Warm halten

Gebäudeheizung und Energiepolitik in Deutschland

Seit 40 Jahren, beginnend mit einer Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur, bin ich in der Sanitär- und Heizungsbranche beschäftigt. Und ebenfalls 40 Jahre ist es her, so erzählte mir kürzlich ein schon über 70-jähriger Heizungsbauer, dass er eine Wärmepumpe montiert hat, die in Kombination mit einem vorhandenen Ölkessel jahrelang zuverlässig betrieben wurde.

Ich war einigermaßen überrascht. Im Gegensatz zur aktuellen Situation war nach meiner Erinnerung in der Zeit meiner Berufsausbildung von Wärmepumpen nicht die Rede, auch wenn es tatsächlich in den frühen achtziger Jahren einen kurzen Absatzboom gab. In meinem Fachbuch aus der Berufsschulzeit, Stand 1981, findet sich auf knapp anderthalb Seiten eine theoretische Erklärung der Wirkungsweise von Wärmepumpen, während die Funktion und Reparatur von Kohlebadeöfen auf drei Seiten beschrieben werden.

Stand der Haustechnik waren die bis 1984 noch zugelassenen Gasdurchlaufheizer ohne Abgasanschluss, die in der Regel zur Befüllung der Küchenspüle dienten und ihre Verbrennungsluft direkt in den Wohnraum abgaben. Weit verbreitet war auch die Nutzung der Heizungskeller als Trockenraum für die Wäsche, denn diese waren wegen der hohen Wärmeverluste der durchgehend mit hohen Vorlauftemperaturen gefahrenen Heizkessel oft die wärmsten Räume im Haus. Bis vor wenigen Jahren wurden direkt befeuerte Warmwasserspeicher vertrieben, deren ständig brennende Zündflamme und unzureichende 
Wärmeisolierung einen bis zu zehnfach höheren Bereitschaftswärmeverbrauch verursachten als bei indirekt durch die Heizungsanlage erwärmten Modellen.

Weiterlesen

Kalt erwischt

Herausforderungen und ungelöste Probleme der Wärmewende im Gebäudesektor am Beispiel Berlins

»Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja ehrlicherweise auch ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen«, sagte Robert Habeck (B90/ Die Grünen) Ende Mai diesen Jahres. Er löste damit eine heftige Debatte aus. Konservative Kreise beschuldigten ihn, die Bevölkerung zum »Versuchskaninchen« grüner Klimaschutzpolitik machen zu wollen. Abgesehen vom konservativen Furor offenbaren die Worte des Vizekanzlers eine Wahrheit, die nur ungern ausgesprochen wird: Die Frage, wie der Gebäudebestand in Deutschland bis 2045 klimaneutral werden und dabei für breite Schichten der Bevölkerung bezahlbar bleiben kann, ist unbeantwortet.

In der Wärmewende steckt enormer sozialer Sprengstoff. Einen Großteil der CO2-Emmissionen im Gebäudebereich entfällt auf die »worst performing buildings« (WPB). Gleichzeitig wohnen hier besonders viele einkommensarme Menschen: Für unsanierte Wohnungen werden vergleichsweise geringe Mieten verlangt. Und nicht jeder Wohnungseigentümer ist reich.

Weiterlesen

Oben bleiben

Stuttgart21 in einer neuen Krisenphase

Tom Adler & Angelika Linckh

»Abgrundtief und Bodenlos« – diesen Titel hat Winfried Wolf, unermüdlicher Mitstreiter im Bündnis gegen Stuttgart21, seinem Standardwerk über das babylonische Bauprojekt gegeben.

Er widmete es den Aktivist:innen, die für Demokratie und Stadtentwicklung kämpfen. Seit 1996 war Winnie als eine treibende Kraft im Kampf gegen Stuttgart 21. Nun, ein Jahr nach seinem Tod, offenbaren sich die Tiefen des Projekts deutlicher denn je: Alle Versprechen sind geplatzt, und dennoch wird weitergebaut, um Milliarden öffentlicher Gelder in die Taschen von Baukonzernen zu lenken.

