Kipppunkte, Krieg und die Letzte Generation
Allein 636 Lobbyisten für Öl und Gas nahmen im November vergangenen Jahres an der 27. Uno-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich teil – mit „Erfolg“. Außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5-Grad-Ziels und vagen Zusagen für Almosen an die Opfer der Klimakatastrophe, brachte die Konferenz kein Umsteuern zuwege.
Weder der mit dem Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) ausgerufene Alarm, noch die Warnung des Uno-Generalsekretärs António Guterres, „Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle, – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, führte letztlich zu verbindlichen Resultaten. Das gastgebende, vom Westen unterstützte Militärregime tat zudem alles, um substantielle Ergebnisse zu verhindern. So wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert.
Deutschland bahnte erfolgreich Erdgaslieferungen aus Afrika an und auch in Katar, dem Gastgeber der nächsten Uno-Klimakonferenz, war man damit erfolgreich. Es scheint sich eine Allianz zwischen reichen Öl- und Gasförderstaaten und westlichen Industrieländern zu etablieren.
Fossile Konterrevolution in der Klimakrise
Die Welt erlebt derzeit eine Art Klima-Amoklauf mit ungebremsten Investitionen in fossile Brennstoffe und entsprechende Infrastrukturen. Die Europäische Union, die G7-Staaten und Australien versuchen zudem einen Preisdeckel für russisches Öl zu erzwingen, neuerdings auch für Ölprodukte wie Kerosin und Diesel, und setzen damit auch die Opec unter Druck. Der Westen versucht damit offenbar, nicht nur Putin in die Knie zu zwingen, sondern gleichzeitig auch ein neues Preiskartell zu installieren, um fossile Energie noch billiger zu machen. Anstatt eine globale CO2-Steuer und eine Verteuerung der fossilen Energie zu befördern, um die Emissionen zu senken, geht es um die Erhöhung der globalen Konkurrenzfähigkeit durch Verbilligung der Energiekosten, – Klimaschutz ade!
Im Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC heißt es aber: „Falls die globale Erwärmung über 1,5 °C hinausgeht, auch vorübergehend in Form eines Overshoots, dann werden eine Vielzahl menschlicher wie auch natürlicher Systeme zusätzlichen schwerwiegenden Risiken ausgesetzt sein. Abhängig davon, wie groß die Temperaturüberschreitung ausfällt oder wie lange sie andauert, werden manche Klimawandelfolgen eine zusätzliche Freisetzung von Treibhausgasen bewirken. Wieder andere Folgen werden unumkehrbar sein, selbst gesetzt den Fall, dass die Erwärmung später wieder verringert wird.“
Die Konzentration an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre steigt unverändert weiter, konstatierte die Weltorganisation für Meteorologie. Die 1,5-Grad-Grenze könnte schon in den nächsten fünf Jahren überschritten werden. Die Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft verweist auf eine aktuelle Studie, namens „Klima-End-spiel“, die sogar dem Weltklimarat vorhält, Kipppunkte im Klima- und Erdsystem zu vernachlässigen und die Risiken viel zu optimistisch einzuschätzen. Eine Erderwärmung um drei Grad gefährde möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit.
Eine andere neue Klimastudie hat mehr als 200 Forschungsberichte einbezogen, um abzuschätzen, wann Klima-Kipppunkte erreicht werden mit dem Ergebnis, dass die sich wechselseitig verstärkenden Rückkopplungen schon beginnen und bei über 1,5 Grad Erhitzung irreversibel werden.
In seinem jüngsten Buch „Countdown – Unsere Zeit läuft ab“ illustriert der Hamburger Meteorologe Mojib Latif, wie willkürlich wissenschaftliche Tatsachen an wirtschaftliche Interessen angepasst werden. Unter Beibehaltung der derzeitigen hinhaltenden Klimapolitik werde Deutschland sein Restbudget an CO2 in spätestens zehn Jahren ausgeschöpft haben. Eine Tatsache, die in klimapolitischen Debatten und Planungen bislang weitgehend ignoriert wird.
