Begegnungen: Heinz Hirdina

Hirdina, Jahrgang 1942, war Designtheoretiker, Designhistoriker. In den Siebzigern hatte er etliche Jahre die Redaktion der Zweimonatsschrift form+zweck geleitet, Herausgeber war das Amt für industrielle Formgestaltung (AiF). Sein Büro dort nahe der Friedrichstraße behielt er auch, als er 1980 zum Dresdener Verlag der Kunst wechselte. Im gleichen Jahr hatte ich begonnen, für die Bibliothek des AiF aus dem Russischen zu übersetzen; angestellt war ich damals noch am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaft (ZIW) der Akademie der Wissenschaften. Ein gewisses Maß an Apologetik wurde hier wohl allen abverlangt; mein Forschungsthema, die Geschichte der politischen Ökonomie des Sozialismus, schloss kritische Auseinandersetzung jedoch völlig aus.

Im Februar 1980 fuhr ich als Ferienhelfer an die Ostsee, hatte fern von Berlin Zeit nachzudenken. Die Akademie, so sagte ich mir schließlich, ist nicht die Welt, irgendwann würde ich sie verlassen. Aber was dann? Wenn ich von meinen Fähigkeiten, Neigungen und Abneigungen ausging, blieb nur das freiberufliche Übersetzen. Die Arbeit für das AiF war für mich ein Übungsfeld. Aus dem ZIW bin ich zwei Jahre darauf eher unfreiwillig ausgeschieden.

Damals, in den frühen Achtzigern, hatte Hirdina für den erwähnten Verlag Lothar Kühnes Gegenstand und Raum lektoriert, Untertitel: Zur Historizität des Ästhetischen. Genauer getroffen hätte es vielleicht ein Titel wie Gegenstand und Gesellschaft, aber von Gesellschaft war damals schon mehr als genug die Rede. Kühne, Philosophie-Professor an der Berliner Humboldt-Universität, war aus meiner Sicht der wichtigste hiesige Gesellschaftstheoretiker jener Zeit; 1985 hat er sich, von schweren Problemen bedrängt, das Leben genommen. Die Herrschaftsverhältnisse im Lande stellte er in seinen Schriften nicht in Frage, jedenfalls nicht ausdrücklich, dennoch hielt und halte ich sein Denken für revolutionär: Er war einer der ganz wenigen, die noch nach Möglichkeiten sozialistischer Entwicklung suchten, die also mehr wollten als die von der Staatspartei betriebene Fortschreibung des Bestehenden. Das war auch in meinem Sinne. 1981 war Gegenstand und Raum i n der Fundus-Reihe erschienen; über dieses Buch kam ich mit Hirdina ins Gespräch. Ich weiß noch, dass ich nach dem Echo auf das Werk gefragt hatte und von ihm hörte, es sei fast gleich Null; alles übrige habe ich vergessen. In Erinnerung geblieben ist mir aber die – um mal einen ganz aus der Mode gekommenen Begriff zu verwenden – vornehme Zurückhaltung, mit der er auftrat; es war jene Vornehmheit, die aus dem Intellekt kommt.

Zettelwirtschaft

1983, nun schon freiberuflich tätig, fand ich eines Tages bei der Rückkehr nach Hause hinter meiner Wohnungstür einen Zettel: Hirdina bat mich dringend, ihn im Amt anzurufen, es gehe um eine Übersetzung. Am Münzfernsprecher gleich um die Ecke hatte ich Glück: Kein Dauertelefonierer blockierte den Apparat. Das AiF, so erfuhr ich, veranstalte eine internationale Funktionalismus-Tagung; ein Moskauer Professor, der dort hatte vortragen wollen, aber verhindert sei, habe ihm den Originaltext nebst Übersetzung gesandt: Er solle statt seiner sprechen. Doch scheine die Übersetzung nichts zu taugen – ob ich mich der Sache annehmen könne? Ich sagte zu, hatte bis weit in die Nacht hinein mit der Arbeit zu tun und kam damit, wie verabredet, tags darauf früh um Acht zur Markthalle am Alexanderplatz. Von weitem schon sah ich Hirdina unruhig auf und ab gehen. Später sagte er mir, die Zeit sei derart knapp gewesen, dass er den Text vor dem Verlesen nicht einmal meh r habe durchsehen können, doch sei er nirgendwo ins Stolpern geraten. Der Beitrag erschien dann in form+zweck 1/1984.

Vor ein paar Tagen habe ich aus einem meiner Kartons das Heft mit der Übersetzung herausgesucht: Sie ist nicht in der Nummer 1/84, sondern in der Nummer 1/83 erschienen. Eine Karteikarte A5 lag bei: Sehr geehrter Herr Dr. Weinholz, wäre es eine zu große Zumutung für Sie … – es war jener Zettel, den Hirdina vor mehr als vierzig Jahren durch den Briefschlitz meiner Wohnungstür gesteckt hatte. Das kurze Schreiben korrigierte noch einiges mehr von meinen Erinnerungen: Und vielen Dank nochmal für die ausgezeichnete Magomedow-Übersetzung hieß es zum Beispiel zuletzt – er kannte mich also schon als Übersetzer, das Risiko war für ihn nicht so groß, wie die Erinnerung es mir vorgespiegelt hatte. Mit der Nummer 1/1983 aber hatte es eine besondere Bewandtnis.

Materialökonomie

Schon unter Hirdinas Leitung ging es in form+zweck nicht mehr nur um Gestaltungsfragen im engeren Sinne, um Ergonomie, um Formen, die den Funktionen folgen und dergleichen. Ein Beispiel damaliger thematischer Erweiterung ist Lothar Kühnes Text Ökonomisches Verhalten und Weltanschauung in der Nummer 5/1975: Materialökonomie war für ihn nicht nur Mittel der Ressourcenersparnis, sondern Teil eines humanistischen Konzepts, des achtungsvollen, behutsamen Umgangs mit der Natur und der Arbeit anderer. Von einem solchen Umgang waren wir in der DDR jedoch weit entfernt. Hirdinas Nachfolger Hein Köster setzte dessen Kurs fort, vielleicht mit anderer Akzentuierung, vielleicht entschiedener noch als dieser. Das Heft 1/1983 war, mit Ausnahme der Übersetzung, der innerstädtischen Rekonstruktion gewidmet, Beispiel Prenzlauer Berg. Autoren waren unter anderem er selbst sowie Wolfgang Kil, neben Bruno Flierl und Simone Hain später einer der wichtigsten Architekturkritiker hier  im Osten, und der Grafiker Manfred Butzmann. Von ihm stammte auch der Entwurf für das in Kursbuch-Tradition beigelegte kleine Plakat. Die Absicht, der Schönhauser Allee, dem wichtigsten Straßenzug des Stadtbezirks, durch Markisen, Pflanzkübel und ähnliche Standardelemente Boulevardcharakter aufzuzwingen, wurde, um nur zwei Beispiele zu nennen, ebenso kritisiert wie die Behinderung, die Lenkung der Fußgänger durch Ampeln und Absperrungen; beides konnte man auch als grundsätzliche Kritik an Bevormundung seitens der Obrigkeit lesen. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Konrad Naumann, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, ein versoffener Hardliner, dem Honecker viel zu lasch war, empfand das alles tatsächlich als Affront, Köster erhielt eine Parteistrafe und verlor sein Amt als Chefredakteur. Sein Nachfolger Günther Höhne, in den neunziger Jahren für die CDU-Presse tätig, brachte das Blatt wieder auf Linie.

Gestalten für die Serie

1988, Hirdina war inzwischen Dozent an der Weißenseer Kunsthochschule, erschien sein umfängliches, reich illustriertes Buch Gestalten für die Serie – Design in der DDR 1949 bis 1985. Es war das erste und zugleich letzte Werk dieser Art. Hätte die DDR noch längere Zeit fortbestanden, wäre es sicherlich zum Standardwerk avanciert, hätte er es drei, vier Jahre später geschrieben, wäre sein Blick auf die Geschichte, auf Möglichkeiten und Versäumnisse vielleicht ein anderer gewesen – doch ist fraglich, ob sich dann noch ein Verlag dafür gefunden hätte. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass es nicht hinreichend gewürdigt wurde.

Kurz nach der Jahrhundertwende zogen meine Frau und ich in eine kleine Straße in Prenzlauer Berg, im Bötzowviertel. Ein paar Mal sah ich Hirdina dort, immer schien er in Eile zu sein. Er war inzwischen Professor, seine Frau, von Hause aus Germanistin, war es schon lange, sie wohnten ein paar Häuser weiter, ich überlegte, ob ich ihn ansprechen solle, doch es kam mir aufdringlich vor. Dann erlitt er – im Wikipedia-Eintrag wird es nicht erwähnt – einen schweren Schlaganfall, war gelähmt, konnte wohl auch nicht mehr sprechen; ich sah ihn verkrümmt im Rollstuhl sitzen, den eine junge Frau durch die Gegend schob. Auf einem Fenstersims fand ich einen Stapel älterer Hefte einer Design-Zeitschrift, jede zweite Nummer enthielt einen Essay von ihm, aber ich habe mir die Inhalte nicht merken können, es war für mich ein allzu fremdes Land. Trotz seiner schweren Behinderung hat er seine Frau überlebt, kam nach ihrem Tod in ein Heim, wo er im Dezember 2013 ges torben ist.

Erhard Weinholz, Hochschul-Ökonom, Dr. phil., geboren 1949 in Brandenburg an der Havel, lebt seit 1969 im Ostteil Berlins. 1982 aus politischen Gründen Verlust des Arbeitsplatzes an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Von 2001 bis 2007 als Redaktionsmitglied für die historisch-literarische Zeitschrift Horch und Guck tätig.

