Kriegsfolge Entwestlichung

Ein Blick über den transatlantischen Tellerrand

Die Welt bricht nicht östlich von Białystok und südlich von Ceuta ab; und auch jenseits von San Diego oder Tucson gibt es noch menschliche Gemeinschaften und gesellschaftliche Entwicklungen. Folgt man ausschließlich den Medien hierzulande, vermeint man sich allerdings in Zeiten zurückversetzt, als die Erde noch als Scheibe wahrgenommen wurde.

Dem herrschenden Weltbild entsprach die Kleinheit des gedanklichen Radius. Einzig vom Papst auserwählte Bischöfe waren berechtigt, die Wahrheit zu verbreiten. Damals diente ihnen die Kanzel als Ort der Verkündigung; die heutigen Hohepriester:innen führen statt Gott ebenso wenig verständliche Werte im Mund, um die Gläubigen bei der Stange zu halten. Die Engführung des aktuellen Meinungskorridors besorgt eine bunt aufgemachte Medienschar, die peinlich darauf achtet, dass nicht wahrgenommen wird, was östlich von Białystok oder südlich von Ceuta gedacht, diskutiert und publiziert wird.

Mitte Februar 2023 schnürt die EU-Kommission das 10. Sanktionspaket gegen Russland, wobei die Zählweise erst mit Februar 2022 beginnt, obwohl die Europäische Union sowie die USA bereits seit April 2014 eine Embargopolitik gegen russische Firmen betreiben. Der seitdem tobende beispiellose Wirtschaftskrieg soll die Russische Föderation in die Knie zwingen.

Sanktionen bringenVertrauensverlust

Als Aufhänger für die versuchte Isolierung des weltgrößten Landes dient den Granden in Brüssel und Washington der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Damals, am 24. Februar 2022, plante Moskau die Eingliederung des Donbass in die administrativen Strukturen Russlands und einen Regimewechsel in Kiew. Letzteres scheiterte kläglich, während der Kampf um den Donbass, nicht zuletzt mit Hilfe der örtlichen russischen Bevölkerung auf der Seite Moskaus, in sein neuntes Jahr geht.

Dass die russische Intervention in die Ukraine, so eindeutig sie auch abzulehnen ist, derartige militärische, wirtschaftliche und kulturelle Reaktionen im westlichen Orbit auslöst, kann nur mit doppelten Standards im geopolitischen Ringen erklärt werden. Denn wegen der geschätzten eine Million Toten, die die US-amerikanische Militärintervention im Irak 2003 und die darauf folgende Besatzung gekostet hat, hat kein Staat der Welt zu ähnlichen wirtschaftlichen Strangulierungsversuchen gegriffen; nicht einmal Russland, Frankreich oder Deutschland, die den US-Angriff verurteilten. Auch die völkerrechtswidrige Bombardierung Jugoslawiens 1999 durch die Nato, der zwanzigjährige US-geführte Afghanistan-Krieg (2001-2021) oder der saudische Einmarsch im Jemen 2015 haben keine mit den anti-russischen Maßnahmen vergleichbare Reaktionen irgendwo in der Welt ausgelöst.

Russlands Präsident Wladimir Putin analysierte dieses Messen mit zweierlei Maß in seiner Rede vor der 10. Internationalen Sicherheitskonferenz in Moskau am 16. August 2022: „Die USA und ihre Vasallen mischen sich rücksichtslos in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten ein: Sie organisieren Provokationen, Staatsstreiche und Bürgerkriege. Durch Drohung, Erpressung und Druck versuchen sie, unabhängige Staaten zu zwingen, sich ihrem Willen unterzuordnen und nach ihnen fremden Regeln zu leben. Und all das geschieht mit dem einen Ziel, die eigene Dominanz aufrechtzuerhalten, ein Modell, das es ermöglicht, die ganze Welt auszusaugen.“1 Dass die russischen Motive für den Einmarsch in die Ukraine dem hier angesprochenen nicht ganz unähnlich sind, kam bei der Moskauer Sicherheitskonferenz sicherlich nicht zur Sprache.

