Woher? Wohin?

Wirtschaftliche und politische Fragen im Sommer 2023

Der Winter des Missvergnügens ist vorüber. Wohl vermeldete das Statistischen Bundesamtes am 25. Mai, das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei „preis-, saison- und kalenderbereinigt“ zwei Quartale in Folge gesunken. Die Zahl der neuen Insolvenzverfahren im ersten Quartal 2023 ist um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Die Inflationsrate, das heißt der Anstieg des Verbraucherpreisindex zum Vormonat, betrug im Mai 6,1 Prozent. Verglichen mit den Vormonaten ist der Kaufkraftverlust nur etwas geringer ausgefallen. Aber der Arbeitsmarkt ist stabil.

Und obgleich die Spitzenvertreter der deutschen Industrie keine Gelegenheit verpassen, um über ruinöse Bedingungen zu jammern, schauen die Kapitalanleger positiv in die Zukunft. Der Dax hat Mitte Juni die alten Höchststände vom Herbst 2021 wieder erreicht.  Im Herbst 2022 hatten offizielle wie selbsternannte Experten aller politischen Lager noch einen möglichen Zusammenbruch der Energieversorgung und einen sicheren Einbruch der Industrieproduktion vorhergesehen. Nichts davon ist eingetreten. 

Der Zwischenstand der Konjunktur

Gemessen am preisveränderungsbereinigten BIP befindet sich die deutsche Wirtschaft etwa auf dem Stand vor der Coronakrise. Das ist kein stolzer Wachstumspfad, rückblickend betrachtet. Beim Blick in die Zukunft ergeben sich jedoch umfangreiche Kapazitätsreserven, um die Geschäfte auszuweiten. Nach wie vor wird in den Nachrichten – bei einer Unterbeschäftigung von 3,4 Millionen – von einem Arbeitskräftemangel berichtet. Mit Hartz IV gelang der Bundesregierung eine dauerhafte Spaltung des Arbeitsmarktes und ein massiver Ausbau des Niedriglohnsektors. Nun stellt sich heraus, dass nicht alle Arbeitslosen zu allen Jobangeboten passen. Die amtliche Begleitforschung sieht aktuell sogar hohe Tarifabschlüsse positiv: Sie stärken die Konsumnachfrage, und das nicht zu sehr: Die Reallohnverluste seit 2019 sind nicht aufgeholt. Der Reallohnindex liegt auf dem Stand von 2015, was den Gewinnmargen und Investitionsmöglichkeiten gut tut. Schon Keynes wusste: Senkungen  der Stundenlöhne und Verlängerung der Arbeitszeit führen zu harten Kämpfen. Dem Reallohnverlust durch steigende Preise ist schwerer zu widerstehen. Die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf den Auslandsmärkten ist ungebrochen. Wenn nur die Weltkonjunktur wieder anspringt, dann ist es ganz vorn mit dabei.

Die Aussichten auf den Weltmärkten sind allerdings nicht ungetrübt. Der IWF warnte im April vor einem steinigen Weg zur wirtschaftlichen Erholung. Nach drei Jahren Covid und angesichts der politischen Unsicherheiten – vor allem, aber nicht nur in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine – können sich die Expertinnen und Experten noch nicht einigen, wie ein neuer Normalzustand der Weltwirtschaft aussehen wird. Völlig unklar ist, wieweit die wirtschaftlichen Folgen des notwendigen ökologischen Umbaus der Gesellschaft reichen werden. Das Gespenst der Stagflation geht um: In den siebziger Jahren hatte die Kombination aus Preissteigerungen und wirtschaftlicher Stagnation dem Keynesianismus der Nachkriegsprosperität in der Wirtschaftspolitik wie an den Universitäten ein Ende bereitet. Heute geht es nicht um eine theoretische Schule, sondern nur darum, ob in neuen Krisen irgendwie eine stabile wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden kann.