Phänomen Bollywood

Von Ludwig Ganghofer zu Shah Rukh Khan

Schmonzetten, Süßholz fürs Volk, öder Endlos-Schwulst mit Sari und Musik – das sind einige Vorurteile von Bollywood-Nihilisten, die ein ehrwürdiges Filmgenre als einfältig bis befremdlich abtun.

Vorspann

Genauer gesehen, ist Indiens multilaterale Filmbranche inklusive Bollywood ein hochfunktionales Geschäftsmodell mit präsentabler Leistungsbilanz. Als Weltmarktführer bedient sie im Schnitt mit drei fertigen Spielfilmen pro Tag eine milliardenfache, enthusiastische Kundschaft, fabriziert zuverlässig Unterhaltungsfilme zwischen buntgemixter Masala-Ablenkung und patriotischem Polit-Thriller.

Ihr kulturelles Fundament umfasst steinalte Kunstformen, Millionen Götter und Dämonen, sie jongliert mit divergenten Menschenbildern, Klimazonen, Lebensbedingungen und, natürlich, mit vielen internationalen Vorlagen. Länger schon kooperiert Hollywood mit indischen Produzenten, Disney hat seit Jahren eine Filiale in Mumbai, vormals Bombay. Bollywood, oft deplatziertes Synonym für die ganze indische Filmszene, weiß, was es tut und für wen, reguläre Westzuschauer sind keine Zielgruppe, wir sind Beifang.

Schon mit den frühesten Bewegtbildern entstand 1898 im damaligen Bengalen, British India, ein dokumentarischer Kurzfilm, 1913 in Bombay der erste noch tonlose Spielfilm. Kommerziell in Schwung kam das neue Hindi-Medium mit dem versierten Heimat- und Ganghofer-Regisseur Franz Ostermayr, vulgo Franz Osten, der 1925 48-jährig aus Bayern nach Bombay gebeten wurde, um dort mit Fachwissen und West-Ausrüstung eine zweckmäßige Filmproduktion anzuschieben. Was ihm mit drei Stummfilmen erfolgreichst gelang, darunter Shiraz – Grabmal einer großen Liebe, ein opulentes Melodram um den Bau des Taj Mahal. Und eine frühe Vorahnung von Bollywood.

Weiter ging es für den Bayern in Indien mit der Entwicklung der 1934 gegründeten Tonfilmgesellschaft Bombay Talkies, für die Franz Osten mehrere, wiederum relevante Filme drehte, stets zwischen Indien und der familieneigenen Bavaria Film AG in Geiselgasteig unterwegs, bis die britische Kolonialregierung den angejahrten Filmpionier 1939 kurz nach Kriegsbeginn als feindliches Element heim ins Hitlerreich schickte. Bollywood gedieh weiter ohne ihn. 

Hauptfilm

Mit dem Jahr 1951 brachte der legendäre Filmemacher Raj Kapoor, Schauspieler, Regisseur und Produzent, einen seiner charismatischsten Helden auf die Leinwand, Awara – Vagabund von Bombay: Der junge Raj, durch Unrecht und Armut zum Dieb wider Willen gemacht, verliert alles, dank Jugendliebe Rita aber nie die Hoffnung auf die Zukunft. Ein Habenichts mit Flair, der sich nicht unterkriegen lässt, wurde zur durchschlagenden Identifikationsfigur während der harten sozialen und reformistischen Umwälzungen im Indien Nehrus*, wenige Jahre nach der Unabhängigkeit.

Gleichfalls durchschlagend war das gesellschaftskritische Meisterwerk finanziell mit unvorstellbaren 100 Millionen verkauften Kinokarten.

Durch den Einsatz neuer Farbdramaturgie und Aufnahmetechniken, mit verehrten Darstellern und Musikern fand Bollywood in den 1960er und 70er Jahren zu ausgelassener Hochform und behielt sie lange. Es krachte 
vor Energie und Zuschauern, und nichts – weder steinerweichende Schicksalsschläge, infamste Niedertracht, noch hinterhältigste Verwicklungen – nichts lief ohne großkalibrigen Überschwang, ohne die hohen Emotionen, die bis heute gezielt ins kollektive Gemüt Indiens treffen. Film-Noir-Tristesse gibt es nicht, und die Hoffnung stirbt nie.

Auch da nicht, wo neben dem gefühlsechten Verführungskino ein dunkleres Bollywood aufbricht, wo die ewige Liebe, umrahmt von Terrorismus, Ignoranz, Korruption, Alkoholismus, Verbrechen, einen beklemmenden Verlauf nehmen kann.

Unerlässlich jedoch sind die in die Handlung eingebauten Songs, jene im hiesigen Okzident gern missbilligten Phantasie-Sequenzen, Bollywoods Markenzeichen. Oft nur muntere Revue-Nummern, sind sie öfter noch eine dramaturgisch hilfreiche zweite Ebene im Geschehen: Hier wird es gesanglich tiefer erklärt und kommentiert, hier dürfen intime Wünsche und Gedanken offenbart werden, was in aller Aufrichtigkeit sonst unüblich wäre. Diese Zwischenakte sind ausgefeilte, in Musik und Choreographie gesetzte Kleinkunstwerke in möglichst kreativen Szenerien. Undenkbar, ein Viel-Stunden-Werk ohne vier bis fünf solcher ingeniösen Nebenschauplätze. Aufgeschlossenheit und Untertitel helfen, sie zu genießen.

Kurz nach der Jahrtausendwende landete Bollywood endlich auch in unserer sachlichen Bundesrepublik. Zuerst per synchronisierten DVDs im Handel, dann persönlich in der Hauptstadt, um die Berlinale 2008 zu beglänzen. Wo durch den gesamt-europäischen Ticket-Ansturm bollyverrückter Fans die Festival-Telefonleitungen zusammenbrachen: Shah Rukh Khan, der King of Bollywood, Indiens weltumschwärmter Spitzenstar, wollte seine Reinkarnations-Rache-Romanze Om Shanti Om an der Karl-Marx-Allee vorstellen, im einstigen Ostsektor-Filmpalast International. Und alle wollten hin.

Auf einmal liefen selbst diesseits von Arthaus-Kinos und Bildungs-TV moderne indische Spielfilme auf Deutsch im volksnahen Kino und Fernsehen, es  gab Hindi-Lehrgänge, Saris zu kaufen oder Bollywood-Tanzkurse. Manch eine Volkshochschule hat sie bis heute im Programm. 

Der Hype ist längst verblasst, das breite DVD-Angebot an subkontinentalen Mainstream-Filmen ist globalen Streamingdiensten, TV-Spartensendern und Videoportalen gewichen, das klassische Bollywood, wie es singt und tanzt, hat nach Jahrzehnten der Box-Office-Sause langsam Platz gemacht für ein urbaneres New Bollywood mit freimütigeren Komödien und patriotischen Action-Krachern, die mittlerweile nicht mehr primär in Mumbai, sondern auch in anderen,  anderssprachigen Filmfabriken im cinematischen Multiversum Indien hergestellt werden.

Abspann

Eigentlich bin einst auch ich, geeicht auf mitteleuropäisches Understatement und Aufklärung (und erst recht auf pseudo-indische Kino-Abenteuer wie Der Dschungel ruft) an meinen ersten Bollywood-Filmen gescheitert – bonbonbunter Gefühlsbombast, kein tieferes Thema, entsetzlich langweilig, schnell war ich weg.

Einiges Reflektieren über eigene Erwartungen und kulturgesteuerte Klischeevorstellungen jedoch zog mich zum Glück ein weiteres Mal in einen Hindi-Film. Veer Zaara – Die Legende einer Liebe hat mich geläutert und gründlich umgestimmt – ein  grandioses, mitreißend erzähltes Bollywood-Epos, fand ich, ein geradezu subversiver indischer Heimatfilm. Mit Shah Rukh Khan. 

Der, inzwischen im Rentenalter, arbeitet zur Zeit mit Tochter Suhana am Action-Thriller King, geplanter Start 2026.

Ilse Henckel hat als Dokumentarin, Übersetzerin und Filmkritikerin für den Spiegel-Verlag gearbeitet. Sie lebt in Hamburg.

* Jawarhalal Nehru, von 1947 bis zu seinem Tod 1964 Ministerpräsident Indiens.

Aus der ruhmreichen Hindi-Filmkiste:

Mani Ratnam: Dil se – Von ganzem Herzen, 1998;

Ashutosh Gowariker: Lagaan, 2001;

Ashutosh Gowariker: Swades – Heimat, 2004;

Sanjay Leela Bhansali: Black, 2005;

Rakeysh Omprakash Mehra: Rang de Basanti – Die Farbe Safran, 2006;

Rajkumar Hurani: Three Idiots, 2009.

Shoppen in der ehemaligen Gestapo-Zentrale

Schwaches Gedenken an das Stadthaus in Hamburg

»Ich habe nach 1945 jahrzehntelang einen großen Bogen um das Stadthaus gemacht, unruhig, ja, irritiert, wenn ich nur in die Nähe kam. Es gab noch andere Orte, denen ich große Scheu entgegenbrachte, aber der abschreckendste Topos war immer die ehemalige Leitstelle der Geheimen Staatspolizei Hamburg, Ecke Neuer Wall/Stadthausbrücke. (…) Auch nach 65 Jahren noch hatte der Ort für mich nichts von seinem Schrecken eingebüßt.« So schildert es Ralph Giordano in seinen »Erinnerungen eines Davongekommenen«.