Einen Wirtschaftskrieg2 gibt es jedenfalls nur gegen Russland. „Russland ruinieren“, lautete dafür die Formel, die die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bereits anlässlich des sogenannten ersten Sanktionspakets am 25. Februar 2022 ausgab. Es sollte schnell und schmerzlos (für die EU), schmerzvoll (für Russland) gehen. So gut wie alle westlichen Institutionen wie IWF oder Großbanken prognostizierten damals einen Einbruch des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2022 im zweistelligen Bereich. Tatsächlich gab es nur einen BIP-Rückgang von 2,1 Prozent. Goldman Sachs wiederum prognostizierte, dass Moskau nach dem US-Energieembargo gegen Russland und den schrittweisen Importverboten für russisches Gas und Öl seitens der EU keine Abnehmer für seine Rohstoffe finden würde, auch deshalb, weil der Ausschluss aus dem Swift-Zahlungssystem einen Verkauf verunmöglichen würde. Auch hier erwies sich die Prognose als Irrtum. Allein In dien steigerte seine Öl-Importe aus Russland bereits in den ersten Monaten der westlichen Sanktionen um 900 Prozent, freilich von niedrigem Niveau aus.3

Zum Stichtag 5. Februar 2023, an dem die Länder der G7, der EU sowie Australien willkürliche Preisobergrenzen für russisches Erdöl und Erdgas in Kraft setzten, meldete einer der weltgrößten Rohstoffhändler, das niederländische Unternehmen Trafigura, den Grund, warum eine solche Maßnahme nicht funktionieren kann. Der Grund besteht in einer Schattenflotte aus zu diesem Zeitpunkt 600 Öltankern, die Russland in Windeseile zusammengestellt hatte. Laut Trafigura macht diese Schattenflotte, die dazu da ist, an Embargos und Preisfestsetzungen vorbeizuschippern, 27 Prozent der weltweiten Öl-Tankerkapazitäten aus.4

Einen seltenen Blick auf das tatsächliche Funktionieren oder Nichtfunktionieren der Westsanktionen bot die Wiener Tageszeitung Die Presse am 2. Februar 2023. Unter der Überschrift „Wie Russland trotz Sanktionen alles importiert“ erfährt man von der alten Weisheit, nach der Wirtschaftssanktionen meist umgangen werden und bloß zur Verteuerung der Güter beitragen. Dies konnte man bereits im Klassiker des schwedischen Ökonomen Gunnar Adler-Karlsson zur westlichen Embargopolitik gegen die Sowjetunion aus dem Jahr 1971 nachlesen.5

Den kurzfristigen Absturz des Rubel Ende Februar 2022 fing die russische Zentralbank bereits am 11. März 2022 auf. Mehr noch: Die russische Währung ging gestärkt aus der Krise hervor. Während der Rubel vor dem Einmarsch bei 85 für einen Euro notierte, waren es Anfang Februar 2023 76 Rubel. Auch bei den russischen Importen liegt man ein Jahr nach dem SWIFT-Ausschluss der führenden russischen Banken mit 346 Milliarden Dollar nur neun Prozent hinter dem Jahr 2021.6 Das liegt vor allem daran, dass – laut einer Studie des US-Unternehmens Silverado Policy Accelerator – Staaten wie China, die Türkei und Kasachstan ihre Exporte nach Russland massiv gesteigert haben, indem sie zu Handelsdrehscheiben für den Weiterverkauf nach Russland geworden sind. China verzeichnet 2022 ein Export-Plus in die Russische Föderation gegenüber dem Vorjahr von 12 Prozent, Kasachstan steigerte seine Russland-Exporte um 24 Prozent und die Türkei um 54 Prozent. Möglich wurd en diese internationalen Drehscheiben für Russland-Geschäfte durch ein bereits am 30. März 2022 von der Duma verabschiedetes Gesetz, nach dem Originalprodukte ohne weitere Zustimmung der Hersteller nach Russland eingeführt werden dürfen; dies freilich – die Marktwirtschaft funktioniert in Sanktionszeiten perfekt – zu höheren Preisen.