Neue Bedingungen für die Märkte

Nur für eine Doktrin wird die aktuelle Entwicklung wahrscheinlich tödlich sein: Für die Modern Monetary Theory (MMT). Die Protagonisten der Schule um Randall Wray und Warren Mosler versuchen seit 25 Jahren, die Finanzpolitik von der Idee zu befreien, Steuern und Kreditaufnahme seien nötig zur Finanzierung der Staatsausgaben. Nachdem der Postkeynesianismus durch die imaginierte Fusion aller Banken zu einer Bank die Kreditschöpfung aus dem Nichts erfunden hatte, geht die MMT einen Schritt weiter und schlägt vor, auch noch Finanzministerium und Zentralbank zu einer Einrichtung zusammenzulegen. Die Abteilung Zentralbank soll einfach den anderen Abteilungen der Regierung das Geld austeilen, das sie so brauchen. Nur für außenwirtschaftlich schwache Gebiete ohne „monetäre Souveränität“ ziehen sie einige Einschränkungen ihres Vorschlags zur Lösung aller fiskalischen Probleme in Betracht. Gegen die Reichen muss nicht mehr gekämpft werden, wenn m an sie nicht mehr braucht, weil man auf ihre Steuern und Kredite nicht mehr angewiesen ist. Dass ihr Vorschlag nichts daran ändern würde, wem im modernen Kapitalismus welche Reichtümer privat gehören; dass sich nichts daran ändern würde, wer in den Firmen die Direktionsmacht hat, wer über Investitionen, Einstellungen, Entlassungen und nicht zuletzt über Preise entscheidet – das alles stört die Anhänger der Lehre nicht, sondern sie erfinden munter weitere Hilfsmittel, die diesem oder jenem Übel abhelfen sollen.

Karl Marx hatte in seiner Kritik an Proudhon 1847 versucht, jeder „Überwindung“ von Krisen und Ausbeutung durch eine Reform des Geldwesens bei Beibehaltung von Privateigentum und Privatproduktion die theoretische Grundlage zu entziehen. Sein Werk – vom „Elend der Philosophie“ bis zum „Kapital“ – hat jedoch nicht alle Menschen von der Suche nach einer Wunderheilung für die Nachteile des Kapitalismus abhalten können. Die Praxis ist ein weniger nachgiebiger Lehrmeister. Die MMT erlebte ihre kurze Blüte in der Zeit niedriger Inflation und niedriger Zinsen. Diese Zeit ist erst einmal vorbei. Wie vor einem Jahr an dieser Stelle beschrieben: Die Preissteigerungen sind gekommen, um zu bleiben. Sie sind nicht in vorübergehenden Spekulationen begründet, sondern die Folge von strukturellen Veränderungen der Reproduktion. Es geht nicht nur um den Zusammenhang von Kaufen und Verkaufen, sondern um den Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

 ’96 und dass nur durch die Arbeit der Vielen die menschliche Gesellschaft existieren kann, sollte so kurz nach dem Corona-Einschränkungen noch nicht vergessen sein.

Neue Bedingungen für Veränderungen

Viele verfolgen die Wirtschaftsnachrichten wie Informationen über das kommende schlechte Wetter, dem sie gern ausweichen würden, wenn sie nur könnten. Es gibt auch andere Gründe, sich mit dem Lauf der Konjunktur zu beschäftigen: Profit, Karriere, Neugier. Manche tun es, weil sie in den Börseninformationen nach den nächsten Chancen suchen. Andere, weil sie von Amts wegen mit der Fürsorge für die nationale Wirtschaft betraut sind oder den unübersichtlichen Geschäftsgang wissenschaftlich aufarbeiten sollen. Einige suchen schließlich im Auf und Ab der kapitalistischen Wirtschaft nach den Ansatzpunkten für einen Umbruch zu einer besseren Welt. Schulbildend wurde unter diesen die Bemerkung Lenins: „Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht me hr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ›Unterschichten‹ das Alte nicht mehr wollen und die ›Oberschichten‹ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“

