„…können wir nur selber tun!“

Zur Dialektik des Handelns

In vier LP21-Ausgaben haben wir Bedeutung und Wirkung des revolutionären Theoretikers und praktizierenden Kapitalisten Friedrich Engels beleuchtet. Der letzte Quartalsbericht erscheint fast genau 200 Jahre nach dessen Geburtstag am 28. November 1820.

Dass der Sozialismus komme wie eine vorausberechenbare Sonnenfinsternis, ist nicht Aussage und Gegenstand von Friedrich Engels Arbeit über die Dialektik der Natur.

In einer Artikelserie im Leipziger Vorwärts hatte er sich 1878/79 mit Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft auseinandergesetzt. Die Vorarbeiten zu dem Text, die als eigene Broschüre und als Text- Auszug mit dem Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft erschienen, wurden erstmals 1925 unter dem Titel Dialektik der Natur veröffentlicht und 1971 als Band 20 der Marx-Engels-Werke.

Es gibt kaum eine Schrift von Marx und Engels, die größeren Missdeutungen und Missbräuchen ausgesetzt ist als diese Darlegung der von ihnen „vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung“ (MEW 20, S. 8).

Aus der Erfahrung der Französischen Revolution und der zeitgenössischen Naturwissenschaft zogen Marx und Engels den Schluss, dass „die Natur“ eben auch eine Geschichte hat. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), an dessen „Bewegungsgesetzen“ sie sich orientierten, habe den Fehler begangen, „der Natur keine Entwicklung in der Zeit (zuzuerkennen) … kein Nacheinander, sondern nur ein Nebeneinander.“ (MEW 20, S.12)

In der Kritik der Religion, orientiert an Ludwig Feuerbach, hatten Marx und Engels, wie viele andere, die Vorstellung eines Schöpfergottes kritisiert, der die Welt nach Plan wie ein Handwerker in sechs Tagen erbaut und am siebten Tag ruht und sieht, dass es gut war. Um 1844 hatten Marx und Engels in der Religion den „Seufzer der bedrängten Kreatur“, das „Opium des Volkes“, die an den Himmel geworfenen Schwierigkeiten der Gesellschaft auf Erden entdeckt, deren Entwicklung sie zu erforschen begannen.

Mit Gott war auch die Betrachtung der Natur als ein festes, immerwährend gleiches System verworfen und die auf Hegel fußende Sicht verwandelt übernommen worden, die Natur mache in ihrer Bewegung qualitative Sprünge, aus denen neue, vorher nicht dagewesene Gesetzmäßigkeiten hervorgehen. Im „Anti-Dühring“, wie das Werk auch verkürzend genannt wird, führt Engels die Verlangsamung der Planetendrehung an, um zu zeigen, dass das Gravitationsgesetz die Verteilung der Materie nicht zu erklären vermag. Das könne nur die Geschichte der Materie selbst und ihre zu qualitativen Veränderungen drängenden Bewegungsgesetze. Wahrscheinlich hätte ihn sehr gefreut, dass die heutige Naturwissenschaft den qualitativen Sprung zu Elementarteilchen und zu Elementen als sehr kurz nach dem Milliarden Jahre zurück liegenden Urknall verortet.

Neue Bewegungsgesetze entstanden auch, als sich auf der erkaltenden Erdkugel erstes organisches Leben zeigte und schließlich die Pflanzen Sauerstoff in die Atmosphäre brachten. Ende 1859 hatte Charles Darwin in seinem Hauptwerk Über die Entstehung der Arten die so wohlunterscheidbaren Arten der Tiere und Pflanzen aus der Anpassung an die umgebende Natur erklärt, die sie selbst wiederum dabei veränderten. Heute wissen wir, dass diese Anpassung an neue Bedingungen sehr viel weniger Zeit in Anspruch nimmt als damals angenommen: wenige Jahre oder Generationen statt Jahrhunderte oder Jahrtausende.

In dem getrennt als Broschüre veröffentlichten Teil geht Engels dem Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des zum Bewusstsein seiner selbst gekommenen Affen nach. Durch die Entwicklung und Handhabung von Werkzeugen verändert dieses besondere Tier sich selbst, seine Fähigkeiten, seine Umgebung und seine Mit-Affen und Nachkommen, an die es das Wissen weitergibt. Die Fähigkeit der sich entwickelnden Menschen, Erfahrungen in der Bearbeitung der Natur sprachlich zu beschreiben und durch Zeichen über das eigene Leben hinaus festzuhalten, brachte wiederum Entwicklungen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten in die Welt.

