Das Erdbeben verschärft Elend und Not

Ein Bericht aus der syrisch-türkischen Grenzregion

Insgesamt sind von dem Erdbeben in der syrisch-türkischen Grenzregion laut Uno 29 Millionen Menschen betroffen – eine Jahrhundertkatastrophe für beide Länder.

Es wird von über 50.000 Toten gesprochen, davon sind mindestens 44.000 Menschen in der Türkei in den Trümmern gestorben. Im Fall von Syrien gehen offizielle Zahlen von etwa 6000 Toten aus. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Todeszahlen wesentlich höher sind und in den kommenden Wochen und Monaten weiter steigen werden – das liegt auch an den erschwerten Zugängen in die Region.

Die Naturkatastrophe trifft Syrien und die Türkei in einer angespannten Zeit. Die Türkei steht vor Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai, an denen der regierende Präsident Erdogan bis heute festhält. In Syrien sitzt der Kriegsverbrecher Assad fester im Sattel denn je. Eine Annäherung mit der Türkei war schon vor dem Beben ein weiteres Zeichen für die zunehmende Festigung des Regimes. Humanitäre Hilfe ist in Syrien seit Jahren ein politisches Instrument, über das Assad versucht, seine Macht zu sichern. Studien gehen davon aus, dass fast die Hälfte der UN-Hilfsgelder in Unternehmen und Organisationen fließen, die dem Regime nahestehen. Assad missbraucht Hilfe, um Politik zu machen. Im UN Sicherheitsrat wird über grenzüberschreitende Hilfe in die islamistisch kontrollierten Gebiete in Nordwestsyrien inzwischen halbjährlich verhandelt.

Erdbeben trifft auf humanitäres Desaster

Das Erdbeben hat den Westen Syriens sehr stark getroffen:  Das von islamistischen und Türkei nahen Milizen kontrollierte Afrin, das von der radikalislamistischen Terrororganisation, dem al-Kaida-Ableger HTS kontrollierte Idlib, aber auch Aleppo und Umgebung. In Idlib traf das Erdbeben eine Region, in der seit 2020 knapp drei Millionen Binnenflüchtlinge, die vor dem Assad-Regime geflohen sind, in Zeltlagern unter humanitär extrem schlechten Bedingungen, leben. Seit Jahren überleben sie dort nur mit internationaler Unterstützung, doch die grenzüberschreitende Hilfe wird jedes Jahr neu verhandelt.

Eine Perspektive gibt es für die dort lebenden Menschen schon lange nicht mehr, der Weg in die Türkei bleibt ihnen erschwert. Dort sind hunderte Häuser zusammengestürzt ; tausende Menschen wurden unter Trümmern begraben. Tagelang kam keine Hilfe in die Erdbebenregion, obwohl  Rettungsteams und Bergungsgeräte dringend nötig gewesen wären – die ersten drei Tage sind entscheidend bei einem Erdbeben, um Überlebende zu bergen. Es wurde der Bevölkerung überlassen, nach Überlebenden zu suchen und Menschen aus den Trümmern zu retten.

Erst nach vier Tagen kamen die ersten Hilfslieferungen über den Grenzübergang Bab al Hawa an – allerdings keine erdbebenspezifische Nothilfe, sondern Lieferungen, die ohnehin für die Flüchtlingslager gedacht waren. Gebraucht wurden jedoch Zelte für die Obdachlosen oder Bergungsgerätschaft. Es dauerte weitere Tage, bis auf internationalen Druck weitere Grenzübergänge nach Nordsyrien geöffnet wurden.

Bis jetzt ist das Volumen der Hilfslieferungen noch lange nicht auf dem Niveau der Hilfslieferungen vor dem Beben. Zudem kommt es zu Berichten über Schwarzmärkte. Islamistische Gruppen in der Region beschlagnahmen Hilfsgüter und verkaufen sie an Notleidende zu horrenden Preisen – humanitäre Prinzipien gelten in diesen Gebieten kaum. Ohne eine politische  und internationale Lösung wird es für die Menschen in der Region weiterhin keine Perspektive geben – das Erdbeben verschlechtert die humanitäre Lage extrem.

Die WHO befürchtet einen Cholera-Ausbruch. Cholera verbreitet sich seit letztem Sommer in Nordsyrien. Es war gelungen, die Infektionskrankheit über den Winter einzudämmen. Kaputte Wasserleitungen und schlechte hygienische Bedingungen in den provisorischen Zeltlagern können schnell zu einem neuen Ausbruch führen. Die WHO hat eine Impfkampagne angekündigt. Statt nach Auswegen für diese dort lebenden Menschen zu suchen, schafft die internationale Gemeinschaft hingegen nur die Annäherung an Assad. Die Aufhebung von Sanktionen, die Hilfslieferungen über Assad – alles Mittel, mit denen sich das Regime auch auf internationaler Ebene festigen wird. Stattdessen sollten Wege geprüft werden, wie Betroffene die Region verlassen können.