Heute erinnert nur ein kleiner Geschichtsort Stadthaus an die Schrecken, die dieser Ort für alle bedeutete, die hier von der Gestapo verhört, gefoltert oder ermordet wurden. Er befindet sich seit dem Jahre 2020 in einem 100.000 Quadratmeter großen Komplex historischer Gebäude, der in Hamburgs bester Innenstadtlage als Stadthöfe werbewirksam vermarktet wird. Dieser kleine Erinnerungsort ist das Ergebnis des Versuchs der Stadt Hamburg, das Erinnern einem privaten Investor zu überlassen. Er hat eine lange Vorgeschichte.

Das erste Gebäude wurde 1710/11 am Neuen Wall errichtet, es wurde ab 1814 als Stadthaus der zentrale Sitz der Hamburger Polizei. Mit dem Wachsen der Stadt und zunehmender Polizeistärke entstand 1891 an der Ecke Neuer Wall/Stadthausbrücke ein viergeschossiger Erweiterungsbau mit einer charakteristischen Rotunde. Um die Jahrhundertwende zeigte sich, dass die Polizeiverwaltung weiteren Raumbedarf hatte, nicht zuletzt weil die Hamburger Polizei nach preußischem Vorbild neu strukturiert wurde. Dazu gehörte auch die Aufstellung einer Politischen Polizei, wodurch der im Bürgertum verbreiteten Angst vor der stärker werdenden Arbeiterbewegung mit ihren Streiks und Demonstrationen Rechnung getragen werden sollte. Bis 1921 wurden weitere Gebäude an der Straße Stadthausbrücke errichtet. Nach der Novemberrevolution blieb auch in der Weimarer Republik die Aufstandsbekämpfung eine zentrale Aufgabe der Polizei. In Hamburg wurde aus Soldaten und Volkswehrangehörige n die kasernierte Ordnungspolizei gebildet. Sie war mit Kriegswaffen ausgerüstet und wurde wie ein militärischer Verband geführt. Offiziere und Mannschaften waren mehrheitlich reaktionäre Republikfeinde, ebenso wie die Beamten der Politischen Polizei, die nun Staatspolizei hieß.

Terrorzentrale

So gelang es der NSDAP relativ einfach, diese Polizeistrukturen zu unterwandern und nach der Machtübergabe an Hitler gleichzuschalten. Mit Hilfe einer schnell aufgestellten Hilfspolizei und des Kommandos zur besonderen Verwendung wurden bereits im ersten Jahr der NS-Herrschaft die Organisationen und Strukturen der Arbeiterbewegung in Hamburg fast vollständig zerschlagen. Die Unterordnung der Polizei unter die SS und die Bildung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) bedeuteten einen weiteren Ausbau des NS-Verfolgungsapparats. Die Zentrale der Polizeidienststellen war im Stadthaus, zuständig für Hamburg und weite Teile Norddeutschlands.

Von hier aus wurden die Deportationen der Hamburger Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma geplant und vorbereitet, hier wurden die Polizeibataillone aus Hamburg, Bremen und Lübeck für den Einsatz im Vernichtungskrieg im Osten organisiert. Hier begann der Leidensweg Tausender, die Widerstand leisteten oder als Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Swing-Jugendliche, Berufsverbrecher oder Asoziale stigmatisiert, verfolgt, verhaftet und in die Konzentrationslager deportiert wurden. Die Zerstörung durch die Bombenangriffe 1943 stellte einen schweren Schlag gegen die polizeiliche Infrastruktur Hamburgs dar.

Nach dem Krieg wurden die Gebäude provisorisch wieder aufgebaut. In ihnen war bis 2013 die Baubehörde der Stadt untergebracht, die sich weder um deren Erhalt noch um deren historische Bedeutung kümmerte. Im Gegenteil, eine kleine Erinnerungstafel konnte von Behördenmitarbeiter:innen nur gegen den Widerstand der Behördenleitung im Jahre 1981 angebracht werden.

Vergessen beim Kaufen

2008 wurde erstmals bekannt, dass der Senat den gesamten Komplex verkaufen wollte, um dort Investoren die Errichtung einer neuen Shopping-Passage zu ermöglichen. Der Verkauf erfolgte ein Jahr später unter Bürgermeister Ole von Beust (CDU) zum Schnäppchenpreis von 54 Millionen Euro an die Investmentfirma Quantum AG. Dafür verpflichtete diese sich im Kaufvertrag, auf 750 Quadratmetern in geeigneten Räumen einen Gedenk- und Lernort zur Geschichte des Stadthauses einzurichten, öffentlich zugänglich zu machen und dauerhaft zu betreiben. Dieses Erbe übernahm 2011 der SPD-geführte Senat.

Nach siebenjähriger Kernsanierung unter Bewahrung der historischen Fassaden stehen die Stadthöfe seit dem Jahr 2020 für die kommerzielle Nutzung zur Verfügung. Die neoklassizistischen Gebäude erstrahlen nun in neuem Glanz und laden mit den Innenhöfen, dem Hotel, den Cafés, Restaurants und Geschäften zum Verweilen ein. Um diese Konsumatmosphäre möglichst wenig zu stören, erfand der Investor die »Dreiklang«-Lösung: Statt der vertraglich vereinbarten 750 Quadratmeter wurde eine verwinkelte Restfläche von zirka 300 Quadratmetern ausgesucht und einer Buchhandlung mit angeschlossenem Café zur kostenlosen Nutzung überlassen. 70 Quadratmeter dieser Fläche blieben für einen »Geschichtsort« reserviert (davon nur 50 qm nutzbar), der unter Leitung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gestaltet und von den Mitarbeiter:innen der Buchhandlung betreut werden sollte.

Dieser »Dreiklang« wurde von Senat und Bürgerschaftsmehrheit für gut befunden und ging 2020 an den Start. Schon 2018 regte sich heftiger Widerstand dagegen, die Initiative Gedenkort Stadthaus wurde gegründet, die mehrere Kundgebungen und wöchentliche Mahnwachen abhielt. Ohne Erfolg. Im Frühjahr 2022 musste die Buchhandlung Insolvenz anmelden und der »Geschichtsort« wurde um die frei gewordene Fläche erweitert.

Nach langen Verhandlungen entließ die Stadt Hamburg den Investor und die neuen Mehrheitseigentümer aus ihrer vertraglichen Verpflichtung und übernahm die organisatorische, personelle und finanzielle Verantwortung für den »Geschichtsort«. Er wird jetzt von der Stiftung Hamburger Gedenk- und Lernorte geführt, mit einem knappen Budget der Kulturbehörde und knappen personellen Ressourcen. Der neu hinzugewonnene Raum wird vor allem für Veranstaltungen genutzt, die bisherige Ausstellung bleibt weitgehend unverändert. Die notwendigen Erweiterungen um den Hamburger Widerstand, die Geschichte der Polizei auch vor dem Nationalsozialismus und die politischen Auseinandersetzungen um das Stadthaus nach 1945 sind auf diesem immer noch zu knappen Raum kaum zu realisieren. Seit über sieben Jahren findet an jedem Freitag eine Mahnwache einer kleinen Gruppe von Aktiven statt, die nicht bereit sind, sich mit der aktuellen Situation abzufinden. Sie fordern weiterhin ein  würdiges und umfassendes Erinnern an Täter, Opfer und Widerstand am authentischen Ort. Den Versuch, Erinnern und Kommerz zu verbinden, sehen sie als gescheitert an. Uwe Leps, Jahrgang 1952, pensionierter Berufsschullehrer, Mitbegründer der »Initiative Gedenkort Stadthaus« in Hamburg. http://www.foerderkreis-

Die Grenzen ihrer Sprache sind die Grenzen ihrer Welt

Lohnstückkosten, reale Lohnstückkosten und ganz andere Probleme

Gesamtmetall, der Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie, macht sich Sorgen. Gestützt auf die Forschungen des Instituts der deutschen Wirtschaft teilte der Arbeitgeberverband Ende Januar mit, dass die Lohnstückkosten in der deutschen Metall- und Elektroindustrie über denen der Wettbewerber lägen:

»Im vorliegenden Vergleich weist die deutsche M+E-Industrie zwar die höchsten Löhne, aber nicht die höchste Produktivität auf. Im Resultat liegen die Lohnstückkosten rund 14 Prozent über dem Durchschnitt wichtiger Wettbewerber.«

Bei den Konkurrenten wird unterschieden zwischen den »traditionellen Wettbewerbern« – das waren Österreich, Belgien, Dänemark, Griechenland, Spanien, Finnland, Frankreich, Italien, Japan, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, das Vereinigte Königreich und die USA – und den »neuen Wettbewerbern« Bulgarien, Zypern, Estland, Kroatien, Ungarn, Lettland, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Tschechien und Litauen. Wohlgemerkt, weder China noch Indien tauchen auf dieser Liste auf. Doch selbst ohne Berücksichtigung der Schwellenländer liege die deutsche Industrie zurück. Als Gegenmittel werden eine Steigerung der Produktivität, eine Senkung der Lohnnebenkosten oder eine Verlängerung der Arbeitszeit vorgeschlagen.