Da ist etwas dran. In der Politik wie in der Weltwirtschaft kommt es nicht nur auf den Willen zum Erfolg an, oder auf Absichten und Verlautbarungen, mediale Deutungshoheit und verschiedene Interpretationen der aktuellen Lage. Es kommt auch auf die Macht an, die einem Willen zu Gebote steht, und auf die Stärke von Konkurrenten oder gar Gegnern. Wie aber können solche Kräfteverhältnisse bestimmt werden? Woher wissen wir, wie es in „der Wirtschaft“ aussieht? Und was heißt das für die Leute, die in dieser Wirtschaft die Arbeit machen müssen? Das bloße Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft im Allgemeinen reicht für Antworten auf solche Fragen nicht. Zwar hat solches Nachdenken den unbestreitbaren Vorteil, vergleichsweise billig zu sein: Es ist wohl zeitaufwendig, erfordert aber keine umfangreichen Mittel. In der Regel reichen Papier und Stift, und selbst die sind nicht immer nötig. Wenn es aber um die Darstellung der wirklichen Welt geht, um Da ten und Fakten, die präzise erfasst und pünktlich beschrieben werden sollen, dann wird es richtig teuer. So teuer, dass etwa oppositionelle Organisationen der arbeitenden Klasse in aller Regel als Träger nicht in Frage kommen. Die volkswirtschaftlichen und umweltökonomischen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes, die Finanzierungsrechnungen der Bundesbank und die Statistik der Arbeitsagentur – und ihre Gegenstücke in den USA vom Bureau of Economic Analysis, der Fed und des U.S. Bureau of Labor Statistics – sind nur als amtliche Statistiken bevollmächtigter Behörden möglich.

Was fehlt?

Nun interessieren sich die Herrschenden vor allem dann für die Einzelheiten der gesellschaftlichen Realität, wenn sie sich davon etwas versprechen. So berichtet es schon die Weihnachtsgeschichte, denn nach dem Evangelium des Lukas war es die Einrichtung von Steuerlisten, die zu dem Geschehen im Stall von Bethlehem geführt haben soll: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ An dem Muster hat sich bis heute nicht viel geändert. In dicken, oft Hunderte Seiten starken Dokumenten definieren die staatlichen Instanzen ihre Sicht auf die Wirtschaft. In ihrer Form – als staatliche Gesetze und zwischenstaatliche Vereinbarungen – wie in ihrer bürokratischen Terminologie zeigen die statistischen Standards, dass sie nicht nur der reinen Erkenntnis, sondern sehr handfesten Interessen zu Nutze sein sollen. Es sind die Fragen und Probleme „der da oben“, die für die Aufgabenstellung sta tistischer Erhebungen entscheidend sind. Die professionelle Sozialwissenschaft, weniger wertfrei in ihren Problemstellungen und Methoden, als sie gern von sich selber annimmt, kann nicht immer aushelfen. Wie Karl Korsch einst warnte: Das Gelände der Politischen Ökonomie ist für die arbeitende Klasse „zunächst und vor allem einmal Feindesland“. Gerade deshalb aber müssen wir lernen, uns in diesem Land zu orientieren: Wir leben darin. Und mag der gelernte Linke auch über die Statistik spotten, der nur glaubt, wer sie selbst gefälscht hat. Im nächsten Absatz zitiert er doch genau die statistischen Angaben, die ihm gerade in den Kram passen, ganz unbekümmert um die Herkunft der Daten und die ihnen zugrunde liegenden Konzepte.

Es gibt Fragen, auf die die amtliche Wissenschaft gar keine Antworten sucht. Und es gibt Fragen, die auch Lenin nicht gestellt hat. Wenn denn „die da Oben“ nicht mehr können – dann interessiert nicht mehr, was sie wollen. Aber was ist, wenn sie anders weitermachen können? Und die „Unterschichten“ sind sich auch nicht immer einig, was sie nicht mehr wollen. Danach, was die „Unterschichten“ können – das heißt also, was wir können – danach fragte Lenin erst dann, als sich die Hoffnungen auf den schnellen Sieg des Sozialismus nicht erfüllten. Die Kritik der politischen Ökonomie ist nicht nur „Aufklärung über den Gegner“, wie Korsch schrieb, sondern ebenso Aufklärung über uns selbst: Zur Orientierung im Gelände ist eine Landkarte nur hilfreich, wenn man die eigene Position mit ihr bestimmen kann. Dann kann man sich auch aufmachen, angrenzende, noch unbekannte Gebiete zu erforschen und zu verändern.

Sebastian Gerhardt ist freier Bildungsreferent und Autor in Berlin. Schreibt auf https://planwirtschaft.works und organisiert sich mit Kolleg:innen bei https://geschichte-wird-gemacht.org.