Was als »Projektfortschritt« gefeiert wurde, entpuppt sich als Krisenserie, die das Projekt in eine neue, verdichtete Problemlage stürzt. Je näher die Inbetriebnahme rückt, desto schwerer wiegen die Konflikte.

Weiterlesen

Ausgebremst

Das bevorstehende Ende der Schuldenbremse

Im Jahr 2009 wurde die so genannte Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sprach von einer »historischen Entscheidung« – die Schuldenbremse sei nötig, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern. Tatsächlich hat die Schuldenbremse das Gegenteil bewirkt und dürfte bald Geschichte sein.

Mitte der 1970er Jahre begann die Wirtschaftspolitik in den führenden kapitalistischen Staaten, sich an neoliberalen Vorstellungen zu orientieren. Die freie Preisbildung auf Märkten, so das zentrale neoliberale Argument, generiere ökonomisch relevante Informationen am besten, der Markt sei dem Staat bei der Informationsgewinnung und -verarbeitung überlegen. Ein wichtiger Grundsatz des Neoliberalismus ist folglich die Formel »Privat vor Staat«. Die öffentliche Hand soll sich so wenig wie möglich in das Wirtschaftsgeschehen einmischen, da privatwirtschaftliche Akteure grundsätzlich bessere ökonomische Entscheidungen träfen als der Staat.

Vor diesem Hintergrund muss die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz im Jahr 2009 interpretiert werden. Zwar erlaubt es die Schuldenbremse in einem engen Rahmen, auf wirtschaftliche Abschwünge zu reagieren. Abgeschafft wurde aber die so genannte »goldene Regel«, die Bund und Bundesländern eine Kreditfinanzierung von öffentlichen Investitionen erlaubte – nur der Bund hat einen kleinen Spielraum in Höhe von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung behalten. Die Kreditbeschränkung der Schuldenbremse darf nur suspendiert werden, wenn Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen auftreten, die sich der Kontrolle des Staates entziehen.

Das Konstrukt der Schuldenbremse folgt den Ideen des US-amerikanischen neoliberalen Ökonomen James Buchanan. Buchanan ging davon aus, dass Politiker:innen vor allem ihre Wiederwahl im Auge haben. Deshalb neigten sie dazu, den Sozialstaat auszubauen. Außerdem versagten sie bei der Anwendung einer antizyklisch ausgerichteten Konjunkturpolitik: In Boomphasen würden staatliche Defizite nicht abgebaut, weil dies restriktiv wirken und so die Wiederwahl der handelnden Politiker:innen gefährden würde.

Um solche »Fehlanreize« zu unterbinden, riet Buchanan zur Regelbindung. Eine solche Regel ist die Schuldenbremse, die der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher als »Odysseus-Strategie« bezeichnet. Odysseus hatte sich von seinen Matrosen, die sich selbst die Ohren verstopft hatten, an den Mast binden lassen, um den Sirenen zu lauschen, ohne ihnen verfallen zu können. In diesem Sinne bänden sich der Staat bzw. seine Repräsentanten und Funktionsträger an selbstgegebene Regeln, um das bestehende System der Fehlanreize zu überwinden.

Gegen die Schuldenbremse sprachen sich bei ihrer Einführung nur wenige politische Akteure aus, etwa ein Großteil der Gewerkschaften. Sie verwiesen auf den Spielraum für öffentliche Investitionen, der aufgrund des nicht besonders hohen öffentlichen Schuldenstands in Deutschland bestehe. Sie warnten zudem davor, dass sich der Investitionsstau im Bereich der öffentlichen Infrastruktur verschärfen werde, zumal in den Jahren ab 2001 die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer und anschließend die erste große Koalition mit Angela Merkel als Kanzlerin (mit der Unternehmenssteuerreform von 2008 und der Erbschaftssteuerreform 2009) dafür gesorgt hatte, dass die Steuereinnahmen vor allem durch Entlastungen von reichen Haushalten und Unternehmen stark sanken. Die Erbschaftssteuer ist durch ihre Reform von 2009 zur teuersten Unternehmenssubvention geworden. Die Ausfälle aufgrund dieser Reform summieren sich auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr.