Auf diese Weise kommen West-Pkw, Werkzeugmaschinen, technische Anlagen und vieles mehr auf den russischen Markt. Auch an besonders begehrten Halbleitern und Mikrochips mangelt es russischen Unternehmen kaum. Dies musste auch das britische militärische Forschungsinstitut Royal United Services Institute for Defence and Security Studies mit Verwunderung feststellen. Viele dieser High-Tech-Komponenten stehen bereits seit 2014 auf den schwarzen Listen der EU und der USA. Laut Reuters stammt ein Drittel der eigentlich verbotenen elektronischen Bauteile aus West-Importen.

Das beabsichtige Niederringen Russlands via Wirtschaftskrieg ist also im Scheitern begriffen. Stattdessen tritt der gegenteilige, unerwünschte Effekt in den Vordergrund. Denn beispiellose Sanktionen wie das Einfrieren von 300 Milliarden Dollar an im Westen gelagerten russischen Zentralbankgeldern sowie die laufende Debatte über deren Konfiskation und Enteignung7, der Ausschluss vom Swift-System, die Enteignung von Tausenden, mehr oder wenig beliebig ausgesuchten Russen und die Festsetzung ihrer Vermögenswerte, Schiffe oder Immobilien machte überall auf der Welt politische und wirtschaftliche Eliten hellhörig. Wie im Zeitraffer sehen sie, dass nichts mehr vor dem Zugriff der transatlantischen Allianz sicher ist. Bereits morgen kann das Sanktionsregime saudische Prinzen, übermorgen eine von einer Linksregierung kontrollierte Staatsbank und die Woche darauf jeden Manager oder Journalisten treffen, der auf eine Sanktionsliste kommt, weil er mit Russland oder dem näch sten auserwählten Feind des Westens Geschäfte gemacht oder über deren Politik „falsch“ berichtet hat. Einen ersten – damals gescheiterten – Vorgeschmack lieferte das EU-Parlament im Mai 2022, als es forderte, den früheren deutschen Kanzler Gerhard Schröder auf die Sanktionsliste zu setzen. Mit einem Mitglied der Russland-freundlichen Biker-Gruppe „Nachtwölfe“, dem Slowaken Jozef Hambalek, landete am 21. Juli 2022 tatsächlich erstmals ein EU-Staatsbürger auf der Sanktionsliste, was zum Einfrieren seiner Vermögenswerte führte.

Das Glasjew-Manifest

Die Welt außerhalb der transatlantischen Blase ist alarmiert. Ihre Reaktionen sind dementsprechend. Der bekannte russische Ökonom und einflussreiche Präsidentenberater Sergej Glasjew veröffentlichte bereits im Mai 2020 ein Manifest mit dem Titel „Wie man das Dollar-Joch abwirft“.8 Darin spricht er sich gegen die Verwendung des US-Dollars als Zahlungsmittel beim Außenhandel und bei Investitionstransaktionen aus und fordert die Regierung auf, im internationalen Zahlungsverkehr schnellstmöglich auf den Rubel zu setzen. Mit dem Verkauf aller Schuldtitel und Wertpapiere, die in US-Dollar notieren, so Glasjew weiter, sollten Aktiva in Gold oder Reserven in Währungen von Staaten der „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ angelegt werden, wobei Glasjew für Russland eine Erhöhung des von der Zentralbank gehaltenen Anteils der Goldreserven von 20 auf 55 Prozent vorschlägt. Auch müsse die Kreditaufnahme in Ländern, die Wirtschaftssanktio nen gegen Russland verhängt haben – und das waren seit 2014 die EU, die USA, Kanada und Australien – für staatlich kontrollierte russische Unternehmen beschränkt werden. Des Weiteren dürfen, Glasjew zufolge, russische Unternehmen keine Investitionen mehr in Wertpapiere tätigen oder Vermögenswerte in Offshore-Länder transferieren, wenn diese von den USA oder anderen Sanktionsländern kontrolliert werden. Und für den täglichen Geschäftsgang schlägt der Ökonom – bereits zwei Jahre bevor US-amerikanische Zahlungsdienstleister wie Visa und Mastercard dem Sanktionsregime folgen – vor, ausschließlich das Zahlungssystem „Mir“ der russischen Zentralbank zu verwenden. Dieses war pünktlich zum Sanktionsstart 2014 gegründet worden. Er fordert zudem die Verschränkung von „Mir“ mit der chinesischen Karte „UnionPay“.

