In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Das Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT) betreut seitdem das Projekt und sagt dazu: „Neben der Arbeiterbewegung und den sozialistischen und kommunistischen Erfahrungen sind es u.a. die Fragen der Umweltproblematik und vor allem der Frauenbewegung, die Eingang gefunden haben. Auch die Befreiungstheologie und die Fragen der postkolonialen »Dritten Welt« nehmen einen substanziell gefüllten, beträchtlichen Raum ein.“ Die Beiträge in der Nachfolge von Marx und Engels stehen mithin in einer Tradition des offenen, zukunftsfähigen Denkens.
Finanzmärkte (F) ist nach Energie, Krieg und Frieden, Lüge, Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme, Klimapolitik und militärisch-industrieller Komplex das zwölfte ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren. Dieser wiedergegebene Ausschnitt enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=f:finanzmaerkte zum Stichwort Finanzmärkte findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in mehrere Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)
E: financial markets. – F: marchés financiers. – R: finansovye rynki. – S: mercados financieros. – Autor: Jörg Huffschmid, in: HKWM 4, 1999, Spalten 535-548
Finanzmärkte entstehen überall dort, wo die vielfältigen Interessen von Kapitalanlegern und -nachfragern aufeinandertreffen, z.B. im Schalterraum einer Bank, auf der Börse, im elektronischen Handel mit Währungen oder im Büro einer Unternehmung, wenn ein neuer Gesellschafter seine Geschäftseinlage tätigt. – F erscheinen seit den 1980er Jahren in der öffentlichen Diskussion zunehmend als anonyme und allmächtige Subjekte, deren Funktion es ist, ökonomische Gesetze zu exekutieren. Sie beurteilen und testen wirtschaftliche Situationen und wirtschaftspolitische Maßnahmen, bestrafen bestimmte politische Entscheidungen und belohnen andere. Gegenüber den F ist Politik machtlos, sie muss sich bei Strafe des Scheiterns ihren Geboten anpassen. F treten so zunehmend an die Stelle demokratischer Diskussions- und Entscheidungsprozeduren. Sie sind – als reale Mystifikationen bestehender Klassen- und Herrschaftsverhältnisse – insofern Bestandteil des neoliberalen Projektes der Gegenreform, das seit Mitte der 1970er Jahre die Welt überzieht. […]
Hauptakteure auf den F sind die Finanzdienstleister: Geschäftsbanken, die Kreditgeschäfte auf eigene Rechnung betreiben und sich durch Eigenkapital, Einlagen und Kredite refinanzieren; Investmentbanken und Wertpapierhäuser, die als Vermittler zwischen Käufern und Verkäufern von Wertpapieren agieren, wobei diese Vermittlung sowohl über die Börsen als auch außerbörslich (over the counter, OTC) erfolgen kann; institutionelle Investoren, die als eigenständige Unternehmen Aktien oder Anleihen kaufen, also als Finanziers auftreten und sich auf verschiedene Weise refinanzieren (z.B. Versicherungen, die ihre Prämieneinnahmen in Vermögenstiteln anlegen; Pensionsfonds, die die Beiträge ihrer Mitglieder anlegen; Investmentfonds, die als Kapitalanlagegesellschaften das Vermögen ihrer Kunden anlegen und verwalten); Börsen als Einrichtungen, in deren Rahmen Ausgabe von und der Handel mit Wertpapieren nach bestimmten Standards erfolgt (Für manche Arte n von Finanzgeschäften, z.B. den Derivathandel oder die Übernahme von Unternehmen, überwiegt allerdings der unregulierte Handel.). Neben die traditionellen Präsenzbörsen mit dem Handel auf dem »Parkett« treten zunehmend elektronische Börsen, bei denen der Handel über zentralisierte Computernetze erfolgt. […]
F sind weiterhin sehr stark konzentriert. Auf die großen Finanzzentren in New York, Tokio, Hongkong, Frankfurt/M, London und Paris entfielen in den letzten Jahren zwei Drittel bis neun Zehntel des weltweiten Aktien- und Anleihehandels.
Wegen seiner großen großen Bedeutung und besonderen Verwundbarkeit ist der Finanzsektor insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 in starkem Maße durch nationale Struktur- und und Verhaltensregeln und durch Beschränkungen bzw. Regulierungen des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs politisch reguliert worden. Er wurde als eine Art öffentliches Gut betrachtet, dessen Funktionsfähigkeit durch staatliche Politik und zwischenstaatliche Vereinbarungen zu gewährleisten ist. Zu letzteren gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg das Bretton-Woods-Abkommen über ein internationales Währungsregime. Die Aufhebung dieses Regimes (1973) sowie die allmähliche Zurücknahme öffentlicher Regulierungen zugunsten einer stärkeren Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung macht seither einen wesentlichen Zug der F aus. […]
Die Entwicklung moderner F wird nicht durch die Nachfrage nach Finanzierungsmitteln, sondern durch das Angebot an überschüssigem Geldkapital getrieben. Mit diesem Wechsel im Antrieb der F geht auch ein Paradigmenwechsel der Wirtschaftswissenschaften einher, der zu einer neuen Stufe der realen Mystifikation von Klassen-, Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen führt. Nachdem die bürgerliche Vulgärökonomie in ihrer »trinitarischen Formel« (MEW 25, 822ff) die Produktionsfaktoren zur Quelle der Wertschöpfung erklärt hatte und in der Kreislauftheorie (Keynes 1936) der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital durch die Funktionstrennung zwischen Haushalten und Unternehmen als Konsumenten und Sparern auf der einen Seite und Investoren auf der anderen Seite ersetzt wurde, gibt es jetzt nur noch Vermögensbesitzer. Wirtschaft besteht in der Pflege des Vermögens und der Umgruppierung seiner einzelnen Bestandteile mit dem Ziel, die Gesamtrendite zu maximiere n. Nachdem die klassischen Theorien über die Schaffung von Wert und Mehrwert durch die keynesianischen makroökonomischen Kreislauftheorien ersetzt worden waren, folgte im Rahmen einer neuen konservativen Wendung deren Ablösung durch die neoliberale Portfoliotheorie als Modell von Wirtschaft.
[…] Da F in ihrer aktuellen Dimension, Dominanz und Fragilität einerseits keine sachnotwendigen Produkte kapitalistischer Entwicklung, andererseits jedoch schädlich für die gesamtwirtschaftliche und soziale Entwicklung sind, besteht die Möglichkeit der politischen Gestaltung. Langfristig geschieht dies am besten durch eine umfassende internationale wirtschaftspolitische Kooperation für Vollbeschäftigung, gerechte Einkommensverteilung und ökologischen Umbau, weil dies die Perspektiven für Finanzspekulation und Kapitalflucht weltweit unattraktiv macht. Kurzfristig können aber auch ökonomische oder administrative Maßnahmen der Finanzaufsicht (Begrenzung der Kreditvergabe und des Derivathandels) und Einschränkung der Kapitalmobilität (z.B. durch die Tobin-Steuer oder administrative Kapitalverkehrsbeschränkungen) wirksame Schritte zur Kontrolle der F sein.