Die Warnungen haben sich als richtig erwiesen. Es besteht ein erheblicher Investitionsrückstand im Bereich der Bildungsinfrastruktur, des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs usw. Hinzu kommen die hohen Investitionsbedarfe für den Klimaschutz und die Umstellung auf Erneuerbare Energien. Nach einer gemeinsamen, eher konservativen Schätzung durch zwei Wirtschaftsforschungsinstitute besteht in den kommenden zehn Jahren ein Gesamtbedarf an öffentlichen Investitionen in Höhe von 600 Milliarden Euro.

Bundesverfassungsgericht 
urteilt zur Schuldenbremse

Um den faktisch selbst verursachten Investitionsstau zumindest zum Teil aufzulösen, starteten sowohl der Bund als auch verschiedene Bundesländer Versuche, im Zuge der Corona-Krise und der Energie-Krise infolge des Kriegs in der Ukraine die Schuldenbremse zu umgehen. So setzte die Ampel-Regierung für den im April 2021 auf den Weg gebrachten Nachtragshaushalt das Kreditaufnahmeverbot der Schuldenbremse aus. Begründet wurde die damit einhergehende Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro mit der Notsituation aufgrund der Corona-Pandemie. Da die Regierung Scholz die Kreditermächtigung nicht benötigte, beschloss sie einen zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021. Die Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro sollte zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen und der Energiewende durch den Klima- und Transformationsfonds (KTF) in den folgenden Jahren dienen. Hiergegen erhoben die Bundestagsabgeordneten der CDU erfolgreich Verfassungskla ge – das Bundesverfassungsgericht erklärte Mitte November 2023 den zweiten Nachtragshaushalt für nichtig. Zentral sind dabei zwei Punkte.

Die Bundesregierung habe, so das Bundesverfassungsgericht, keinen begründeten Zusammenhang zwischen der Notsituation der Pandemie und dem zweiten Nachtragshaushalt hergestellt. Eine solche Begründung aber sei umso mehr erforderlich, je weiter der eigentliche Auslöser der Notsituation zurückliege. Außerdem müsse die Kreditaufnahme nach Jahren getrennt ermittelt werden, und die Kreditermächtigung und die auf dieser Grundlage dann erfolgende tatsächliche Aufnahme der Kredite müsse in demselben Jahr geschehen. Das Urteil löste heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesregierung über die Folgen für den Bundeshaushalt aus. Für das Jahr 2023 wurde kurz vor Weihnachten die Aussetzung des Kreditaufnahmeverbots der Schuldenbremse beschlossen, um so die Voraussetzungen für einen Nachtragshaushalt zu schaffen. Begründet wurde dies mit zwei Notlagen: Dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen sowie den Schäden aus der Flutkatastrophe im Ahrta l im Sommer 2021.

Für das Jahr 2024 hatte sich die Ampel-Koalition auf Ausgabenkürzungen verständigt – insbesondere die FDP wollte das Kreditaufnahmeverbot der Schuldenbremse nicht nochmals aufheben. Damit hat sich die Bundesregierung auf einen klassischen pro-zyklischen finanzpolitischen Kurs begeben, der die bereits schlechte Konjunkturlage zusätzlich verschärft.

Urteil hat Folgen für die Bundesländer

Betroffen vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind auch einige Bundesländer. Einige von ihnen haben, mit ähnlichen Konstruktionen wie der Bund, Fonds in Milliardenhöhe zur Finanzierung von klimapolitischen Maßnahmen und der Energiewende beschlossen oder zumindest geplant. Durch das Urteil vor erhebliche Probleme gestellt sind insbesondere das Saarland, Bremen und Berlin – hier sollten mit vergleichsweise großen Fonds Mittel für mehrere Jahre bereitgestellt werden, indem das Land eine Notlage erklärte. So waren in Bremen 2,5 Milliarden Euro für einen kreditfinanzierten Klimafonds vorgesehen. Hier haben sich der rot-rot-grüne Senat und die oppositionelle CDU auf ein aus Krediten finanziertes Sondervermögen in Höhe von 450 bis 550 Millionen Euro anstelle des Klimafonds geeinigt. Das Parlament muss jedes Jahr aufs Neue mit Zweidrittelmehrheit eine Notlage erklären, um so dieses Sondervermögen zu sichern. Wie es bei anderen Problemen (zum Bei spiel energetische Gebäudesanierung von öffentlichen Bauten) weitergehen wird, ist ungewiss.