Und tatsächlich hat die Kreditkarte „Mir“ den russischen Zahlungsmarkt nach dem Rückzug der Amerikaner erobert. Die georgische Finanztechnik-Expertin Anna Kuzmina fasst die Wirkung der Westsanktionen für den russischen Finanzsektor zusammen: „Zweifellos sind die Auswirkungen der Sanktionen auf das Bankwesen und die Fintech-Branche in Russland kolossal. Auf der globalen Isolationsebene haben sie sich bewährt. Im Inland scheinen sie jedoch das Gegenteil bewirkt zu haben, denn sie haben es dem Fintech- und Bankensystem ermöglicht, sich unter Nutzung der neuesten Technologien und neuen Verbrauchergewohnheiten neu zu formieren. Die russische Fintech-Branche ist wiedergeboren und wird sich auf eine einzigartige und innovative Weise weiterentwickeln, die ihresgleichen sucht. Es sei denn, die folgende Rezession und das staatliche Monopol machen es mit ihren eigenen Händen zunichte.“9

Glasjew war der Wirklichkeit voraus und bereitete mit seinen Vorschlägen den Boden für eine nachhaltige De-Dollarisierung, die mittlerweile weit über die Achse Russland-China hinausgeht. Sie stellt eine späte, aber beeindruckende Korrektur gegenüber dem Spruch des früheren US-Finanzministers John Conally dar, der 1972 vollmundig zur Rolle des US-Dollars erklärt hatte: „Er ist unsere Währung, aber ihr Problem“. 10 Nach den US-Aggressionen gegen den Irak, Libyen und Venezuela, die nicht zuletzt um die Aufrechterhaltung des Dollars als weltweites Zahlungsmittel geführt wurden, dürften sich die US-Strategen mit dem (Wirtschafts)Krieg gegen Russland verschätzt haben. Denn die Weltökonomie, die bisher aus US-Sicht darin bestand, dass über die dort aufgestellte Dollar-Druckmaschine der Greenback via militärische Drohung aller Welt aufgezwungen wurde, um dafür Produkte in die USA zu liefern, die mit durch US-Staatsanleihen gedeckten Dollars  bezahlt wurden; diese Art von Weltökonomie neigt sich rasant dem Ende zu. Der Krieg um den Donbass beschleunigt den Niedergang des „amerikanischen Jahrhunderts“.

Die chinesisch-russisch-indische Achse

„America ist back“. Mit diesem Schlachtruf zog der 46. US-Präsident, Joe Biden, Anfang 2021 in den geopolitischen Ring. Bereits in seiner ersten programmatischen Rede vom 4. Februar lokalisierte er die Hauptfeinde Washingtons. „Die amerikanische Führung“, so Biden, „muss in diesem Moment (…) den wachsenden Ambitionen Chinas sowie der Entschlossenheit Russlands, unsere Demokratie zu schädigen, entgegentreten.“ Insbesondere hatte er China im Visier, wenn er fortfuhr: „Wir werden Chinas wirtschaftlichem Missbrauch entgegentreten (…) und seine Angriffe auf die Menschenrechte, das geistige Eigentum und die Weltordnungspolitik zurückdrängen.“11

In der Wirtschaftskraft des Reichs der Mitte sehen die US-Eliten – zurecht – die größte Bedrohung. Wenn sich diese mit der Militärmacht Russland paart, wird der transatlantische Traum zum Alptraum. Genau dies geschieht vor unseren Augen. Moskau rückt Schritt für Schritt in Richtung eurasische Zukunft. Das Portfolio der russischen Zentralbank füllt sich zunehmend mit chinesischen Staatsanleihen. Bereits Anfang 2022 sollen diese umgerechnet 140 Milliarden US-Dollar betragen haben12, ein Jahr später verdoppelte sich deren Volumen.13 Auch als Kreditgeber rückt China in die durch die Westsanktionen frei gewordenen Stellen vor. Mittlerweile schätzen US-Analysen, dass bereits die Hälfte aller Großkredite für russische Unternehmen von chinesischen Banken stammen. Die in Washington beheimatete Denkfabrik Atlantic Council14 gibt zur zunehmenden Abhängigkeit Russlands von chinesischem Geld unter der Überschrift „Das russische Finanzwesen orient iert sich nach Osten“ („Russian finance pivots East“) einen eindrucksvollen Überblick und kommt zu dem nicht unrealistischen Schluss, dass Russland ökonomisch zum chinesischen Juniorpartner mutiert.

