Angriff aus dem Corona-Nebel

Keine Verschwörungstheorie, aber: Die Herrschenden nutzen das Virus für sich

Auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung (HBS) verneigt sich vor dem Gesslerhut, an dem heutzutage alle vorbei müssen, die sich zum Thema Corona äußern. In einer großangelegten Studie, auf die wir gleich noch zurückkommen1, stellte sie im Oktober fest, die gegenwärtige Krise verstärke „soziale Ungleichheit und Sorgen um Demokratie“. Der demokratietheoretische Aspekt resultiere daraus, dass diejenigen, die in der laufenden Krise am meisten Einkommen verlieren, sich „deutlich sorgenvoller und demokratiekritischer äußern“ würden, um dann fortzufahren, das gehe „bei manchen soweit, dass die Empfänglichkeit für Verschwörungsmythen spürbar erhöht ist. So stimmten im Juni von den Befragten mit Verlusten knapp 45 Prozent der Aussage zu: ‚Ich kann mir vorstellen, dass die Pandemie von Eliten benutzt wird, um die Interessen von Reichen und Mächtigen durchzusetzen.‘“

Also – nicht nur für den Gesslerhut: Dieser Virus ist höchstwahrscheinlich kein Resultat einer geheimen Verschwörung, sondern ungewolltes Resultat der von den Menschen betriebenen Verwischung der Grenzen zwischen der Spezies Mensch und anderen Säugetieren. Seine Folgen sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Den jetzt schon rund 1,5 Millionen Corona-Toten werden wahrscheinlich weitere viele Hunderttausende folgen.

Es hat aber nichts mit Verschwörungsmythen zu tun, dass diese „Pandemie … genutzt wird, um die Interessen von Reichen und Mächtigen durchzusetzen.“ Setzen wir in dem Satz der Böckler-Stiftung anstelle des Wörtchens „Eliten“ das Wort „Herrschende“ und als ihre parlamentarische Speerspitze „FDP“, liegt das belegbar vor uns – wenn wir einmal von der Frage absehen, ob diese Partei noch zu den Eliten gezählt werden kann.

Am 27. Oktober legte ihre Bundestagsfraktion einen Antrag mit dem flotten und bezeichnenden Titel „Arbeitsrecht updaten – Moderner Rechtsrahmen für orts- und zeitflexibles Arbeiten“2 vor, in dem der Bundestag aufgefordert wird, folgendes festzustellen: „Unsere Gesellschaft, und mit ihr unsere Arbeitswelt, befinden sich im rasanten Wandel. Die Digitalisierung ist nicht nur einer der wichtigsten Wachstumstreiber der aktuellen ökonomischen Entwicklung, sondern auch ein Motor der gesellschaftlichen Transformation und des Wandels der Arbeitswelt. Diese Veränderungen bergen ungekannte Potentiale, die es zu nutzen gilt. Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie vielfach dazu geführt hat, dass neue Möglichkeiten aufgetan wurden, um flexibel – zeitlich wie örtlich – zu arbeiten. […] Damit macht die Corona-Krise noch einmal sichtbar, was sich ohnehin seit Langem abzeichnet: Die Art und Weise, wie wir arbeiten, verändert sich. …“

Um diese Veränderungen voranzutreiben, haben sich Christian Lindner und seine Leute vor allem das Arbeitszeitrecht aufs Korn genommen, denn: „Wer aber heute seine Kinder aus der Kindertagesstätte oder der Schule abholt, den Nachmittag mit ihnen verbringt und deshalb am späten Abend dienstliche E-Mails auch nur lesen möchte, der verstößt regelmäßig gegen das Arbeitszeitgesetz.“ Die dort definierten Grenzen „passen vielfach nicht mehr in eine Zeit des flexiblen Arbeitens und gleichberechtigter Teilhabe am Erwerbsleben von Müttern und Vätern, die sich auch beide in der Kinderbetreuung engagieren wollen.“ Im Arbeitszeitgesetz sollten daher „Öffnungsklauseln“ geschaffen werden, „die es ermöglichen, abweichende Regelungen in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zu schaffen.“

Für die hier genannten Betriebsvereinbarungen aber war das Arbeitszeitgesetz bisher ein Anker, an dem die Unternehmer heftig gezerrt und gegen den sie gewettert haben. Meist hielt er auch dort, wo Belegschaften mit eher schwacher Organisations- und Kampfkraft ohne diesen Anker längst in eine völlige Entgrenzung von Arbeitszeit hineingetrieben worden wären.