Im Saarland hat die Landesregierung kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet, dass der Landtag künftig jährlich eine Notsituation erklären wird. So soll der drei Milliarden Euro schwere Transformationsfonds gerettet werden.

In Berlin ist das im Koalitionsvertrag von CDU und SPD geplante Klima-Sondervermögen in Höhe von fünf Milliarden Euro aufgrund des Karlsruher Urteils geplatzt. Hier werden von der Landesregierung verschiedene Wege beschritten, wie außerhalb des Kernhaushalts dringend benötigte Investitionen getätigt werden können.

Verbleibende Möglichkeiten

Seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil hat sich die vorher schon geführte Debatte um das Für und Wider der Schuldenbremse verschärft, und es wird nach Möglichkeiten gesucht, die erforderlichen staatlichen Investitionen zu tätigen.

So wird zum Beispiel erwogen. jedes Jahr aufs Neue den Notstand zu erklären und so das Kreditaufnahmeverbot der Schuldenbremse immer wieder zu suspendieren. Ob dieser Weg verfassungsrechtlich gangbar ist, kann zumindest in Zweifel gezogen werden. Denn wenn Investitionen zur Bewältigung von Energie- und Klimakrise als staatliche Daueraufgaben und nicht als Notfallmaßnahmen interpretiert werden, dann müssen sie eigentlich aus dem regulären Haushalt bezahlt werden.

Rechtssicher umgangen werden kann die Schuldenbremse, indem staatliche Investitionen durch rechtlich selbständige Institutionen (GmbH, Aktiengesellschaft, Anstalt des öffentlichen Rechts) getätigt werden, die der öffentlichen Hand gehören. Allerdings werfen solche Konstruktionen immer die Frage nach der demokratischen Kontrolle auf, da hier die Parlamente als Haushaltsgesetzgeber außen vor sind.

Für den Bund käme auch die Verankerung eines oder mehrerer Sondervermögen für Investitionen in die Energiewende, die staatlich Infrastruktur usw. in Frage – solche Überlegungen lehnen sich an das Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr an.

Selbst über eine grundlegende Reform der Schuldenbremse, die kreditfinanzierte Investitionen wieder ermöglicht, wird seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil diskutiert. Einem solchen Vorhaben stehen SPD und Bündnis 90/Die Grünen offen gegenüber. Auch verschiedene CDU-geführte Bundesländer haben in den zurückliegenden Monaten signalisiert, dass sie bereit sind, hierüber zu reden. Allerdings standen einer solchen Initiative bis zum Ausscheiden der FDP aus der Bundesregierung zwei Dinge im Weg: zum einen die FDP als Regierungspartei, die eine Reform der Schuldenbremse nicht mittragen wollte. Und auch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz und die CDU im Bundestag hatten bis zum erfolgten Bruch der Ampel-Koalition aus taktischen Gründen kein Interesse an einer Grundgesetzänderung, da die Union in der Wählergunst vom Streit der Ampel-Koalition über die Finanzierung des Bundeshaushalts profitierte.

Abschaffung der Schuldenbremse nach der nächsten Bundestagswahl wahrscheinlich

Nach der kommenden Bundestagswahl wird die Schuldenbremse mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Vorschlag einer dann CDU-geführten Bundesregierung grundlegend reformiert – und damit im Kern abgeschafft. Dafür spricht, dass große Teile des Unternehmerlagers den bestehenden Investitionsstau in Deutschland als Problem ausmachen. Auch der Kapitalseite ist mittlerweile klar geworden, dass eine funktionsfähige öffentliche Infrastruktur eine wichtige Voraussetzung für die privatwirtschaftliche Produktionstätigkeit ist.