Wachstumspolitik im Klimanotstand
Selbst angesichts kippender Gewässer, geschädigter Wälder, sinkender Grundwasserpegel und massiver Ernteausfälle, hielt es die Bundesregierung bisher nicht für nötig, entschlossen gegen die Klimakrise vorzugehen. Klimaschutzmaßnahmen wurden verschoben oder gar rückgängig gemacht. So wurde die gesetzlich vorgesehene Erhöhung des nationalen CO2-Preises von 30 auf 35 Euro je Tonne um ein Jahr verschoben, die EEG-Umlage wurde abgeschafft.
Wenn eine Regierung mir grüner Beteiligung sogar die zaghaften klimapolitischen Maßnahmen der vorigen Regierung zurücknimmt und den Energieverbrauch zusätzlich subventioniert, scheint Klimaschutz keine Priorität zu haben.
Wirksamer Klimaschutz hat seinen Preis, doch die Klimakatastrophe kostet möglicherweise das Leben. Für als systemrelevant erachtete Strukturen war doch schon immer genug Geld da. Man erinnere sich an die Bankenrettung 2008/2009, an die Corona-„Wiederaufbau“-Pakete, an die Konjunkturspritze für die Rüstungsindustrie und das 200-Milliarden-Paket für Energiesubventionen vom Oktober. Ist die Begrenzung der Klimakatastrophe etwa nicht systemrelevant?
Die einzig hinreichend regulierungsfähige Macht, der Staat, befindet sich offenbar in der Hand kapitalhöriger Kräfte, die nicht die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem die des Großkapitals und der Großkonzerne vertreten, woran auch die Regierungsbeteiligung der Grünen bisher nichts geändert hat.
„Die Gewinnmaximierung um jeden Preis, ob zu Lasten der Umwelt oder des Staates ist asozial. Die Übernahme von Verantwortung durch das gerechte Teilen von Vermögen und Gewinnen, gehört unbedingt zu der nötigen kulturellen Revolution“, schreibt Mojib Latif.
Unter die Räder gekommen
Deutschland verfehlt gerade im Verkehrssektor nun schon seit Jahren die Klimaziele. Verkehrspolitik zugunsten des Autoverkehrs ist aber in mehrfacher Hinsicht lebensbedrohlich: wegen der vielen Unfälle, die oft die Schwächsten, wie die Radfahrer, am schwersten treffen, aber auch wegen der Gesundheitsfolgeschäden durch Lärm und Feinstaub – so sterben in Europa jährlich etwa 400.000 Menschen an den Folgen des Autoverkehrs – und wegen der verheerenden globalen Klimafolgen. Allein die jährlichen Staus in Deutschland reichen 40 mal um den Erdball, doch eine konsequente Förderung der Bahn und der Öffentlichen, sowie Tempo 100 auf Autobahnen sind im Autoland Deutschland immer noch tabu, von den eigentlich nötigen Fahr- und Flugverboten ganz zu schweigen.
Die EU hat sich zu Emissionsreduzierungen um 50 Prozent bis 2030 und zu Null Emissionen bis 2050 verpflichtet, Deutschland zu 65 Prozent bis 2030 und zu Null Emissionen bis 2045, was zwar völlig unzureichend ist, aber dennoch die schnellstmögliche Einführung emissionsarmer Energie- und Verkehrssysteme erfordert.
Wenn die EU und Deutschland die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens wirklich ernst nehmen würden, dann hätten sie längst beginnen müssen, massiv Energie einzusparen und sich vom motorisierten Individualverkehr zu verabschieden.
Geld für einen günstigen oder gar kostenlosen öffentlichen PersonenNahverkehr (ÖPNV) wäre genug da. Fossile Energie und klimazerstörender Verkehr werden nach wie vor hoch subventioniert. Auch eine wirksame CO2-Steuer könnte zur Finanzierung des ÖPNV beitragen.