Was die Beschreibung der Lage betrifft, äußert sich die amtliche Statistik ähnlich: »Die Arbeitsproduktivität, gemessen als preisbereinigtes BIP je Erwerbstätigenstunde, stagnierte ersten Berechnungen zufolge im Jahr 2024 nahezu (-0,1%). Gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen verringerte sich die Arbeitsproduktivität um 0,4 %. Die durchschnittlichen Lohnkosten, gemessen als Arbeitnehmerentgelt pro Kopf beziehungsweise pro Stunde, stiegen im Jahr 2024 kräftig (+5,2% beziehungsweise +5,3%). Folglich nahmen die Lohnstückkosten – definiert als Relation der Lohnkosten zur Arbeitsproduktivität – zu. Sowohl nach dem Stundenkonzept (+5,4%) als auch nach dem Personenkonzept (+5,5 %) waren die Lohnstückkosten deutlich höher als 2023. Verglichen mit dem Jahr 2019 waren die Lohnstückkosten je Stunde sogar um 20,8% höher.«

Dann allerdings folgt beim Statistischen Bundesamt ein Satz, der dem Alarmismus von Gesamtmetall nicht entspricht: »Der Anstieg liegt jedoch im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten.«

Es gibt noch ein weiteres Problem. Die amtliche Definition der Lohnstückkosten berücksichtigt Preisveränderungen – aktuell also Preissteigerungen – bei der Berechnung der Arbeitsproduktivität. Abgekürzt, wenn auch nicht präzise, schreibt das Statistische Bundesamt vom »preisbereinigten BIP«. Das stimmt strenggenommen natürlich nicht: Ohne Preise könnte man gar kein Bruttoinlandsprodukt ausrechnen. Tonnen von Stahl und Schiffsschrauben, Gebäudereinigung und Gesundheitsdienstleistungen können ohne Preise nicht zusammengezählt werden. Es handelt sich nicht um eine Preisbereinigung, sondern um Bereinigung des Bruttoinlandsproduktes um Veränderungen des Preisniveaus. Wenn bloß ein höherer Preis gezahlt wird, ohne eine Verbesserung des Produkts, steigert das zwar das BIP. Für das »preisbereinigte BIP« wird das aber wieder rausgerechnet – und damit auch für die Berechnung der Arbeitsproduktivität.

Einfach sind solche Berechnungen nicht. Wie die Veränderung von Preisen erfasst wird, wie Qualitätsänderungen berücksichtigt werden, wie die aus den Preisveränderungen verschiedener Waren ein realistischer Durchschnitt bestimmt werden kann – das ist eine Wissenschaft für sich. Aber es ist möglich, und die Ergebnisse solcher wissenschaftlichen Arbeit sollten dann auch verwendet werden.

Sie werden aber nicht immer verwendet. Die zweite Größe, die in die Berechnung der Lohnstückkosten eingeht, sind die Lohnkosten. Hier werden die Preisveränderungen in der amtlichen Definition nicht berücksichtigt. Sachgerecht ist, dass im Arbeitnehmerentgelt nicht nur die ausgezahlten Nettolöhne, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Nicht sachgerecht ist, dass bei den Lohnkosten die Preisveränderungen nicht berücksichtigt werden. Wir müssen in realen Geschäften steigende Preise bezahlen. Deshalb haben die Leute ein Gefühl für das Realeinkommen. Die Statistiker rechnen es so aus: Sie teilen die Einkommensentwicklung durch den Index der Verbraucherpreise. Sie verwenden das Realeinkommen nur nicht bei der Bestimmung der Lohnstückkosten, die damit ein merkwürdiger Zwitter sind: Über dem Bruchstrich steht die nominale Einkommensentwicklung, unter dem Bruchstrich die reale, pr eisveränderungsbereinigte Wertschöpfung.

Was die amtliche Statistik nicht tut, kann man nachholen. Regelmäßig vor Tarifverhandlungen veröffentlichen die Gewerkschaften Berechnungen der »realen Lohnstückkosten«. So kommen die Gewerkschaften zu dem Ergebnis, die deutsche Wirtschaft solle das Jammern lassen und den vorhandenen Verteilungsspielraum anerkennen. Selbstverständlich wissen auch die Ökonomen beim Institut der deutschen Wirtschaft, wie da gerechnet wird. Nur sprechen sie nicht gern darüber. Der Logiker Ludwig Wittgenstein schrieb einst: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Die Grenzen ihrer Sprache sind die Grenzen ihrer Welt. In ihrer Welt soll die Entwicklung der Realeinkommen für die Wettbewerbsfähigkeit im Kapitalismus keine Rolle spielen.

Ebenfalls vom Institut der deutschen Wirtschaft wurde aktuell eine Analyse des leicht gesunkenen Marktanteils der deutschen Exportwirtschaft vorgelegt. Über die Gründe dieser Stagnation gibt es darin aber keine genaue Auskunft: »Insgesamt ist der Befund nicht eindeutig. So hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gegenüber den wichtigsten Handelspartnern auf Basis der verschiedenen realen effektiven Wechselkurse seit 2015 tendenziell leicht verschlechtert, am meisten tendenziell auf Lohnstückkostenbasis. Es erscheint aber kaum plausibel, die leicht verschlechterte preisliche Wettbewerbsfähigkeit als alleinige Ursache für die starke Verschlechterung der deutschen Exportperformance und der deutschen Anteilsverluste bei den globalen Exporten und Importen anzusehen.«

Während Gesamtmetall sich noch ganz sicher gibt, dass ohne Lohndrückerei kein Aufschwung machbar ist, geht diese Analyse etwas unbeholfen von einer deutlich schlechteren »nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit« aus – um dann festzustellen, dass sich diese »nicht-preisliche Wettbewerbsfähigkeit« nicht so richtig messen lasse.

Interessant ist schließlich, dass überhaupt soviel Aufhebens von den Lohnstückkosten gemacht wird. Nach der herrschenden Lehre sollen doch im Außenhandel nur die komparativen Kostenvorteile eine Rolle spielen, die absoluten Kosten dagegen unerheblich sein. Tatsächlich wissen die Unternehmer selbstverständlich, dass es anders ist. Tatsächlich ist die Entwicklung der realen Lohnstückkosten zentral für die Entwicklung der Konkurrenz wie für die Veränderung der realen Wechselkurse der Währungen. Doch lieber wird auf die Untersuchung solcher Zusammenhänge verzichtet, statt auf ein Argument, welches die Belegschaften auf größere Lohnzurückhaltung verpflichtet.

Der Logiker Wittgenstein schrieb auch: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Die Schriftstellerin Christa Wolf antwortete darauf: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören.«

Quellen:

iwconsult für Gesamtmetall: Elfter Strukturbericht für die M+E-Industrie in Deutschland. Mit den Schwerpunktthemen »Beschäftigung in der M+E-Industrie unter Druck« und »Arbeitszeiten und Lohnstückkosten im Vergleich«.

Jürgen Matthes, Samina Sultan: Deutsches Exportmodell unter Druck – eine Analyse der Exportentwicklung nach 2015. Wirtschaftsdienst 2/2025, 118-124.

Bauernkrieg vor 500 Jahren

Die Herren machen das selber…

Im Frühjahr des Jahres 1525 zogen große Bauernhaufen durch die süddeutschen Lande, vereint durch Forderungen, und stellten das Recht ihrer Herren infrage, über Leben, Boden, über Abgaben und Arbeitspflichten zu bestimmen. Was waren die Ursachen dieser Rebellion gegen feudale Herrschaft, welche Gründe veranlassten die Bauern, das Herrschaftssystem infrage zu stellen und zum ersten Mal gemeinsam die Freiheit gemeinsamen Entschließens und Handelns zu wagen?

Die erste große Revolution in der modernen Geschichte wurde von schriftkundigen Predigern der Reformation begründet. Im Februar 1525 verständigten sich Bauern im oberschwäbischen Memmingen auf Zwölf Artikel der Bauernschaft, die so oder in veränderter Form Gründe für den im Frühjahr losbrechenden Aufstand der Bauern benannten. Die Züge der Haufen bewaffneter Bauern breiteten sich schnell von Süddeutschland in die Schweiz und Österreich hinein aus. Die Erhebung hatte Vorläufer in Holland, Ungarn und Slowenien gehabt.

1524 wetterte Thomas Münzer in seiner Hochverursachten Schutzrede bereits gegen Martin Luther, den er als »das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg« ansprach. Den Adligen hielt er vor: »Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muß ich aufrührisch sein! Wohlhin!«

Begehrlichkeiten der Herren

Die Memminger Forderungen richteten sich im vierten bis elften Artikel gegen Privilegien des Adels bei der Nutzung natürlicher Ressourcen: Auch die Bauern sollten Wildbret, Geflügel und Fische fangen und Holz im Wald sammeln dürfen. Dienste und Naturalabgaben sollten beschränkt, Güter verschuldeter Bauern nicht mehr weggenommen werden, Allmenden der Gemeinden weiterhin allen zugänglich sein, Abgaben im Todesfall abgeschafft und Gesetze hinfällig werden, die sich Feudalherren ausgedacht hatten, um die alten Rechte zu übergehen.

Was hatte die Adligen veranlasst, die niedergeschriebenen Rechte aufzukündigen, den Bauern mehr Naturalabgaben und Geldleistungen abzuverlangen und bisherige Nutzungen zu verwehren?