Aus einer progressiven Perspektive heraus ist es ebenfalls sinnvoll, sich für das Ende der Schuldenbremse einzusetzen – selbst wenn eine deutlich stärkere Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen die bessere Variante wäre, um den staatlichen Ausgabenspielraum zu erweitern. Denn wird das Kreditaufnahmeverbot der Schuldenbremse nicht beseitigt, droht zum einen weiterer Sozialabbau, weil Investitionen auf Kosten von Sozialleistungen getätigt werden. Und zum anderen werden zumindest Teile der staatlichen Infrastruktur weiter verfallen, auf die diejenigen angewiesen sind, die nicht über Produktionsmittel oder große Vermögen verfügen.

Kai Eicker-Wolf, Ökonom und Politikwissenschaftler, arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Frankfurt / Main

Gehen Sie zurück auf Los!

Präsidentschaftswahl und US-Haushaltsstreit

Zwei Tage nach dem Sieg Donald Trumps trat in Washington D.C. der Offenmarktausschuss der US Zentralbank, der Federal Reserve (Fed), zusammen und beschloss eine weitere Senkung der Leitzinsen um ein Viertel Prozent. Sieben Wochen zuvor, auf der Zielgeraden des US-Wahlkampfs, hatte Trump eine erste Zinssenkung der Fed scharf kritisiert: Das sei eine rein politische Entscheidung zugunsten seiner Gegner! Nach seinem Sieg hat er keinen Grund mehr, sich über eine Lockerung der Geldpolitik zu beschweren. Tatsächlich folgt die Fed der Bewegung auf den Finanzmärkten. Trump übertrieb ihren Handlungsspielraum, weil er die reale wirtschaftliche Lage ebenso verschweigen muss wie die harte Arbeit der Republikaner im letzten Kongress für hohe Zinsen.

Der US-Leitzins ist eine Zielgröße: Mit eigenen Interventionen auf den Finanzmärkten versucht die Fed, die Zinsen für Tagesgeld auf den Zentralbankkonten in dem Rahmen zu halten, den sie für geldpolitisch geboten hält. In Anbetracht der enormen Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, gelingt ihr das in der Regel recht gut. Was aber geldpolitisch geboten ist, darüber haben die Finanzmärkte das letzte Wort. Der Tagesgeldsatz richtet sich nach den Preisen für kurzfristige US-Staatsschuldpapiere, die für eine Geldbeschaffung bei der Zentralbank als Sicherheit hinterlegt werden müssen. Die Orientierungsgröße (Benchmark) ist die Rendite auf Drei-Monats-Schatzwechsel des US-Finanzministeriums. Die Fed folgt, wenn auch nicht automatisch, den Entwicklungen dieser Preise. Und indem die Fed den Finanzmärkten folgt, übernimmt sie die kapitalistische Urangst vor zu geringer Arbeitslosigkeit. Im Laufe dieses Jahres stieg die Arbeitslosigkeit in den USA  bei allgemein guter Konjunkturlage leicht an und erreichte im Juli 4,3 Prozent – aus Sicht der Investoren eine rundheraus positive Entwicklung.

Weiterlesen

Faschismus in unserer Zeit

Harold James

PRINCETON, Oktober 2024 – Keiner weiß, wie die US-Präsidentschaftswahlen ausgehen werden. Eine Möglichkeit ist, dass die Trump-Blase endlich platzt und eine Rückkehr zur Normalität in Amerika und der ganzen Welt ermöglicht. Es ist aber auch möglich, dass die USA auf einen radikalen militarisierten Autoritarismus zusteuern, der eine neue Norm für Despoten in anderen Ländern schaffen würde.

Politikwissenschaftler sind nicht die einzigen, die hier beunruhigende historische Anklänge sehen. Laut Donald Trumps am längsten in dieser Funktion dienendem Stabschef, General John Kelly, entspricht der ehemalige Präsident »der Definition eines Faschisten«, womit er »eine rechtsextreme autoritäre, ultranationalistische politische Ideologie und Bewegung« meint, »die durch einen diktatorischen Führer, zentralisierte Autokratie, Militarismus, gewaltsame Unterdrückung der Opposition und den Glauben an eine natürliche soziale Hierarchie gekennzeichnet ist«.

