervorausragenden Leistungen können sie reduziert oder vollständig erlassen werden.[2] Das Pensionssystem funktioniert wie in Österreich auf Basis eines Umlageverfahrens. Lange Zeit galt noch das Pensionsantrittsalter aus der Sowjetzeit (Frauen 55 J./Männer 60 J.). Erst ab 2017 erfolgte eine schrittweise Erhöhung des Antrittsalters um drei Jahre, die erst 2022 abgeschlossen sein wird. Bis heute werden die Pensionen mindestens zwei Mal jährlich an die Inflation angepasst; sie belaufen sich auf ungefähr 40 Prozent eines durchschnittlichen Einkommens. Das ist genug, um die Lebenserhaltungskosten zu decken – aufgrund der staatlichen Subventionen und Vergünstigungen. Der Staat fördert zum Beispiel die Heizkosten für die gesamte Bevölkerung großzügig. Die Haushalte übernehmen nur ca. ein Fünftel der Kosten, während der Rest durch Quersubventionen von Unternehmen und der Regierung finanziert wird. Auch die Preise für andere Versorgungsdienstleistungen wurden lange subventioniert, sind es allerdings mittlerweile kaum oder gar nicht mehr, zum Beispiel bei Kochgas und Strom. Auch staatliche Vergünstigungen sind nicht mehr so umfassend verfügbar wie früher. Beispielsweise konnten noch 2003 mehr als 60 Prozent den öffentlichen Verkehr zu ermäßigten Tarifen nutzen, 2015 waren es nur noch 33 Prozent. Außerdem sind noch heute 20 Prozent der Preise des Verbraucherpreisindexes staatlich festgesetzt. In der Vergangenheit lag der Wert noch höher.

Dennoch ist die soziale Lage der Durchschnittbevölkerung gut und die Verteilungsgerechtigkeit ist noch immer vergleichsweise hoch (siehe Tabelle). Das bestätigen auch Zahlen internationaler Organisationen. Beim Index menschlicher Entwicklung der Vereinten Nationen belegt Belarus Platz 50. Alle GUS-Staaten außer Russland liegen hinter Belarus. Auch Rumänien und Bulgarien befinden sich auf schlechteren Rängen. Das liegt daran, dass neben dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf auch Variablen zu Bildung und Gesundheit in den Index einfließen, nämlich die Lebenserwartung bei Geburt, die zu erwartenden Schuljahre eines Neugeborenen und die mittleren Schuljahre von Personen über 25 Jahren. Kostenlose und flächendeckende Bildung und Gesundheitsversorgung verbessern hier Belarus‘ Position. Beim ungleichheitsbereinigten Index wird die bestehende Ungleichheit bei Zugang zu Bildung und Gesundheit eingerechnet. Als Folge überholt nun Belarus auch Russland und liegt nur mehr knapp hinter Litauen und Polen. Auch beim durchschnittlichen Gini-Index von 2010 bis 2017 schneidet Belarus sehr gut ab, beim Gini-Index von 2018 ist Belarus sogar die Gesellschaft mit der gerechtesten Einkommensverteilung (bei 0 erhalten alle genau gleich viel, bei 100 eine Person alles).

Wohlstands- und Verteilungsindikatoren

Länder der Östlichen Partnerschaft, Russland und ausgewählte EU-Mitgliedsstaaten

WeltrangIndex menschlicher Entwicklung (HDI 2018)WeltrangUngleichheits-bereinigter Index menschlicher Entwicklung (IHDI 2018)Gini- Index Ø 2010 – 2017Gini-Index 2018 (Welt-bank)
30Estland0,88220Estland0,81832,730,4 (2017)
32Polen0,87227Polen0,80130,829,7 (2017)
34Litauen0,86932Lettland0,77634,235,6 (2017)
39Lettland0,85434Litauen0,77537,437,3 (2017)
49Russland0,82437Belarus0,76525,425,2
50Belarus0,81741Russland0,74337,737,5
52Bulgarien0,81643Rumänien0,72535,936,0 (2017)
52Rumänien0,81645Bulgarien0,71437,440,4 (2017)
70Georgien0,78650Ukraine0,70125,026,1
81Armenien0,76052Georgien0,69237,936,4
87Aserbaidschan0,75455Armenien0,68533,634,4
88Ukraine0,75057Aserbaidschan0,683
107Moldau0,71163Moldau0,63825,925,7

Quelle: Human Development Report der Vereinten Nationen 2019; Weltbank 2020 für Gini-Index 2018

Es gab also unter Lukaschenko relevante Lohn- und Pensionssteigerungen und eine längere Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, die mit grundlegender sozialer Absicherung der Bevölkerung kombiniert war und ist. Allerdings machten die unsichere weltwirtschaftliche Lage der vergangenen zwölf Jahre, binnenwirtschaftliche Schwächen und die für ein relativ kleines, semi-peripheres Land bestehenden Grenzen autonomer Entwicklung, eine Fortsetzung des sozialen Vertrags in seiner ursprünglichen, universalen Form unmöglich. Schon ab 2011 konnten, wie beschrieben, einzelne Bestandteile des sozialen Vertrages nicht mehr eingehalten werden, was sich ab 2015 verstärkte. Zusätzlich konnte Belarus seit 2011 nicht mehr an das dynamische Wirtschaftswachstum der 2000er Jahre anknüpfen.

Der Ausbruch der Proteste nach den Wahlen sollte deshalb in einem breiteren sozio-ökonomischen Kontext gesehen werden. Zugleich werden nun die Möglichkeiten einer autonomen wirtschaftlichen Entwicklung – unabhängig vom Ausgang – weiter eingeschränkt werden, da entweder die Bindung an Russland oder an die EU unter Druck erhöht werden muss. In beiden Fällen wird vermutlich auf eine weitgehende Öffnung der weißrussischen Wirtschaft gedrängt, auch um das noch bestehende „Volkseigentum“ lukrativen Privatisierungen zuzuführen.

Julia Eder lebt in Wien und forscht schwerpunktmäßig zu Industrie- und Handelspolitik. In ihrer Doktorarbeit vergleicht sie die gemeinsame Industriepolitik der Eurasischen Wirtschaftsunion mit jener des Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR). Sie setzt sich in diesem Zusammenhang spezifisch mit den Möglichkeiten und Grenzen für die industrielle Entwicklung von Belarus und Armenien sowie von Argentinien und Uruguay im jeweiligen regionalen Block (und darüber hinaus) auseinander. Bisher war sie zweimal in Belarus, davon einmal für einen mehrwöchigen Forschungsaufenthalt.

Anmerkungen:

[1] In der Entwicklungsökonomie wird von einem Entwicklungsstaat gesprochen, wenn die Regierung bzw. Teile des Staatsapparates gezielt Industrie-, Handels-, Finanz- und sonstige Förderpolitiken für die Diversifizierung und das Wachstum der Wirtschaft, v.a. des industriellen Sektors, einsetzen.

[2] Es gibt auch öffentlich finanzierte Studienplätze für die keine Gebühren anfallen. Diese stellen – je nach Studienfach – einen Großteil oder einen geringen Teil der insgesamt verfügbaren Plätze dar und können nur nach erfolgreicher Qualifikation angetreten werden. [Diese Endnote wurde nach der Drucklegung ergänzt und fehlt deshalb in der Druckfassung]

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