Engels mit Brille

Am 29. Oktober 1840 schrieb der Kaufmannslehrling Friedrich Engels aus Bremen an seine Schwester Marie: „Augenblicklich haben wir Freimarkt, und wenn ich auch nicht die Ehre habe, Ihrer Königlichen Hoheit, einer Großherzogin und vielen allerdurchlauchtigsten Prinzessinnen vorgestellt zu werden, so haben wir doch Spaß. Ich bin glücklicherweise so kurzsichtig, daß ich gar nicht weiß, wie die paar hohen, höchsten und allerhöchsten Personen, die die Ehre gehabt haben, an mir vorbeizufahren, aussehen.“ (MEW, Ergänzungsband, Zweiter Teil, S. 462/463). Welche Fürstlichkeiten gemeint waren, erfahren wir nicht. Engels jedenfalls hielt aus gegebenem Anlass seine Augenschwäche für einen Vorteil. Der Obrigkeit fiel sie auch auf: „Spricht sehr rasch und ist kurzsichtig.“ So charakterisierte ihn ein amtliches Signalement in der Revolution 1848/49. Als er in Manchester eine Wohnung für sich und seine Freundin Mary Burns mietete, notierte die zust e4ndige kommunale Behörde, er sei „shortsighted“. Das war ein, wie der Lokalforscher Roy Whitfield kommentierte, ungewöhnlicher Eintrag. Der betagte Friedrich Engels galt wegen seiner Fitness zwar auch noch in seiner Londoner Zeit als einer der jüngsten alten Männer, aber ein Zeitgenosse bemerkte doch, in einem Punkt sei er wie die meisten Deutschen: Sie würden mit kleinen Brillen geboren, und Letztere wüchsen im Laufe der Jahre mit.

Auf den überlieferten Studio-Fotos ist von alledem nichts zu bemerken: Hier ließ er sich immer ohne Sehhilfe ablichten.

Anders die Graphic Novel „Engels. Unternehmer & Revolutionär“, die jetzt zum 200. Geburtstag erschienen ist. Schon auf dem Titelbild präsentiert sie ihn mit einer Brille auf der Nasenspitze. So bleibt es durchgehend im ganzen Band, mit Ausnahme von ein paar Cartoons aus der Kinder- und Jugendzeit und von einer Fuchsjagd.

Inhaltlich ist dieses Detail nicht von Bedeutung, wohl aber für die Methode des Bändchens: Es geht vom Alltag des Protagonisten aus und erschließt von dort dessen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie die Konsequenzen, die er daraus zieht. Engels´ Karriere als Militärtheoretiker zum Beispiel beginnt mit Schneeballschlachten in Barmen.

Gewiss ist künstlerische Phantasie dabei im Spiel, aber sie bewegt sich immer im Rahmen des aus den überlieferten Schriften Ermittelten.

Fiktion verbindet sich mit theoretischen Einsichten. Am 15. Januar 1843 sehen wir Friedrich Engels und Mary Burns in Manchester im Bett. Er fragt sie: „Wie verdienst Du denn Dein Geld?“ Mary antwortet: „Früher als Doffer in Spinnereien, dann habe ich an den Docks von Liverpool Orangen verkauft, wie Ihr feinen Herren das so nennt. Jetzt in einem Boarding House.“ Eine Anmerkung erklärt, was „Doffer“ damals waren: Sie „haben fertig umwickelte Spulen aus einer Spinnmaschine entfernt und durch leere ersetzt.“ Unter einem Boarding House stellen wir uns eine Pension vor. Einen anderen Teil von Marys Auskunft verdolmetscht Engels selbst: „Orangen verkauft? Dich dem ehrbaren Gewerbe der Prostitution hingegeben, meinst Du?“ Mary zieht ein Messer: „Ehrbar? Angespuckt von Pfaffen und Hausfrauen? Behandelt wie ein Vieh von den Kerlen? Und allen Gewinn abgeben an den einen Kerl, der sich als Dein ´Beschützer´ aufspielt? Wenn Du über Ausbeutung sch reiben willst, dann schreib über die Ausbeutung der Frau.“ Engels: „Äh, ja.“ Mary, mit dem Ansatz einer Kastrations-Attacke: „Und wenn Du denkst, Du kannst für meine Liebe bezahlen, dann verabschiede Dich schon mal von Deinen Familienjuwelen. Denn eines lernt man an den Docks: Wie man mit einem Messer umgeht.“

Nach Marys Tod 1863 lebte Engels mit ihrer Schwester Lydia (Lizzie) zusammen, wiederum unverheiratet. Am 11. September 1878 begleitet ihn die Graphic Novel bei einem Gespräch mit einem Priester: „Ich möchte noch heute Nacht meine Frau ehelichen! Sie liegt im Sterben und fürchtet um ihr Seelenheil“. Tags darauf setzte er in den sozialdemokratischen „Vorwärts“ folgende Mitteilung: „Meinen Freunden in Deutschland zeige ich hiermit an, daß meine Frau, Lydia, geb. Burns, mir in der verflossenen Nacht durch den Tod entrissen wurde. London, 12. September 1878. Friedrich Engels«. (MEW 34: 507).