Weiterlesen

spezial konfliktpotenzial

überbau und basis in politik &  wirtschaft

Wenn Wahlen etwas ändern würden? Wahlen ändern etwas. Trump steht für neue Steuergeschenke an die Reichen. Er kritisierte die Biden-Regierung dafür, dass sie Benjamin Netanyahu überhaupt Grenzen setzte. Er rühmt sich seiner Arbeit für die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung und hält die Klimakrise für einen Witz. Und dann ist da noch die Sache mit der Demokratie. Macht korrumpiert. Macht ohne Kontrolle korrumpiert absolut. Vor Trump gab es nie einen US-Präsidenten, der nach seiner Abwahl versuchte, durch einen Sturm auf das Parlament im Amt zu bleiben. Trotzdem wurde er nun mit 74 Millionen Stimmen wiedergewählt. 70 Millionen US-Amerikaner:innen haben für Kamala Harris gestimmt. Im Senat und wahrscheinlich – Stand 10. November – im Repräsentantenhaus werden die Republikaner die Mehrheit stellen. Der Oberste Gerichtshof ist bereits fest in erzkonservativen Händen. In einigen Bundesstaaten regieren noch die Demokraten.

Weiterlesen

2010 bis 2020 – ein Jahrzehnt des Protests

Bilanz eines Journalisten

São Paulo, 13. Juni 2013. »Ohne Warnung schossen sie plötzlich in die Menge – Tränengas, Schockgranaten, womöglich Gummigeschosse – schwer zu sagen in dem Moment. Es geht darum, einen zu zwingen, sofort Schutz zu suchen und an nichts anderes zu denken als an die eigene Sicherheit. Die Menge hört auf eine Menge zu sein, ist reduziert auf eine An-
sammlung von Individuen«, schreibt Vincent Bevins.

Der damals 29-Jährige gebürtige Kalifornier arbeitete als Korrespondent der Los Angels Times in der größten Stadt Südamerikas und hatte über eine Demonstration für kostenlosen Busverkehr berichten wollen. Auch er flüchtete in Panik. Demo und Polizeigewalt hätten wohl wenig Aufsehen verursacht, wenn es nicht das Foto von einer Frau gegeben hätte, die durch ein Gummigeschoss im Gesicht verletzt worden war. Die Frau war Fernsehjournalistin, ihr Bild erschien in Brasiliens bedeutendster Tageszeitung und erregte Empörung bis in konservative Kreise. Wie so oft löste ein einzelnes Ereignis, medial verbreitet, eine enorme Dynamik aus. Die Bewegung bekam ungeahnte Unterstützung und am 17. Juni 2013 erlebte São Paulo die größte Massenkundgebung seit 20 Jahren.

Weiterlesen

Stichwort: Handel

In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Anlässlich der Herausgabe des Bandes 9 II im Dezember 2023 schrieb Haug: „Die Vorgeschichte von 1989 hat es vorgeführt: Lange kaum merklich, kann der geschichtliche Prozess zum unwiderstehlichen Strom sich steigern, der Standpunkte und Perspektiven mit sich reißt. (…) Wer das HKWM nicht nur als Nachschlagewerk nutzt, sondern auch oder sogar primär als »Vorschlagwerk«, in dem man auf Erkundung gehen kann, wird die Erfahrung machen, dass Vergangenheitserkenntnis der Gegenwart auf eine Weise zu begegnen vermag, die ihr bei aller Differenz ein Licht aufsteckt.“

Handel (H) ist nach Energie, Krieg und Frieden, Lüge, Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme, Klimapolitik, militärisch-industrieller Komplex und Finanzmärkte das 13. ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren.