Eine neue Weltordnung ist dabei, sich zu manifestieren. Auch in ihr gibt es Abhängigkeiten, aber sie baut sich jenseits des Dollar-Raumes auf – mit einer starken chinesisch-russischen Achse. Die Führer des territorial größten und des bevölkerungsmäßig stärksten Staates haben im November 2022 beschlossen, das Geschäft mit den wichtigsten Handelsgütern – allen voran dem russischen Erdöl – künftig in den beiden Landeswährungen abzuwickeln. Auch die Türkei und Indien nutzen die Gunst der Stunde und de-dollarisieren ihren internationalen Handel. Ankara und Neu-Delhi haben sich darüber verständigt, russisches Öl und Gas auf Rubel-Basis zu erwerben.15 Wie und ob das Problem im russisch-indischen Handel gelöst werden kann, der unter der schwachen und sehr volatilen indischen Rupie leidet, wird die Zukunft weisen.

Länder wie Indien und Saudi-Arabien springen jedenfalls auf den Zug der De-Dollarisierung auf. So sank der Anteil des US-Dollars im chinesisch-indischen Zahlungsverkehr bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine von 73 auf 50 Prozent; der Yuan wird zur bestimmenden Währung Eurasiens.16 Auch Korea und Malaysia folgen dieser Entwicklung.17

Dem Wechsel vom Dollar zu einem vornehmlich aus Yuan und Rubel bestehenden Währungskorb entspricht auch eine Änderung der Handelswege. Bereits im September 2013 stellte der chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping die „Neue Seidenstraße“ vor. Das damals mit einer Größenordnung von umgerechnet 1000 Milliarden US-Dollar an Investitionen angekündigte Infrastruktur-Projekt stellt den bisherigen Welthandel – Schritt für Schritt – auf den Kopf. Denn die Haupthandelswege der „Neuen Seidenstraße“ führen in mehreren landseitigen Verbindungen quer durch den eurasischen Doppelkontinent. Der Beherrschung der Weltmeere, die das britische Empire hat entstehen lassen und die auch das US-amerikanische Jahrhundert dominiert, setzt Peking damit eine Alternative entgegen, ohne freilich auf den Handel über das Meer zu verzichten.

Neue Wirtschaftskorridore zwischen China und Europa inklusive der Errichtung dazugehöriger Energie-Infrastruktur mit digitaler Begleitung führen über Zentralasien, Iran, Kasachstan und Russland bis ins weißrussische Minsk und weiter nach Berlin und Westeuropa. Sie bleiben damit von Sanktions- und Boykottmaßnahmen der Transatlantiker unberührt und umgehen auch Nadelöhre wie den Suez-Kanal. Dazu schickt sich Russland gerade an, die nördliche Seeroute entlang der Arktis ganzjährig schiffbar zu machen. Eisbrechende Öltanker wie die Vasily Dinkov sind im Oktober 2022 mit einer vorerst relativ kleinen Ladung Rohöl von Murmansk in Richtung China in See gestochen, um dort zwei Wochen später im Hafen von Rizhao zu entladen.18 Die Erderwärmung macht es möglich, diese kürzeste Route zwischen Europa und Ostasien in Zukunft verstärkt nutzen zu können. Die Fahrzeit von der russischen Ostsee in die chinesische Provinz Shandong verringert sich damit  um die Hälfte und das Risiko der Aufbringung russischer Tanker durch die US-Marine wird auf ein Minimum gesenkt. Viktor Katona, der leitende Analyst von „Kpler“, einem der weltgrößten Anbieter von Logistiklösungen für Rohstoffmärkte, meint zum Stellenwert des neuen russischen Seewegs in Bezug auf die westlichen Sanktionen: „Die nördliche Seeroute wird im Sommer von entscheidender Bedeutung sein. (…) Europa ist bereits abgeschottet. Wenn die Europäer nicht kaufen, warum sollten die russischen Schiffe das ganze Universum umrunden, wenn sie die Nordseeroute nutzen können, um in 20 Tagen nach China zu gelangen?“19

Die Zurückdrängung des transatlantischen Raumes im Weltsystem ist bereits seit geraumer Zeit spürbar. Mit den sich ändernden geopolitischen Verhältnissen und geografischen Möglichkeiten verlieren auch die Werte des Westens an Bedeutung. Der Krieg um die Ukraine beschleunigt diesen Prozess. Und er birgt die Gefahr, dass das Imperium im Abstieg, die USA, Europa in seinem Todeskampf mit in den Abgrund reißt.