Im 19. Jahrhundert bewies nicht nur die Entdeckung von Fossilien und Werkzeugen vorgeschichtlicher Menschen, dass Natur und Gesellschaft eine Geschichte haben. Die Französische Revolution hatte allen Zeitgenossen und Nachkommen gezeigt, dass durch das Zusammenwirken der Menschen, die Gesellschaft, aktiv verändert werden konnte. Aber ließ sich das bewerkstelligen, indem man ihr eine andere Moral entgegenhielt? Die Prozesse, die eine Veränderung zu einer bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht hatten, beschrieben Marx und Engels dann in ihrer historisch-materialistischen Anschauung, wonach die materiellen Bedingungen erst einen gewissen Stand erreicht haben müssten, bevor eine andere Gesellschaftsorganisation sichtbar werde und durchgesetzt werden könne.

Während die meisten Ökonomen jener Zeit angenommen hatten, alles werde für alle gut, wenn man die Einzelnen nur ihre ökonomischen Interessen ungehindert verfolgen ließe, beschrieb Marx im Kapital und auch im Abschnitt über die Ökonomie im Anti-Dühring die Widersprüche der neuen Gesellschaftsformation – die Überproduktionskrise statt der Mangelkrisen zuvor, die Zerstörung der Menschen durch die Arbeit und der aus der Lohnarbeit Fallenden, die Verheerung der Städte und die Zerstörung der Natur. All diese ungeplanten Folgen gehen nicht aus schlechten Absichten der Beteiligten hervor, sondern aus dem ungeplanten Zusammentreffen der einzeln wohldurchdachten Produktionen, deren Konkurrenz auf dem Markt die Produktionsmittelbesitzer zur Steigerung der Produktivität, Überflüssigmachung von Arbeitskräften, Entwertung der Produktion und schließlich in die Überproduktionskrise treibt.

Die weite Verbreitung der Schrift während der Zeit der Sozialistengesetze zur Unterstützung und Ermutigung der Sozialdemokratie hat vermutlich die Lesart der Schrift befördert, Revolution und Sozialismus seien als unvermeidbar eintretende Ereignisse so gewiss wie der Fall eines Apfels oder der Aufgang der Sonne. Dabei hatten Marx und Engels gerade darauf hinweisen wollen, dass kein Weltenplan die Menschheit vor dem Untergang schützt, sondern Gesetzmäßigkeiten, die wir kennen müssen, um das Richtige zu tun, in der Geschichte der Natur erst entstanden sind und immer neu entstehen werden.

Sie hätten eine Theorie nicht deshalb für richtig gehalten, weil sie sich als dialektisch etikettierte, sondern verlangt, dass „positive Wissenschaft“, wie sie es nannten, die dialektischen Gesetze in der Natur erst „in ihr aufzufinden und aus ihr zu entwickeln“ habe (Vorwort 1885 MEW 20, S. 12).

Die Eule der Minerva, wie sie Hegel zitieren, beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung. Die Erkenntnis über das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung wird erst in dem Moment sichtbar, in dem sie vergeht. 200 Jahre nach Friedrich Engels Geburt ist die Morgendämmerung vielleicht schon ein wenig vorangeschritten und wir haben mit dem Experiment erster nicht-kapitalistischer Gesellschaften Erfahrungen, welchen Widersprüchen, blutigen Idiotien und bizarren Herrschaftsauswüchsen wir in einer möglicherweise kommenden sozialistischen Gesellschaft begegnen werden. Aber auch da gilt, wie es im deutschen Text der Internationale heißt:

„Es rettet uns kein höh‘res Wesen,

kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

Uns aus dem Elend zu erlösen

können wir nur selber tun!“

Jürgen Bönig empfiehlt auch in diesem Falle, in Marx-Engels-Werke Band 20 das Original und die Vorarbeiten der „Dialektik der Natur“ zu lesen statt die aus zweiter und dritter Hand übernommenen Deutungen.