Der Aufstand der Bauern wurde als Frühbürgerliche Revolution beschrieben. Doch wenn etwas frühbürgerlich an diesem Konflikt war, dann der Versuch der Herren, ihre Verfügung über das Land zu festigen und Abgaben der Bauern und Erträge des Feldes in Geld zu verwandeln, mit denen sie neue Luxusgüter kaufen konnten

 Die Entdeckung, dass es unbekanntes Land Richtung Westen gab, das Kolumbus noch für Indien gehalten hatte und dass es dort Edelmetalle zu rauben gab, die sich gegen Luxusgüter auf dem Alten Kontinent eintauschen ließen, war ein wesentlicher Grund dafür, dass herrschende Schichten in Stadt und Land sich nicht mehr mit Naturalien zufriedengeben wollten. Das brachte die gesamte Ökonomie der Bauern durcheinander, die unterschiedlich nach Regionen und Dörfern, auf das gemeinsame Bewirtschaften von Feldern, Wald und Wiesen, auf die Allmende angewiesen waren, um sich selbst ernähren und dazu noch Abgaben in Naturalien und Dienstpflichten an Grundherren und Kirche leisten zu können.

Die Reformation lieferte den Bauern Gründe, ihre Wünsche als gottgefällig zu betrachten. Der reformatorische Angriff auf die Kirche richtete sich gegen deren weltlichen Reichtum und Macht, bestand darauf, Worte der Bibel in der Landessprache zur Richtschnur zu machen und lieferte Argumente gegen die Leibeigenschaft: »Deshalb ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen«, hieß es im dritten Artikel. Artikel eins und zwei verlangten, dass die Bauerndörfer einen Zehnten, also ein Zehntel der Ernte in Naturalien, ausschließlich für den Prediger verwenden sollten, den die Gemeinschaft selbst wählen und absetzen würde. Das war nun etwas mehr als der Wunsch, nicht so viele Abgaben leisten zu müssen. Das war eine Kriegserklärung an feudale und ständische Herrschaft insgesamt.

Früh-Kapitalismus?

Im Frühjahr 1525 waren die Bauern überraschend erfolgreich gewesen. Sie erlebten im gemeinsamen Zug von Dorf zu Dorf, von Kloster zu Stadt ein ungeahntes Gefühl der Freiheit, selbst zu bestimmen, was sie als nächstes tun sollten und lernten andere Gegenden und ihresgleichen in ähnlicher Lage kennen. Das Verhalten der Bauern sprengte alles bisher Dagewesene: Der Adel hatte das Monopol auf Waffen und Gewalt gehabt und nun erdreisteten sich Bauern, mit Messern und zu Spießen umgeschmiedeten Sensen und mit Unterstützung von Landsknechten und Städtern gegen die Leibeigenschaft anzugehen.

War der Bauernaufstand eine frühbürgerliche Revolution? Wäre der Kapitalismus früher gekommen, wenn die Bauern gesiegt hätten?

Das Ziel des Aufstands lag kaum in einer Überführung des grundherrlichen Landbesitzes in bürgerliches Privateigentum. Er richtete sich vielmehr gegen das frühbürgerliche Bestreben, noch stärker über das Land der Bauern zu verfügen und die Allmende exklusiv für den Grundbesitzer in Anspruch zu nehmen. Das Bündnis der Bauern mit ständisch organisiertem Gewerbe in Dörfern und Städten hatte eher das Ziel, gemeinsam Ansprüche der Feudalherren abzuwehren, als zum genossenschaftlichen Bewirtschaften des Bodens überzugehen.

Spätestens der Krieg der Bauern gegen die Herren waren der Grund für Reformatoren wie Martin Luther, die Seite zu wechseln. Nach Ausbruch des Aufstandes schrieb er im April 1525 sein Pamphlet »Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren«, man möge sie wegen der Infragestellung der Herrschaft »zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss«. Es sollte nicht mehr die Freiheit des Christenmenschen gelten, seine reformierte Religion zu wählen.  Spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg entschieden wieder die Herren, was Untertanen glauben sollten.

Die Gegner der umherziehenden Bauernhaufen organisierten sich bald. Nach anfänglicher Verwirrung besannen sich Geistlichkeit und Adel auf gemeinsame Interessen am Herrschaftserhalt. Der Schwäbische Bund der süddeutschen Feudalherren ging zum Gegenangriff über und hatte den Vorteil, dass der Adel Monopol an Waffen und Waffenübung hatte und die Bauern nicht gewohnt und nicht geübt waren, mit Schwert und gegen Reiterei zu fechten. Am 15. Mai 1525 erlitt das Bauernheer unter Thomas Müntzer in Frankenhausen in Thüringen eine entscheidende Niederlage – Tausende von Bauern wurden abgeschlachtet und Felder und Gewässer füllten sich mit dem Blut der ermordeten Bauern. Es folgte exemplarische Rache – Adlige ließen Bauern zu Hunderten hinrichten, obwohl es ja ihre Arbeitskräfte waren, die ihre Nahrungsmittel anbauten. Die Verteidigung des Prinzips der Adelsherrschaft war aber wichtiger als zeitweiliger Arbeitskräftemangel. Der Sieg der Fürsten bef estigte auf Jahrhunderte die Vorherrschaft der Feudalen, erschütterte zugleich das Vertrauen der Bauern in ihre Herren nachhaltig, weil die in ihrer Messer- und Gabelfrage keine christliche Barmherzigkeit kannten.

Verfehlte Hoffnungen

Drei Jahre Tesla in Grünheide

Am 22. März feiert der E-Autobauer Elon Musk in Grünheide den dritten Jahrestag seiner Werkseröffnung – Anlass, die anfangs damit verbundenen Hoffnungen auf eine Beschleunigung der Mobilitätswende, auf eine Entkopplung von industriellem Wachstum und Umweltzerstörung und auf die Schaffung Zigtausender guter Arbeitsplätze in einer strukturschwachen Region Ostdeutschlands auf ihre Realisierung zu überprüfen.

Erste Hoffnung: Die Produktion von Tesla-Autos in Grünheide wird die Verkehrswende hin zu emissionsarmer Mobilität beschleunigen.

Will man überprüfen, ob die in Grünheide produzierten Fahrzeuge einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten, sollte man sich nicht nur von den Produktionszahlen leiten lassen. Interessanter ist die Frage, ob Teslas des Typs Y, wie auch vergleichbare Elektro-SUVs anderer Hersteller, tatsächlich zur Einsparung von Treibhausgasen führen. Die aber findet nicht statt, zumindest wenn man nicht nur den Fahrbetrieb betrachtet, sondern den Nutzungszyklus eines Autos einbezieht, darunter auch die Fahrzeugproduktion.

Erstmals belegte dies eine Studie des schwedischen Umweltforschungsinstituts IVL. Zum selben Ergebnis gelangte der Verein Deutscher Ingenieure vor gut einem Jahr. Beiden Analysen zufolge tritt eine CO2-Ersparnis bei E-Autos im Vergleich zu Benzin- oder Dieselfahrzeugen erst nach 200.000 Fahrkilometern ein. Die Lebensdauer der Batterien ihrer Fahrzeuge garantieren die meisten der E-Auto-Produzenten jedoch nur für 160.000 Kilometer. Bis die CO2-Last, die dem Fahrzeug durch die Batterieproduktion aufgebürdet wurde, abgebaut sein wird, wird das Fahrzeug also gar nicht mehr oder aber mit einer neuen Batterie unterwegs sein. Die Behauptung eines Klimanutzens, beruht auf fehlerhaften Annahmen:

1. Der CO2-Ausstoß von Elektrofahrzeugen während der Fahrt wird mit Null veranschlagt. Dies ist unstatthaft, da Ladestrom nicht gänzlich aus Erneuerbaren Energien hergestellt wird.

2. Es wird davon ausgegangen, dass der Strom, der für die Erzeugung der Batterien benötigt wird, mit dem heutigen in Deutschland üblichen Strommix oder künftig mit vollkommen grünem Strom erzeugt wird. Batterien werden aber aus wirtschaftlichen Gründen hauptsächlich in China produziert. Nicht nur ist der Anteil des Kohlestroms im chinesischen Strommix mit 60 Prozent relativ hoch. Die absolute Menge der verstromten Kohle hat sich dort zudem seit 2020 versechsfacht. Kohlendioxid befördert die globale Erderwärmung aber nicht weniger, nur weil es in China und nicht in Deutschland angefallen ist.

Außerdem hat der Schwenk zur E-Mobilität zu immer größeren und schwereren Fahrzeugen geführt. Fahrzeuge mit hohen Reichweiten, wie sie vom Kunden gewünscht und von der Industrie wegen höherer Gewinnmargen produziert werden, benötigen schwere Batterien. Schwere Batterien bedingen vergrößerte Radabstände der Fahrzeuge und aus Sicherheitsgründen schwerere Karosserien.

Die Breite der in Europa neu zu-gelassenen PKW nimmt alle zwei Jahre um einen Zentimeter zu. Betrug der Anteil der erworbenen SUVs im Jahr 2000 nur 3 Prozent, stieg er bis 2022 auf knapp 50 Prozent. Diese Entwicklung wird durch den Umstieg auf batterieelektrische Fahrzeuge befördert.

Elektro-SUVs wie der Tesla Y benötigen nicht nur große Mengen von Rohstoffen wie Aluminium, Nickel, Lithium, Kobalt, Mangan, Kupfer, Graphit und Seltene Erden. Die CO2- Last, die die Batterie eines Tesla Y mit einer Kapazität von 70 Kilowattstunden bei ihrer Produktion erzeugt, beträgt sechzehn Tonnen. Bei einem E-Golf mit einer Batteriekapazität von fünfzig Kilowattstunden beträgt sie nur zehn Tonnen. Und noch andere Umweltschäden werden von schweren Elektro-SUVs erzeugt: Ein zwei Tonnen schweres Fahrzeug wie der Tesla Y führt zu einer sechzehnmal höheren Abnutzung von Asphalt als ein halb so schweres Auto. Ein Benzinauto, das mit drei Litern Benzin auf 100 Kilometern auskommt, erzeugt somit einen viel geringeren ökologischen Fußabdruck als ein E-SUV und beansprucht zudem weniger Raum auf Straßen und Parkflächen.