Die Gegenwart verbraucht die Zukunft
Die Letzte Generation verteidigt die Rechte und Ansprüche der Jungen und der kommenden Generationen, die gerade auf dem Altar der Gegenwartsinteressen und des Profits geopfert werden. In einem Brief der Aktivist:innen vom November an die Adresse der Bundesregierung heißt es:
„Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche nicht alles tun, was möglich ist, um uns vor dem Klimakollaps zu schützen. Die Landwirtschaft ist weiterhin nicht nachhaltig, der Verkehrssektor wird nicht umgebaut, gutes Essen wird weiterhin weggeworfen, es wird neue fossile Infrastruktur gebaut. (…) Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche in diesem Land nicht einmal anstreben, das Notwendige zu tun, um diesen Kollaps des Klimas zu verhindern.“
Die Berechtigung dieser Vorwürfe hatte vor zwei Jahren bereits das höchste deutsche Gericht in seinem Beschluss zum Klimaschutzgesetz von 2021 erkannt: „Grundrechte sind aber dadurch verletzt, dass die bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Der Gesetzgeber hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt.“
Die Politik zu Lasten der kommenden Generationen beruht außerdem auf der Spekulation, künftig riesige Mengen CO2 aus der Atmosphäre zurückholen und die Temperaturen wieder senken zu können. Die leichtfertige Inkaufnahme des Überschreitens der Temperaturgrenzen, die ja gar nicht zeitweilig sein kann, ist unverantwortlich und kommt einem Todesurteil gleich. Nach Erreichen von Kipppunkten und einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung gibt es kein Zurück.
Fragt sich, welches Gericht die Regierungshandelnden zur Verantwortung ziehen wird für die andauernde Verletzung internationalen und nationalen Rechts und für das wahrscheinlich größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte.
Derzeit werden die Klimaschützer, die auf diese Rechtsverletzungen und die drohende Gefahr aufmerksam machen, bestraft oder sogar in Vorsorgehaft genommen.
Uno-Chef Guterres stellte klar: „Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind diejenigen, die die Produktion von fossiler Energie weiter erhöhen“ – und nicht schnellstens stark reduzieren, wie es nötig wäre und auch rechtlich vorgeschrieben ist.
Konzerne und großes Geld nehmen einen übermäßigen Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsprozesse. Klimaschutz zu realisieren, bedeutet auch Schutz und Ausbau der Demokratie gegen den illegitimen Zugriff mächtiger Minderheiten. Klimaschutz und Demokratie werden im Moment zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf stören.
Bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Klage des BUND gegen die Bundesregierung Erfolg hat und zum Umsteuern zwingt.
Endspiel
Wie ernst ist ein Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen zu nehmen, der vor allem die Kohle meint, während der Westen sich neue Erdgasquellen erschließt, auch mit extrem klimaschädlichem Fracking? Und was ist von einem westlichen Klimaklub zu halten, der seine Mitglieder durch einen CO2-Grenzsteuerausgleich schützt, nachdem er zuvor seine emissionsintensive Produktion ausgelagert hat?
Auch Deutschland ist längst klimapolitisch unglaubwürdig, mit seiner Verkehrspolitik, seinen Subventionen fossiler Brennstoffe, seiner Laufzeitverlängerung für Kohle- und Atomkraftwerke, seiner Aufrüstung, der Bremse für die eh viel zu geringe CO2-Steuer und seinen weltweiten Einkaufstouren fossiler Brennstoffe. Die Bundesregierung will das Problem mit dem beschleunigten Ausbau der Erzeugung erneuerbarer Energien lösen, doch die können maximal ein Drittel des derzeitigen viel zu hohen Energieverbrauchs abdecken.
Im Ausland, auch in der EU, wurde zu Recht kritisiert, dass es bei dem 200-Milliarden-Euro-Subventionspaket keineswegs um eine energetische Notlage geht, sondern um Kostensenkungen für die deutsche Wirtschaft, um deren Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen.
