Obdachlosigkeit – strukturelle Gewalt in einem reichen Land

Obdachlosigkeit ist neben dem (Ver-)Hungern, (Ver-)Dursten, dem (Er-)Frieren und dem Fehlen einer medizinischen Grundversorgung die krasseste Form der Armut, wobei die genannten Leidenszustände von Menschen oft miteinander verbunden sind. Entgegen dem vorherrschenden Armutsbild gibt es diese existenzielle Not nicht bloß in den Entwicklungsländern des globalen Südens, sondern auch in der Bundesrepublik. Menschen, die in einem so reichen Land keine Wohnung haben und obdachlos werden, sind „struktureller Gewalt“ (Johan Galtung) ausgeliefert.

Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gab es nach einem zwischenzeitlichen Rückgang 2018 wieder 678.000 Wohnungslose, darunter 441.000 anerkannte Flüchtlinge. 41.000 Menschen, darunter in manchen Großstädten fast die Hälfte osteuropäische EU-Bürger:innen, lebten seinerzeit auf der Straße. Während der Covid-19-Pandemie hat die Zahl der Betroffenen zugenommen. Ohne die rückläufige Zahl der Geflüchteten ohne Wohnung ergab sich zum Stichtag 30. Juni geschätzt ein Anstieg von 4,6 Prozent zwischen 2019 und 2020. Hatten am 30. Juni 2019 hierzulande cirka 151.000 Deutsche kein Mietverhältnis, so waren es 2020 cirka 158.000 Personen, von denen etwa 45.000 obdachlos waren, das heißt auf der Straße lebten. Gestiegen ist die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von Freiberufler:innen, Soloselbstständigen und gescheiterten Existenzgründer:innen darunter.

Teilweise führte der pandemische Ausnahmezustand zu einer totalen Verelendung. Obdachlose, die kein Zuhause hatten, konnten trotz der Infektionsgefahr nicht – wie von Medizinern, Virologen und Politikern gleichermaßen gefordert – „zuhause bleiben“, aber während des wiederholten Lockdown auch weder Straßenzeitungen verkaufen noch Pfandflaschen sammeln oder ihren Lebensunterhalt mit Betteln verdienen, weil die nötigen Passant:innen ausblieben oder aus Furcht vor Ansteckung auf Distanz zu ihnen gingen. Sie gehörten daher zu den Hauptleidtragenden der Pandemie, standen jedoch weder im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit noch der staatlichen Fürsorge.

Neben mehr Hilfe und Unterstützung für die Betroffenen muss ein Richtungswechsel der Politik dafür sorgen, dass Obdachlosigkeit wirksam bekämpft wird. Ohne eine grundlegende Wende in der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik wird die Obdachlosigkeit in Deutschland weiter zunehmen. Nötig sind die Wiederherstellung der Wohnungsgemeinnützigkeit und die Wiederbelebung des kommunalen Wohnungsbaus. Neben einem gesetzlichen Mindestlohn, der mehr als zwölf Euro brutto pro Stunde betragen müsste und keine Ausnahmen kennen dürfte, gehört eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Sanktionen, ohne am Substandard orientierte Mietobergrenzen sowie ohne Pauschalierung der Wohn- und Heizkosten auskommt, zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen.

Eine überraschende Betriebsschließung, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses sowie Beziehungskrisen, Ehekonflikte und Suchterkrankungen sind zwar Auslöser, nicht jedoch Ursachen der Obdachlosigkeit. Diese sind zu finden in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, den herrschenden Eigentumsverhältnissen und sich häufenden sozioökonomischen Krisenerscheinungen. Nirgendwo versagt das kapitalistische Wirtschaftssystem so eklatant wie bei der Wohnraumversorgung. Da Wohnungen hierzulande wie Würstchen, Wandteppiche und Wegwerftaschentücher als Waren be- und gehandelt werden, können sich Menschen ohne oder mit geringem Einkommen auf dem entsprechenden Markt nicht behaupten.

Viele Kapitalanleger fürchteten im Gefolge der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und europäischen Währungskrise Bankenpleiten und Börsenzusammenbrüche. So wurde „Betongold“ immer beliebter. Die Immobilienbranche boomt wie nie. Vonovia und Deutsche Wohnen bildeten per Megafusion den größten Immobilienkonzern Europas, internationale Finanzinvestoren entdeckten deutsche Immobilien als Spekulationsobjekt und unterwerfen diesen für die Bevölkerung existenzwichtigen Lebensbereich noch stärker ihrer Profitlogik. BlackRock & Co. tragen als Eigentümer und Vermieter riesiger Wohnungskomplexe maßgeblich zur Mietenexplosion in den Städten bei.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Kölner Universität. Letzte Veröffentlichung: Carolin und Christoph Butterwegge, „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“.