Zweite Hoffnung: Mit der Produktion von Elektrofahrzeugen gelingt eine Entkopplung von industriellem Wachstum und Umweltzerstörung.

Wird schon das Ziel, durch das Produkt E-Auto umweltschädliche Treibhausgase einzusparen, speziell für große Elektro-SUVs nicht erreicht, addieren sich zusätzlich lokale und durch die benötigten Rohstoffe globale Umweltschäden. Für die Errichtung der Gigafabrik wurden in Grünheide bis zum Frühjahr 2023 500.000 Bäume gefällt. Ein geschlossenes Waldgebiet ging verloren und kann seine Funktion als CO2-Senke nicht mehr erfüllen. Weitere Probleme bringt die Lage der Grünheider Fabrik in einem Trinkwasserschutzgebiet mit sich. Der Streit mit dem lokalen Wasserversorger um eine Priorisierung der Versorgung Teslas gegenüber Privathaushalten, die Auseinandersetzungen infolge der Verweigerung einer Grundwasserüberwachung unter dem Werksgelände durch eine von Tesla unabhängige Firma und der Protest gegen die ständige und beträchtliche Überschreitung von Grenzwerten im Abwasser ziehen sich durch alle drei Jahre des Betriebes der Fabrik  und spitzten sich zu.

Global erzeugt insbesondere der Lithiumabbau irreversible Schäden in fragilen Ökosystemen, wie den Salzseen der Atacamawüste. Auch der Critical Raw Materials Act der Europäischen Union vom April vergangenen Jahres, der unter anderem eine Verlagerung des Lithiumabbaus nach Europa anstrebt, vermeidet Umweltprobleme nicht. In Serbien wird eine Schädigung des Grundwassers durch einen Lithiumabbau in der Jadar-Mine befürchtet. Die örtlichen Behörden sind nicht in der Lage, die Anwendung rechtsstaatlicher Standards zu gewährleisten. Umweltaktivisten diffamiert der Staatspräsident als Staatsfeinde, Verräter und ausländische Söldner. Sogar Morddrohungen hat es gegeben.

Dritte Hoffnung: In Grünheide werden gute Arbeitsplätze geschaffen.

Die Definition guter Arbeitsplätze sollte die Sinnhaftigkeit der Arbeit einschließen. Automobile zu produzieren, wenn es so schon zu viele Autos auf den Straßen gibt, Rohstoffe zu verbrauchen, wo Rohstoffmangel herrscht, und Trinkwasser zu gefährden, wo auch Trinkwasser ein knappes Gut ist, kann keinen Sinn ergeben. Ein reiner Antriebswechsel bei Individualfahrzeugen, der keines der bestehenden Probleme im Verkehrssektor löst, kann nicht durch das bloße Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen Sinnhaftigkeit erlangen.

Auch sind die Arbeitsbedingungen bei Tesla keine guten. Hohe Krankenstände unter der Belegschaft werden von Insidern starker Arbeitsbelastung bei zu geringen Ruhephasen zugeschrieben. Der Stern konnte zwei Journalistinnen ins Werk schleusen. Die konstatierten einen unzureichenden Arbeitsschutz. Der Werksleiter und sein Personalchef bauten mittels unangekündigter Krankenbesuche Druck gegenüber ihren krankgeschriebenen Mitarbeiter:innen auf. Eine für Bewerber:innen um einen Arbeitsplatz bestehende Verpflichtung, mit dem Arbeitsvertrag fünfseitige Geheimhaltungsklauseln zu unterschreiben, wie auch die gängige Überwachung ihrer Mobiltelefone, erzeugt eine Atmosphäre der Angst. Die Erschwerung der Arbeit der Gewerkschaft IG Metall und die Kündigung zweier Betriebsräte vervollständigen das negative Bild.

Menschen aus 150 Nationen, die Unfrieden und Armut in ihren Heimatländern nach Berlin getrieben haben, pendeln von dort in die Grünheider Gigafabrik. Der vorige Wirtschaftsminister Brandenburgs, Jörg Steinbach, deutete dies als Zeichen der Inklusivität und Diversität, die bei Tesla gelebt würden. Wenn aber eine Anstellung bei Tesla für diese Menschen im Zweifelsfall den Unterschied zwischen einer Einbürgerung und möglicher Abschiebung bedeuten kann, stellt das eine starke Motivation dar, auch schlechte Arbeitsbedingungen zu ertragen. 

Elons Pfeife

Die Bilanz fällt negativ aus. Tesla-Grünheide hat keine der Hoffnungen erfüllt. Die Zulieferindustrie und Gewerbe aus der Region profitierten nicht von der Werksansiedlung. Die Reifen des Herstellers Goodyear im benachbarten Fürstenwalde waren Tesla zu teuer. 750 Stellen wird die Firma bis 2027 daher abgebaut haben.

Das ehemals idyllische Lebensumfeld Grünheides ist einer gigantischen Industrieansiedlung gewichen, die die örtliche Infrastruktur hoffnungslos überlastet. Bedürfnisse und Haltung der Bürger:innen spielten zu keinem Zeitpunkt eine Rolle. Ihr Negativvotum bei einer Befragung zu einer geplanten Flächenerweiterung wurde nicht respektiert.

All dies beschädigte das Demokratieverständnis der Menschen. Die Vertreter letztlich aller Parteien buckelten vor Elon Musk. Der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke und sein Wirtschaftsminister Steinbach, beide SPD, rollten dem Investor den roten Teppich aus. Das von einem grünen Minister geleitete Umweltministerium mit seinen Behörden missachtete jedes Gesetz, das dem schnellen Baufortschritt Teslas im Wege gestanden hätte. Der CDU-Innenminister ersann Tricks, um eine genehmigte Waldbesetzung durch Klimaaktivisten gewaltsam zu beenden. »Die Linke« hatte primär die geschaffenen Arbeitsplätze im Fokus.

Wenn somit alle demokratischen Parteien dem genialen Investor Musk huldigten, konnte bei der Wahl zum Bundestag nur die Partei profitieren, der Elon Musk huldigt. Bis kurz vor der Wahl war die AfD die einzige Partei, die Wald und Wasser in Grünheide eine Bedeutung beizumessen schien. Inzwischen fordert sie die Politik auf, den Druck auf den regionalen Wasserverband zum Abschluss eines Knebelvertrages mit Tesla zu erhöhen. Wie Musk sich dafür bedanken wird, lässt sich nach den Wahlen in den USA vorstellen. Heidemarie Schroeder ist Anwohnerin Grünheides und Mitglied von Bürgerinitiativen. Am 5. Februar ist ihr Buch »Eine Gigafabrik in Grünheide oder der Albtraum vom grünen Kapitalismus« im Büchner-Verlag erschienen. 200 Seiten für 2

Am Arsch vorbei

Der Umgang mit Trinkwasser ist weder verantwortungsvoll noch nachhaltig

In kaum einem anderen Bereich des täglichen Lebens kommt die Geringschätzung elementarer Lebensgrundlagen deutlicher zum Ausdruck als bei der Entsorgung unserer Fäkalien mit Hilfe des wichtigsten uns zur Verfügung stehenden Lebensmittels – dem Trinkwasser.

Die bis heute gebräuchliche Verwendung sauberen Trinkwassers für alle häuslichen Anwendungen inklusive der Toilettenspülung hat ihren Ur-
sprung in der seit Ende des 19. Jahr-hunderts üblichen Beschränkung auf nur ein Leitungssystem. Anders formuliert: Sie entstammt einer Zeit, in der auf den Straßen noch Pferdekutschen und Handkarren unterwegs waren und die Menschen im schwachen Licht von Petroleumlampen beieinandersaßen.

Laut einer Umfrage der Universität Göttingen im Jahre 2024 schätzten die Befragten den Anteil des für Essen und Trinken verwendeten Wassers mit 16 Prozent gleich hoch ein wie den Bedarf für die Toilettenspülung. Tatsächlich beträgt der Anteil des in deutschen Haushalten als Nahrungsmittel oder für die Nahrungszubereitung genutzten Wassers jedoch gerade einmal vier Prozent. Für die Toilettenspülung wird dagegen fast ein Drittel der Wassermenge verbraucht. Über 40 Prozent des täglichen Haushaltsbedarfs, zu dem auch die Wäschereinigung zählt, ließen sich mit Wasser abdecken, das nicht zuvor aufwendig zu Lebensmittelqualität aufbereitet worden ist.

In vielen Gebieten der Erde ist sauberes Trinkwasser nur begrenzt oder überhaupt nicht verfügbar. Während der zurückliegenden trockenen Jahre kam es auch in Europa zu Engpässen bei der Wasserversorgung, was häufiger zu Auseinandersetzungen führte. Insbesondere in der Landwirtschaft sieht man sich angesichts extremer Wetterlagen mit teils existenzbedrohenden Ertragseinbußen konfrontiert, obwohl weltweit immer größere landwirtschaftliche Flächen bewässert werden.

Von den in Deutschland im Jahre 2019 aus Grund- und Oberflächenwasser entnommenen 20 Milliarden Kubikmetern Wasser entfielen 44 Prozent auf die Energieversorger, knapp 27 Prozent auf Bergbau, ebenfalls 27 Prozent auf verarbeitendes Gewerbe und öffentliche Versorger und etwas mehr als zwei Prozent auf die Landwirtschaft.