Unter der Herausgeberschaft von Hannes Hofbauer (gemeinsam mit Stefan Kraft) erscheint Ende März das Buch „Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ (Promedia Verlag)

Anmerkungen:

1 http://kremlin.ru/events/president/news/69166; übersetzt von Thomas Röper:   https://www.anti-spiegel.ru/2022/putins-abrechnung-mit-den-westlichen-globalistischen-eliten-im-o-ton/ (3.2.2023).

2 Vgl. dazu: Hannes Hofbauer: Seit Generationen im Wirtschaftskrieg: https://www.lunapark21.net/seit-generationen-im-wirtschaftskrieg/ (3.2.2023).

3 https://www.businessinsider.de/politik/wall-street-sagte-russlands-wirtschaft-einbruch-voraus-grafiken-zeigen-ein-anderes-bild-b/ (3.2.2023).

4 https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-02-03/trafigura-sees-7-of-oil-product-tankers-now-in-shadow-fleet; https://rtde.site/international/161965-handelsriese-trafigura-schattenflotte-fuer-russisches-oel-erreicht-600-schiffe/ (5.2.2023).

5 Gunnar Adler-Karlsson: Der Fehlschlag. 20 Jahre Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West. Wien 1971.

6 Die Presse vom 2. März 2023.

7 Anfang Februar 2023 fand die erste Enteignung eines russischen Oligarchen in den USA statt. US-Justizminister Merrick Garland verkündete im TV-Sender CNN, das konfiszierte Vermögen von 5,4 Millionen Dollar des russischen Millionärs Konstantin Malofejew an Kiew „zur Unterstützung des ukrainischen Volkes“ zu überweisen. Siehe: Kurier vom 5. Februar 2023.

8 https://zavtra.ru/blogs/kak_svergnut_igo_dollara (3.2.2023).

9 https://www.finextra.com/blogposting/23521/what-happened-to-russian-fintech-after-the-global-cancelling (übersetzt mit DeepL, 5.2.2023).

10 https://de.wikipedia.org/wiki/John_Connally (3.2.2023).

11 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/02/04/remarks-by-president-biden-on-americas-place-in-the-world/ (5.2.2023).

12 https://rtde.site/international/134154-russlands-scheidung-vom-westen-hat-es-in-die-arme-chinas-getrieben/

13 https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/702125/Russlands-Staatsfonds-verdoppelt-Gewichtung-von-Gold-und-Renminbi (5.2.2023).

14 https://www.atlanticcouncil.org/blogs/econographics/russian-finance-pivots-east/ (5.2.2023).

15 https://tass.com/economy/1490361; https://www.russia-briefing.com/news/russia-india-trade-prospects-in-2023-the-emergence-of-the-ruble-and-rupee-in-asian-trade-flows.html/(19.1.2023)

16 https://www.pressenza.com/de/2022/12/de-dollarisierung-brics-forcieren-zahlungsverkehr-in-nationalen-waehrungen-teil-2/ (5.2.2023).

17 Lee, I.H. & Park, Y.C.: Use of National Currencies for Trade Settlement in East Asia: A Proposal. Siehe: https://think-asia.org/handle/11540/1236 (19.1.2023). Siehe auch: https://countercurrents.org/2023/01/can-russia-and-india-replace-american-dollar-in-bilateral-trade/ (19.1.2023).

18 https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-11-08/russia-sends-oil-thousands-of-miles-through-arctic-circle-again (11.2.2023).

19 https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/701051/Arktis-Seidenstrasse-Russland-oeffnet-neue-Route-fuer-den-OElexport (11.2.2023).

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