Der wiedergegebene Ausschnitt enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=h:handel zum Stichwort Handel findet, aber wesentlich weniger als im Original. Das ist in mehrere Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)

E: trade. – F: commerce. – R: torgovlja. – S: comercio. Autoren: Mario Candeias, Gerhard Hanappi

HKWM Bd. 5, 2001, Spalten 1142-1153

»Wohlfeil kaufen, um teuer zu ver-
kaufen, ist das Gesetz des H« (Kapital III), der sich lange vor dem Industriekapitalismus entwickelt, bis dieser ihn »als besondre Funktion eines besondren Kapitals« (…) zu seinem integralen Bestandteil macht, dessen allgemeine Funktion es ist, den Mehrwert zu realisieren. Vorkapitalistisch bleibt dagegen die durch den H geregelte Warenzirkulation der noch weitgehend auf naturalwirtschaftlichen Grundlagen beruhenden Produktion im Wesentlichen äußerlich.

Frühe Formen des H entstehen bereits in späten Urgesellschaften nach dem Übergang zur sesshaften Lebensweise und agrarischen Produktion. Produkte wie Salz und Metalle, später Gewürze und andere Gegenstände des Luxuskonsums bilden typische Fernhandelswaren, nach denen Handelsrouten heißen (›Salzstraße‹, ›Seidenstraße‹ usw.). Fern- und Binnenhandelsbeziehungen erhielten besondere Bedeutung in der Antike und in anderen Hochkulturen mit entwickelter Zentralgewalt. Im europäischen Hochfeudalismus nahmen Warenproduktion und H nach einer längeren Verfallsphase während des frühen Mittelalters mit der Entstehung des Städtewesens und überregional agierender Handels-gesellschaften (italienische Stadtrepubliken, Hanse) einen bedeutenden Aufschwung. Dieser bedeutete zugleich Blüte und beginnende Krise der feudalen Produktionsweise.

In der Renaissance wird das von Kaufmanns- und Wucherkapital bestimmte Zeitalter des Handelskapitalismus eingeläutet, den Marx als ein Merkmal der Manufakturperiode charakterisiert (Kapital I). Ende des 19. Jh. erreicht der Welt-H seine vorerst maximale Ausdehnung, bevor er im imperialistischen Kriegstreiben zusammenbricht. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wirkt der wiederauflebende Welt-H auf Basis eines neuen internationalen Regimes als wichtige Rahmenbedingung des Wirtschaftsaufschwungs im zerstörten Europa und befördert die fordistische Entwicklungsweise. Im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik dient die Liberalisierung des Welt-H der Durchsetzung des transnationalen High-Tech-Kapitalismus. (…)

Die Einbettung des H in die historische Entwicklung der Kapitalakkumulation verdeutlicht auch die innere Verflechtung spezifischer politischer und technologischer Entwicklungen in bestimmten Staaten mit der der Kapitalakkumulation: Die Seeherrschaft Hollands und Englands ging Hand in Hand mit sichereren Verbindungen und ermöglichte den rascheren und billigeren Transport der Waren, wodurch schließlich die Umschlagszeit des H-Kapitals verkürzt und die H-Profitraten erhöht wurden (vgl. MEW 24, 254). (…)

Beim Übergang vom 19. zum 20. Jh. erreicht die Entwicklung des internationalen H einen vorläufigen Höhepunkt. Die »immer innigere Beziehung zwischen Bankkapital und industriellem Kapital« (Hilferding), wodurch das Kapital die »Form des Finanzkapitals« annimmt, hat, wie Rudolf Hilferding beobachtet, »die früher getrennten Sphären des industriellen, kommerziellen und Bankkapitals […] unter die Leitung der hohen Finanz gestellt.« (…) Zur Durchsetzung seiner Interessen ist das Finanzkapital auf einen »politisch mächtigen« Nationalstaat angewiesen, der sich vom liberalen Freihandelsstaat zum Protektionismus und zum aggressiven rüstungs-, kolonial- und außenpolitischen Engagement wendet. Die Spannungen entladen sich letztlich im Ersten Weltkrieg, der das Ende der englischen Hegemonie besiegelt. Die USA werden zum Modell für den kapitalistischen Staat des 20. Jh. Die Krisen des Finanzkapitals durchziehen die Zwischenkriegszeit und gip feln 1929 im Absturz der Börsennotierungen, der den internationalen H zusammenbrechen lässt. Die folgende ›große Depression‹ ist eine entscheidende Voraussetzung für das Erstarken des Faschismus und eine der Ursachen des Zweiten Weltkriegs. (…)