Die Beispiele ließen sich vermehren. Neben dem Schleifen betrieblicher Hindernisse für die Intensivierung der Ausbeutung wird die Krise gegenwärtig von interessierten Kreisen – also in der Tat den herrschenden Eliten – vor allem genutzt, um Teile der Bevölkerung noch mehr in die Armut zu treiben und den Wert ihrer Ware Arbeitskraft, die sie verkaufen müssen, um leben zu können, weiter zu drücken. Darauf eben weist die Studie der HBS hin. Ihre Befragung ergab, dass bei abhängig Beschäftigten, die über mehr als 4500 Euro Nettoeinkommen verfügen konnten, fast 75 Prozent angaben, sie hätten seit Ausbruch der Pandemie „keine Verluste“ erlitten. Ganz anders sieht es bei der Gruppe der Menschen mit einem Nettoeinkommen von unter 900 Euro aus: Hier verzeichneten nur 52,2 Prozent „keine Verluste“, 47,8 Prozent dagegen „Verluste“. Die Forscher hatten die Befragungen in zwei Kohorten durchgeführt – eine im April, eine im Juni. Im Ergebnis gilt: Die Angaben, Einkommensverluste erlitten zu haben, sind höher im Juni als im April – die Krise vertieft also die Einkommenskluft. „Die Datenanalyse macht […] deutlich, dass Erwerbstätige am deregulierten Rand des Arbeitsmarktes besonders von der Krise getroffen sind…“ Es ist aber nun einmal keine Verschwörungstheorie, sondern seit der „Agenda 2010“ des Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seiner Juniorpartner von der Partei „Die Grünen“ erklärtes politisches Ziel, einen möglichst preisgünstigen Niedriglohnsektor in Deutschland zu schaffen. Die mit dem Nebelbegriff „Corona!“ erreichte Wehrlosigkeit großer Teile der hiesigen Arbeiterbewegung trägt zur Zeit erheblich dazu bei, diesen Niedriglohnsektor größer und aus der Sicht der Ausbeutenden noch wohlfeiler zu machen. Der Kollateral-Schaden einer zunehmenden Verbitterung dieser Menschen wird dabei umso billigender in Kauf genommen, als sich abzeichnet, dass deren Hass sich nicht nach oben, sondern AfD-organisiert nach unten links und gegen alles Fremde dieser Welt richten lässt.

Erwähnt werden muss zum Schluss auf die Schnelle noch eine dritte Stoßrichtung der Angriffe aus dem Corona-Nebel, die im FDP-Antrag bereits anklingt: Corona wird hinsichtlich der Nutzung einer Durchdigitalisierung der Arbeitswelt nicht nur genutzt, um auf höherem Niveau auf das Verlagswesen der vorindustriellen Zeit, also auf zeitlich entgrenzte Arbeit in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus zurückzukommen. Die Ersetzung des Verlagswesens zum Beispiel der deutschen Weber durch die Konzentration von Arbeitern und Arbeiterinnen in den Fabriken war (aus Sicht der Herrschenden ungewollt) eine der Grundlagen für die Erhöhung der organisatorischen Schlagkraft der Arbeiterbewegung. Mit süßem Säusel-Unterton wird gegenwärtig den Betriebs- und Personalräten zwischen Heringsdorf auf Usedom und Lörrach nahe der Schweizer Grenze empfohlen, doch anstelle der gefährlichen Präsenzsitzungen die Möglichkeiten digitaler Techniken zu nutzen und ihre Sitz ungen per Microsoft-Teams oder ähnlichen Instrumenten abzuhalten. Da sitzen dann also Beschäftigte allein zuhause am Bildschirm. Das mag noch funktionieren, wenn sich in den Jahren vorher Vertrautheit und feste emotional-soziale Netzwerke in den Betrieben herausgebildet haben, die die gewerkschaftlichen oder gewerkschaftsnahen Gremien in die Lage versetzen, Kämpfe gegen die (wie selbstverständlich weiter in Präsenz tagenden) Konzernvorstände zu organisieren. Rein virtuell und primär digital wird sich ein solcher nicht nur quantitativer, sondern qualitativer Organisationsgrad, der zum Kämpfen reicht, nicht herstellen lassen.

Es wird höchste Zeit, sich von dem Mantra „Corona! – Krise! – Zusammenstehen!“ nicht mehr davon abhalten zu lassen, die aus diesem Nebel heraus gegen die Interessen abhängig Beschäftigter geführten Angriffe zu parieren.

Dr. Manfred Sohn, Jahrgang 55, arbeitet bei der öffentlich-rechtlichen Versicherungsgruppe Hannover (VGH) als Direktionsbevollmächtigter im Vertrieb, ist zur Zeit freigestellt und tätig als stellvertretender Gesamtpersonalratsvorsitzender und Mitglied im Aufsichtsrat. Mitglied der DKP und der Marx-Engels-Stiftung. Publizistische Tätigkeit unter anderem für „unsere zeit – UZ“ und „Ossietzky“, Autor mehrerer Bücher, zuletzt „Falsche Feinde“ über die AfD, erschienen im konkret-Verlag.

Anmerkungen:

1 Bettina Kohlrausch, Andreas Hövermann, Soziale Ungleichheit und Einkommenseinbußen in der Corona-Krise – Befunde einer Erwerbstätigenbefragung, erscheint Anfang Dezember 2020 in den WSI Mitteilungen 6/2020. Die Zitate in diesem Artikel aus der Vorabmeldung, die vom 29.10.2020 von presse@lists.boeckler.de an einen Gewerkschaftsverteiler verschickt wurde.

2 Bundestagsdrucksache 19/23678, nachfolgende Zitate aus dieser Drucksache mit dem zitierten FDP-Antrag.