In Idlib unterstützt medico international über die Organisation Adopt a Revolution seit Jahren Initiativen, die aus dem Demokratieaufstand 2011 entstanden sind und an diesen Ideen festhalten.

Krieg in der Katastrophe

Auch im Nordosten Syiens – im Gebiet der kurdischen autonomen Selbstverwaltung – hat das Erdbeben nicht dazu geführt, dass Grenzübergänge geöffnet wurden, um Hilfe in die Region zu schaffen. Seit 2020 ist die grenzüberschreitende Hilfe hier gestoppt, als Resultat von Veto-Entscheidungen seitens Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat. Ziel: Zentralisierung der Hilfe über Damaskus – während der Corona-Pandemie haben sich die Auswirkungen deutlich gezeigt. Damals kamen medizinische Ausrüstung, Testergebnisse und Impfstoffe viel zu spät und nur verzögert an.

Das Erdbeben war in der Region zwar spürbar, ebenso wie die zahlreichen Nachbeben. Es hat aber zum Glück wenig zerstört. Stark betroffen sind die kurdischen Stadtteile Sheikh Maqsood und Ahshrafieh in Aleppo und die Region Shebha, wo zehntausende Vertriebene aus Afrin in Flüchtlingslagern leben. Dorthin hat sich die lokale Nothilfeorganisation vom Kurdischen Roten Halbmond auch sofort aufgemacht, denn auch diese Gebiete sind abgeschnitten von internationaler Hilfe.

Die Hilfsteams haben dann zehn Tage an den Checkpoints des syrischen Regimes verbracht, die Wegzoll verlangt haben. Sie sollten Ambulanzen und Hilfsgüter abgeben, um ins Erdbebengebiet zu kommen. Inzwischen haben sie die 300.000 Betroffenen in Aleppo erreicht und bauen Zelte auf, stellen die Grundlagen medizinischer Versorgung sicher. Aber die Perspektive ist völlig unklar, denn viele Häuser sind einsturzgefährdet – es bräuchte jetzt kontrollierte Abrissarbeiten, bisher werden aber keine Bauunternehmer in die Stadtteile gelassen. Auch erhält der Kurdische Halbmond in betroffene Gebiete, die unter Kontrolle islamistischer Milizen oder des syrischen Regimes stehen, keinen Zugang.

Hinzu kommt, dass die Türkei Nordostsyrien weiter unter Beschuss nimmt. Nur zwei Tage nach dem Beben wurde Til Rifat in Shebha mit türkischer Artillerie beschossen. Dort leben inzwischen 20.000 Obdachlose aus Aleppo, die in die Region geflohen sind. Seit dem Erdbeben ist es zu mindestens zwei Drohnenangriffen gekommen, bei denen Menschen getötet wurden. Der Krieg gegen die Bevölkerung und die autonome Selbstverwaltung in Nordostsyrien wird auch in Zeiten der Katastrophe nicht beendet.

Bereits im November kam es zu massiven Zerstörungen der zivilen Infrastruktur durch die türkischen Luftangriffe. Der ohnehin schwierige Alltag ist seitdem extrem erschwert. Ständige Stromausfälle, keine Heizung und fehlendes Gas zum Kochen in den Haushalten sind das Resultat dieser Kriegseskalation. Hinzu kommt der anhaltende Drohnenkrieg, bei dem immer wieder auch Zivilisten getötet werden. Die Belastung der Bevölkerung ist extrem hoch. Das Erdbeben wirkt wie ein Brennglas auf eine Region in einer Dauerkrise.

Hilfe ist in Syrien seit Jahren ein Politikum, so auch in den Erdbebenzeiten. Es bleibt weiterhin nur, solidarische Akteure zu unterstützen, die jenseits der festgefahrenen Machtkonstellationen Hilfe für die Millionen Betroffenen leisten.

Anita Starosta ist Referentin für Syrien, Irak und Türkei bei medico international. Anfang Februar besuchte sie die medico Projektpartner:innen in Nordostsyrien. Eine Woche nach dem Erdbeben reiste sie ins türkische Epizentrum, um dort die Nothilfe der medico-Partner zu begleiten.

Anmerkung:

Das Assad Regime versucht seit Jahren jegliche internationale Hilfe über Damaskus zu steuern, so kommt in die Gebiete der autonomen Selbstverwaltung seit 2020 keine UN-Hilfe mehr an. Stattdessen geht über die Hälfte internationaler Hilfsgelder an regimenahe Stiftungen und Unternehmern und finanziert damit das Regime und Militär mit.