Entnahmen

Die enormen Wassermengen zur Kühlung von Kraftwerken werden zwar Flüssen entnommen und wieder eingeleitet, was aber zu deren Erwärmung beiträgt. Große Industrieunternehmen nutzen Oberflächengewässer. Zur Absicherung des Förderbetriebs im Bergbau sind seit den 1950er Jahren, meist ohne jede nachfolgende Verwendung, enorme Grundwassermengen abgepumpt worden. Allein für die Braunkohletagebaue in Nordrhein-Westfalen wurden während der 1960er und 1970er Jahre jährlich zirka 1,2 Milliarden Kubikmeter Grundwasser in Flüsse entsorgt, und noch heute sind es 500 Millionen Kubikmeter pro Jahr. Für die massive Schädigung der Grundwasserkörper musste Rheinbraun (heute RWE) jahrzehntelang nicht einen Cent bezahlen. Im niederschlagsarmen Osten der Republik sind die Zahlen für den dortigen Tagebau nahezu gleich, mit jedoch noch extremeren Auswirkungen auf die Wasserverfügbarkeit.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der tatsächliche Verbrauch insbesondere für Industrie und Landwirtschaft höher ist als offiziell angegeben. Umweltgruppen und Journalisten konnten in den vergangenen Jahren aufdecken, dass Landwirte häufig ein Vielfaches der ihnen zugestandenen Wasserentnahme für ihre Felder abpumpten. Die daraufhin eingeschalteten regionalen Behörden schien dies nie sonderlich zu interessieren. Auch Industriebetriebe mit eigenen, leistungsfähigen Brunnenanlagen möchte man anscheinend nur ungern durch Kontrollen verärgern.

Nach dem vergangenen regenreichen Jahr überraschen uns nun Warnungen vor einer langfristig drohenden Wasserknappheit in Deutschland. Flutkatastrophen wie im Jahr 2021 vermitteln zunächst nicht den Eindruck, dass wir uns wegen eines Mangels an Wasser sorgen sollten. Tatsächlich aber widerspricht die Häufung von Hochwasserereignissen nicht dem schon heute nachweisbaren erheblichen Wasserverlust während der vergangenen 20 Jahre.

Denn mit der Klimaerwärmung nimmt nicht nur die Niederschlagsmenge, sondern auch die Verdunstung zu. Nach den Messungen des Deutschen Wetterdienstes verdunsten im jährlichen Mittel etwa 70 Prozent der Niederschlagsmenge, was durch die steigende Menge versiegelter Flächen noch begünstigt wird.

Große Probleme bereitet das bisherige Bestreben, Niederschläge schnellstmöglich durch Kanalsysteme abzuleiten und Flüsse nicht nur zu begradigen, sondern auch die für den Hochwasserschutz wichtigen Auenflächen für den Siedlungsbau oder für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Auf diese Weise können die Niederschläge nicht zu einer Grundwasserneubildung beitragen, sondern führen bei Starkregen zu noch extremeren Hochwasserereignissen.

Knappes Gut

Noch immer scheint eine Auffassung vorzuherrschen, die in Deutschland verfügbaren Wasserreserven seien nahezu unerschöpflich. Anders ist die vielerorts waltende Sorglosigkeit insbesondere bei der Vergabe von Entnahmerechten auf Jahrzehnte für Kohlebergbau, Industrie- und Mineralbrunnenanlagen nicht zu erklären. Entnahmeentgelte, sofern überhaupt erhoben, bewegen sich im Bereich weniger Cent pro Kubikmeter und stellen keinen Anreiz für Sparmaßnahmen dar. Die Zugeständnisse des ohnehin niederschlagsarmen Landes Brandenburg bei der Ansiedlung einer Teslafabrik haben traurige Berühmtheit erlangt. (Siehe auch den nachfolgenden Artikel „Verfehlte Hoffnungen – Drei Jahre Tesla in Grünheide“ auf Seite 59.)

Eine im Auftrag des Umweltbundesamtes erstellte aktuelle Studie weist für Deutschland eine Reihe von Risikogebieten aus, in denen das Grundwasser während künftiger Trockenperioden knapp werden könnte. Angesichts jahrzehntelanger Tagebautätigkeit überrascht die Nennung der Lausitz kaum, doch auch in der ursprünglich wasserreichen Niederrheinischen Bucht werden sich die Langzeitfolgen des Braunkohletagebaus spürbar auswirken. Aufgeführt sind Regionen in der Nähe großer Ballungsräume wie Hannover, Frankfurt am Main oder Ludwigshafen und auch Berlin. Dort dürfte das bevorstehende Ende des Tagebaus wegen der dann ausbleibenden Grundwasserableitung in die Spree zu erheblichen Problemen führen, so dass schon der Bau einer Transportleitung für jährlich bis zu 60 Millionen Kubikmeter Wasser aus der Elbe erwogen wird.

Wegen der geringer werdenden Zuflüsse aus der Schneeschmelze und der Zunahme längerer Trockenphasen sind Konflikte mit den Anrainerstaaten absehbar. Auch in Tschechien steigt der Wasserbedarf, weshalb am dortigen Oberlauf der Elbe mehr Wasser in den Talsperren zurückgehalten wird.

Vieles deutet darauf hin, dass die Trinkwasserversorgung in Zukunft deutlich teurer werden wird. Schließlich ist der Mangel an sauberem Wasser nicht ausschließlich ein mengenmäßiges Problem. Wegen der zunehmenden Belastung sowohl der Oberflächengewässer als auch des Grundwassers durch Nitrat, Pestizide, Mikroplastik, Medikamente und Chemikalien werden die Versorgungsunternehmen zusätzliche Reinigungsmaßnahmen durchführen müssen. Die Nitratkonzentration auf landwirtschaftlichen Flächen wird noch dadurch erhöht, dass die Anbaupflanzen bei anhaltender Trockenheit nicht mehr in der Lage sind, die ausgebrachten Düngermengen aufzunehmen. Dass man die Situation in Deutschland durch den Import niederländischer Gülle verschärft, sei hier nur am Rande erwähnt.

Gesunkene Pegel

Die Beanspruchung der natürlichen Grundwasserspeicher durch zu hohe Entnahmen führt zunächst zu einem Absinken des Grundwasserspiegels, zu Bodensenkungen, Wasserverlust und Vegetationsschäden an der Oberfläche. In vielen Regionen Deutschlands haben sich die Grundwasserstände nach den trockenen Sommern 2018 bis 2022 trotz der folgenden beiden niederschlagsreichen Jahre noch nicht wieder erholt. Schließlich findet eine unterirdische Druckumkehr statt, da durch den nachlassenden Tiefendruck ein Herabströmen verunreinigten Oberflächenwassers hervorgerufen wird, so dass ganze Grundwasserkörper verunreinigt werden. Für die Sicherung unserer Trinkwasserversorgung hinsichtlich Menge und Qualität ist es daher entscheidend, die Grundwasserentnahmen auf das absolut notwendige Maß zu reduzieren.

Viele Anwendungen in Industrie und Landwirtschaft, aber auch in den privaten Haushalten erfordern nicht hochwertiges Grundwasser. Womit wir wieder bei der Toilettenspülung angekommen sind.

In der Städteplanung hat mit dem Konzept der sogenannten Schwammstadt bereits ein Umdenken eingesetzt. Ein möglichst großer Anteil des Niederschlagswassers soll nicht sofort abgeleitet, sondern vor Ort genutzt oder für die Grundwasserbildung versickert werden. Auch bei der Regenwassernutzung in Gebäuden wird durch die Speicherung der von den Dachflächen abfließenden Niederschläge zunächst eine Verringerung der Abflussspitzen bewirkt. In Neubaugebieten kann bei entsprechender Vorplanung daher mit geringeren Kanalquerschnitten gearbeitet werden. Zusätzlich möglich ist der Einsatz von Retentionstanks, die ihren gespeicherten Inhalt ganz oder teilweise zeitverzögert in das Kanalnetz abgeben.

Das bestenfalls unterirdisch gespeicherte Regenwasser hat bei fachgerechter Installation etwa Badegewässerqualität, ist weich, und damit nicht nur für die Toilettenspülung, sondern auch ideal für den Betrieb der Waschmaschine oder zum Putzen verwendbar. Wodurch sich, wie eingangs ausgeführt, in der Regel über 40 Prozent des Trinkwassers einsparen ließen.

70 Prozent der jährlich 5,5 Milliarden Kubikmeter für die öffentliche Trinkwasserversorgung werden aus Grund- und Quellwasser bestritten, und diese Menge macht 62 Prozent des gesamten Grundwasserbedarfs aus. Es ergibt sich daraus, dass bisher ein Viertel des in der Bundesrepublik geförderten, hochwertigen Grundwassers im WC, oder in der Waschmaschine landet.

In Mehrfamilienhäusern rechnen sich auch teurere Anlagen zur Grauwassernutzung, in denen Duschwasser aufgefangen und nach Filterung für WC und Waschmaschine bereitgestellt wird.

Infolge des Klimawandels registrieren die Versorgungsunternehmen in den Trinkwassernetzen schon heute bedenkliche Temperaturen von bis zu 25 Grad, so dass jede Verringerung der Verbrauchs- und Durchflussmengen neue Herausforderungen mit sich bringen wird.

Zur Verringerung einer weiteren Trinkwassererwärmung im Gebäude werden strengere Vorschriften für die Sanitärinstallation und zunehmend auch eine aktive Kühlung der Rohrleitungen notwendig sein. Die Abwasserkanäle benötigen einen ausreichenden Spülstrom. Künftig wird man wohl über eine Verringerung der Leitungsquerschnitte nachdenken müssen. Die anderenfalls erforderlichen hohen Wasserdurchleitungen und -verbräuche werteten kostbares Grundwasser zu einem Spülmedium herab, und diesen Luxus können wir uns nicht länger leisten.