Der Überkonsum und die globalisierten kapitalistischen Ausbeutungsstrukturen zerstören die Biosphäre und die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen. Egal, wer das Endspiel um Macht, Märkte, Rohstoffe und Energie gewinnt, wir werden letztlich alle Verlierer sein. Denn die eigentlich relevante Partie um das System Erde und das Klima geht gerade krachend verloren – ohne Chance auf eine Revanche. Die Klimakatastrophe wird irreversibel sein und hat wahrscheinlich jetzt schon das Stadium der Selbstverstärkung erreicht.
Eine Politik des Friedens
Eine wirksame, globale Klimapolitik ist nicht möglich, wenn jede Regierung nur den gegenwärtigen Vorteil ihres Landes sucht und vor allem der reiche Westen seine Gewinnerposition bewahren will. Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will, wie wir gerade erleben müssen.
Es ist höchste Zeit, zu erkennen, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt auf die irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen hinausläuft und nur Frieden untereinander und Frieden mit der Natur eine dauerhaft mögliche Lösungen sind.
Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.
Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe und eines finalen Krieges kann keine Lobbypolitik für Wirtschafts- und Finanzinteressen sein; sie muss ständiges Wachstum als Krankheit erkennen und benennen; sie braucht den Mut zur unbequemen Wahrheit, die Weitsicht, jetzt für Morgen zu handeln; sie muss Gerechtigkeit als Voraussetzung jeder Lösung begreifen und Weniger als Mehr; sie braucht eine starke vernunftgeleitete Führung, neue Institutionen und Bündnisse; sie muss den Glauben an höhere Ziele als Geldvermehrung und Konsum erneuern und die Menschen begeistern und aktivieren für die höchsten Ziele: den Kampf für den Fortbestand des Lebens, für Frieden und für die Verhinderung der Klimakatastrophe.
Der Sinn des Lebens ist, dass Leben weitergeht. Wenn wir das vergessen, werden wir zu Dienern des Todes und sind nicht mehr als Teil eines Krebsgeschwürs, das nicht einmal weiß, dass das Ende seines Wirtskörpers auch sein eigenes Ende bedeutet.
Letzte Generation,letzte Chance
Mich erinnert die gegenwärtige Situation an die Endzeit der DDR, als sich gleichfalls eine Machtelite an nicht zukunftsfähige Strukturen klammerte. Auch damals waren es vor allem junge Menschen, die für Demokratisierung und Reform aktiv wurden und sich die Freiheit nahmen, über ihre Angelegenheiten mit zu entscheiden.
Sie legten den Finger in die Wunde und zwangen das verkrustete System und jeden Einzelnen, sich zu bewegen.
Auch heute fordern junge Menschen notwendige Veränderungen. Sie haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie mit friedlichen Mitteln auf die Rechtsverletzungen der Mächtigen aufmerksam machen und gegen die Zerstörung ihrer Zukunft protestieren.
Es braucht aktive Solidarität mit den mutigen Klimaschützern. Wir sind die letzte Generation, die die Klimakatastrophe noch verhindern kann, sagte einst Barack Obama.
Während sie im November in Vorsorgehaft saßen, schrieben 13 Aktivist:innen von Letzte Generation: „Wenn wir die Chance zum Handeln jetzt verstreichen lassen und in zwei bis drei Jahren klar ist, dass wir die kritische Grenze überschreiten werden und die Erderwärmung nicht mehr auf ein für uns lebensfreundliches Maß begrenzen können, dann werden wir nicht nur unsere Lebensgrundlage verlieren, sondern auch unsere Hoffnung und Menschlichkeit. (…) Wir sind friedlich und entschlossen und wir stellen uns gegen eine Normalität, die nicht länger sein darf. Wir haben uns entschieden: Lieber sind wir Straftäter vor dem Gesetz als mitschuldig am größten Verbrechen der Menschheit. Und wir bitten euch: Schaut hin und entscheidet auch ihr euch für das Leben.“
Jürgen Tallig lebt als Autor und Klimaaktivist in Berlin und betreibt den Klima-Blog Earthattack. Er war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig.
Weitere Informationen: https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com/