In der Ära neoliberaler Globalisierung erlebt der internationale H mit Waren und Dienstleistungen erneut eine Intensivierung. Der größte Teil des internationalen Handels konzentriert sich jedoch auf den Austausch innerhalb der Triade-Regionen. (…)

Der ›stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse‹ in der der Währungs- und H-Konkurrenz wirkt gegen den Sozialstaat und führt zur Erosion ökologischer und sozialer Standards sowie zur Verarmung großer Teile der Weltbevölkerung. Zwar erlauben auch GATT bzw. WTO (multilaterales Handelsabkommen von 1948, abgelöst vom Welthandelsabkommen 1995; JHS) den Schutz nationaler  Verhältnisse zur Erhaltung des »Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen« (Art. XX), dies gilt aber nur für die Beschaffenheiten des fertigen Produkts, nicht für die Produktions- und Arbeitsbedingungen. (…)

Wer im neuen Welthandelsregime mangels Devisen nicht teilnehmen kann, sucht informelle Kanäle des Austauschs. Der Anteil des sog. Countertrade bzw. barter, des Austauschs von Ware gegen Ware ohne das Dazwischentreten von Geld als Zahlungsmittel, beläuft sich Mitte der 90er Jahre auf bis zu 25%. Zur informellen Seite des internationalen H gehört auch die Abwicklung illegaler Transaktionen wie der H mit Drogen, der unregistrierte H mit Rüstungsgütern, Menschen-H und Geldwäsche. Diese Seite des internationalen H ist schwer zu erfassen. Ein Indiz für ihren Umfang liefert das globale Defizit der Leistungsbilanzen. (…)

Am Ende des 20. Jh. entfällt bereits ein Drittel des Welt-H, 2,7 Bio. US-Dollar, auf den H mit ›Dienstleistungen‹ aller Art. (…) Die WTO schafft die Voraussetzungen für die Inwertsetzung bislang nicht warenförmiger Bereiche. (…) Das schließt die Patentierung von Genen und ganzen Lebensformen ein. Der Handel mit Gütern, die sich als Bitstrom darstellen lassen, bildet ein wesentliches Segment der neuen Internetökonomie. (…) Der elektronische Handel via Internet bezieht sich nicht nur auf Güter, die online ›ausgeliefert‹ werden, sondern durchdringt sämtliche Bereiche, vom Versand-H über Flugreisen bis hin zu Versicherungen (…)

An den leeren Versprechen des freien Welt-H und den Widersprüchen neoliberaler Globalisierung setzen Kämpfe gegen die ›totale Vermarktung‹ der Welt an. Sie trugen zum Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI) und der WTO-Konferenz von Seattle bei, was als »Wendepunkt« weltgesellschaftlicher Entwicklung gesehen werden konnte.

Care oder Computer

Wie das Sorge-Paradigma Frauen weiter aus wesentlichen Einflussbereichen heraushält

Es gibt keine Ausrede mehr. Welche sich in den Ländern des globalen Nordens als Frau definiert oder als solche gesehen wird, ist nicht mehr entlastet durch ihre Nähe zur Natur, zur materiellen Basis des Menschseins, die sie »unschuldig« bleiben lässt an den Zerstörungen der Technik, die mitzugestalten Frauen jahrhundertlang vorenthalten wurde.

Vor ziemlich genau 50 Jahren begannen Feministinnen in der Bundesrepublik das kostengünstige patriarchal-kapitalistische Reproduktions-Arrangement aufzukündigen, den umfassenden Gratis-Service – von Kinderproduktion über Koch- und Putzdienste bis zur Psycho-Betreuung und Sexarbeit. Sie wollten »die Welt aus den Angeln heben« und zumindest mal die Männerdomänen erobern, aus denen sie, mit Ausnahmen, sorgsam ferngehalten worden waren. Alsbald aber erwuchs aus der Erkenntnis, dass die Arbeiten am Menschen doch einen ganz besonderen Wert haben, ja dass sie fundamental für alles menschliche Handeln sind, eine feministische Theorierichtung mit einer ziemlich einseitigen Fixierung auf deren gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung.

Weiterlesen