So viel zur Praxis. Jetzt zur Theorie. 1892 setzte Engels August Bebel auseinander, dass die Situation der Prostituierten abhängig sei vom Entwicklungsstand eines bürgerlichen Landes, in England zwar ebenfalls scheußlich, aber anders als auf dem Kontinent: „Sie sehn ihre Lage als ein unvermeidliches Unglück an, das ihnen nun einmal zugestoßen und worin sie sich zu finden haben, aber das sonst ihren Charakter und ihr Ehrgefühl durchaus nicht zu affizieren braucht, und wenn sie Gelegenheit finden, aus ihrem Geschäft herauszukommen, greifen sie zu und meist mit Erfolg. In Manchester gab es ganze Kolonien junger Leute – Bourgeois oder Commis –, die mit solchen Mädels lebten, und viele waren legitim mit ihnen verheiratet und lebten mit ihnen ebenso gut wie Bourgeois mit Bourgeoisen.“ (MEW 38: 553).

Mittlerweile dürfte klar geworden sein, dass wir in diesen Cartoons lebensweltlich informierte Politik kennen lernen. So ist die Handlung konstruiert: Im Prolog sitzt 2020 ein Journalist mit Namen Fritz vor seinem Laptop in einem Wuppertaler Bistro und bestellt einen fair gehandelten Kaffee. Die Bedienerin Charlie – offenbar mit so genanntem Migrationshintergrund, ganz gewiss schlecht bezahlt – antwortet: „Aber wenn der richtig fair wäre, könntest Du ihn Dir nicht leisten.“

Das nächste Kapitel zeigt u.a. Aufruhr und Repression in Elberfeld 1849. Weiter geht es mit dem Nebeneinander von bürgerlichem Kindervergnügen und Depravation des Proletariats im Wuppertal. Ausgerechnet anlässlich des Sozialistengesetzes von 1878 ruft Engels im Gespräch mit Marx ein neues revolutionäres Subjekt aus, Überraschung!: die Bourgeoisie. Sie werde auch Bismarcks Herrschaft niederreißen und eile zugleich über die Verwandlung der Welt in einen universellen Markt ihrem schließlichen Ende zu. Der Weg führt durch die Slums von Manchester. Die Schlussfolgerung bringt im Epilog – Überschrift: „Vorwärts!“ – wieder die Bedienerin Charlie: Diese Höllen gebe es heute noch: in Bangladesch, im Kongo, in den Maquilas Lateinamerikas, in der Ukraine oder in China. „Und auch im reichen Westen wächst die Zahl der Menschen, die als Working Poor bezeichnet werden.“ Das gar nicht so kärgliche Literaturverzeichnis enthält eine Fülle von Hinweisen zur Aktualität dieses Themas. Fritz, jetzt heiße er Fred, richtet eine Kamera auf eine Frau, die Reste aus dem Müll holt. Es folgt ein Dialog. Charlie: „Fred, meinst Du, dass Fotografieren ausreicht?“ Er: „Nein!“. Sie, auf eine Demonstration hinweisend: „Dann komm endlich und mach mit!“

Unter allen Veröffentlichungen zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels ist diese die schönste und politischste.

Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Er prägte Lunapark21 von Heft 1 bis Heft 44 mit seinen festen Rubriken maßgeblich mit. „Das ist das erste Lunapark21-Heft ohne die klugen, präzisen Überlegungen von Georg Fülberth“, war dann im Editorial von Heft 45 zu lesen. „Der Autor der Rubriken Seziertisch (seit Heft 1 / Frühjahr 2008) und Lexikon (seit Heft 5 / Frühjahr 2009) will sich eine Pause gönnen. Wir wünschen ihm viel Kraft – und machen das, was er sich wünscht: weiterarbeiten an der Sache, die so einfach, aber schwer zu machen ist…“

Nun hat Georg Fülberth zum ersten Mal wieder für Lunapark21 in die Tastatur gegriffen – wir wünschen uns mehr solcher „Kür“-Auftritte.

Aus Anlass seines 80. Geburtstags erschien 2019 eine Auswahl von Fülberths Beiträgen für Lunapark21 als Buch: Georg Fülberth · Unter der Lupe – Analysen und Betrachtungen zum gewöhnlichen Kapitalismus · 200 Seiten · 14,90 Euro · Papy Rossa