Reinhard Noffke, Jahrgang 1964, wohnt im Süden Mönchengladbachs, nur wenige Kilometer vom Tagebau Garzweiler II entfernt. In einer Reihe von Artikeln für Lunapark21 hat er das Ausmaß der für den Kohleabbau betriebenen Umweltzerstörung beschrieben:

Die Macht der Frauen

Von der Mittäterschaft zur Tat?

Unter den Verordnungen, die Donald Trump am ersten Tag seiner erneuten Präsidentschaft erließ, ist auch ein Dekret zur Erneuerung der Geschlechterdualität, wonach es »nur noch Männer und Frauen geben« werde.

Ist das nur die unbeholfene Replik auf die zunehmende Weigerung der Frauen, ihren Platz in der Geschlechterhierarchie einzunehmen, und die »gesichtslose« First Lady bei der Inauguration ein Vorgeschmack darauf, welchen er für Frauen vorgesehen hat? Es ist wohl komplizierter.

Im Getöse um die drohenden wirtschafts- und verteidigungspolitischen Konsequenzen und des Migrationsdesasters, die die Experten verzweifelt herunterzudimmen bemüht sind, mag das Dekret »Zur Verteidigung der Frauen vor dem geschlechterideologischen Extremismus …«1 als Petitesse erscheinen, nur eine kurze Erwähnung wert. Dabei hat der Präsident es offenbar sehr wichtig damit, gleich am ersten Tag der objektiv doch recht kleinen LGBTIQ+-Community den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Womit er auch einigen unserer rechtskonservativen und ultrarechten Möchtegern-Machthaber:innen aus der Seele sprechen dürfte.

Doch welche Relevanz hat diese Rekonstruktion des Eindeutigen für ihre Kernanliegen? Es geht vermutlich weniger um eine gar nicht mehr erreichbare »Bereinigung« der Bevölkerung. Wer sich als Führer:in aus dem gesellschaftlichen Chaos inszeniert, muss Komplexität reduzieren und »Woke« lassen sich nicht mit einfachen Wahrheiten abspeisen, wer für Diversität steht, stützt keine Antimigrationspolitik. Also weg mit Gender-Gaga, weg mit allem Uneindeutigen – mit Konsequenzen auch für cis- und Heterofrauen. Dann sind, so das recht schlichte Kalkül, auch die Positionen und Aufgaben wieder klar und die Hierarchien wieder hergestellt, Männer die Macher und Frauen schutzbedürftig, was das Dekret nahelegt, das geschickt mit dem Schutz der Frauen argumentiert und sich nicht scheut, dazu die unselige feministische Diskussion auszuschlachten. Mit der Austreibung des Genderpopanz nicht nur die Geschlechter- sondern die Ordnung insgesamt »wieder«  herstellen – mit dem »Genderismus« auch den »Multikulturalismus« und womöglich auch noch Klimawahn und Gleichmacherei austreiben? Eine Menge Leute scheint das zu beruhigen.

Dabei hätten die reaktionären Kräfte gar nicht so viel zu fürchten, zeigt doch unsere sogenannte Zeitenwende, wie labil die kleinen Erfolge im Bemühen um einen anderen Politikstil waren, wie schnell die in 50 Jahren Frauen-, Alternativ- und Friedensbewegungen erreichten Anfänge anderer Formen der Konfliktlösung, des Umgangs mit dem anderen und auch mit politischen Gegnern, zum Irrtum der Geschichte werden konnten. Dass die alte Verteidigungs- und Unterwerfungslogik, ohne Gedanken für andere Optionen zuzulassen, in kürzester Zeit das Einverständnis einer Mehrheit der Bevölkerung fand, auch Grüner und Linker, und dass auch reflektierte Frauen auf die Panikmache der nächstens bei uns marodierenden Russen einstiegen und sich womöglich demnächst vor Flüchtlingen nicht mehr sicher fühlen – während sie heute gegen den Rechtsruck demonstrieren –, deutet darauf, wie tief die patriarchalen Strukturen sitzen, die einer feministischen W ende im Weg stehen.

So viel schien erreicht und doch sind wir nicht weiter? Abgründig genug, wenn sich amerikanische Männer an der Omnipotenz-Protzerei des Kandidaten aufgeilten und sich mit seiner sexistischen Unverschämtheit identifizierten. Aber Frauen, womit haben sie sich da identifiziert?

Wie konnten sie nur Trump wählen?

Überhaupt, so ein gern vorgebrachtes Ablenkungsmanöver, wenn es um verfehlte oder Frauen schädigende Politik geht, Frauen selbst dulden doch, unterstützen oder vertreten sogar in eigener Person häufig ihren Interessen zuwiderlaufende Handlungen! Noch immer auch im globalen Norden, wo ihnen inzwischen ganz andere Möglichkeiten offenstehen. Die gibt’s, das ist nicht von der Hand zu weisen. Beste Beispiele die in der Ampel ungewöhnlich große Zahl an Ministerinnen und führenden Abgeordneten, unter denen manche sich berufen fühlt, nicht nur ihren Mann, sondern ihren Macho zu stehen, von der Grenzschützerin bis zur Waffenexpertin.

Die Frage, warum das so ist, wird selten und wenn, dann eher rhetorisch gestellt. Warum votieren manche gegen die Beseitigung des §218, küren einen Kriegstreiber zum beliebtesten Politiker oder rufen selbst nach Waffen, positionieren sich gegen Quoten, wählen einen ausgewiesen frauenverachtenden Sexisten zum Präsidenten oder influencen als »Trad-Wife« für ein Dasein als traditionelle Hausfrau? Um nur einige Beispiele aus den sogenannt zivilisierten Regionen zu nennen. Internalisierter Masochismus oder selbstverletzender Antifeminismus? Läuft es ihren Interessen am Ende gar nicht zuwider – wie die Rechten und die Religiösen behaupten, zumal in den USA, dem gelobten Land der Sekten und christlichen Fundamentalisten? Stockholmsyndrom, die »positive« Beziehung, die das Opfer zum Täter aufbaue, dem es nicht entkommen kann, läge nahe angesichts der gewaltvollen Geschichte der Geschlechter-Beziehungen.

Diese »freiwillige« Selbstunterwerfung, wurde in der westdeutschen Frauenbewegung anhand der Mittäter-These2 bereits in den 1980ern diskutiert. Die »Bereitschaft zur Duldung, Unterstützung oder Nichtzuständigkeit«, über die Frauen den Triumpf des Patriarchats permanent mit reproduzieren und direkt oder indirekt daran partizipieren. Die Fähigkeit zu extremer Selbst- und Realitätsverleugnung, im Extrem die der nationalsozialistischen Mütter, die ihre heile Familie von der Massenvernichtungsrealität abzuspalten vermochten. Eine Analyse – keine Entschuldigung, für keine Seite –, die die zur Betroffenheit neigenden Diskutantinnen buchstäblich allein ließ und in ihrer Erbarmungslosigkeit keinen Ausweg anbot.

Welche Machtstrukturen hinter diesem Phänomen stehen, machen unter anderem die Frauenhaus- und Anti-Gewalt-Initiativen sicht- und die Schwierigkeiten, aus dem System auszuscheren, verstehbar. Das ganze Ausmaß psychischen, physischen und ökonomischen Machtmissbrauchs, den Männer gegen »ihre« Frauen richten, und das besonders häufig mit tödlichem Ausgang, wenn diese sich zu entziehen suchen, wird erst in den letzten Jahren wahr- und ernster genommen. 360 Femizide in 2023 gingen nicht auf das Konto von durchgedrehten »Ausreisepflichtigen«und sexualisierte Gewalt geht am wenigsten von Transfrauen in Frauensaunen aus. Erschütternd das Fehlen jeglichen Unrechtsbewusstseins ganz einfacher Männer, wie es im Prozess der Gisèle Pelicot deutlich wurde, so wie auch die Selbstverständlichkeit, mit der sexualisierte Gewalt allüberall im Alltag hingenommen und geduldet war und trotz MeToo noch immer ist: auf Bewerbungscouchen oder den After-Show-Parties  egomaner Popstars und heute im Netz, wo die Silicon-Valley-Bros nicht nur Incels und Maskulisten – die erbärmlichste Variante des Frauenhasses – eine wohlwollende Bühne bieten, um Frauen zu erniedrigen. Das führt zu der Frage, welche kognitive Dissonanz, es Männern seit Jahrhunderten erlaubt, Frauen klein zu halten, zu verunsichtbaren, zu demütigen und zugleich versessen darauf zu sein, mit den so Verachteten Tisch und zumindest Bett zu teilen? Einer Antwort darauf bedarf es allerdings nicht, um das böse Spiel zu durchbrechen.

Frauen sind schon seit einer Weile dran. Doch bislang bleiben die Bemühungen um Veränderung einseitig, bleiben bei den Frauen, während die Jungs vor Selbstgerechtigkeit strotzen und Rückenwind von echten und falschen Denunziantinnen bekommen. Solange aber das Gros der Männer seinen Anspruch auf mindestens eine und möglichst willfährige Frau nicht hinterfragt und es nach wie vor nicht für nötig befindet oder nicht dazu genötigt wird, sich mit den eigenen irrigen bis irrsinnigen Vorstellungen von Mannsein auseinanderzusetzen, nutzen auch Gewaltschutzgesetze nur sehr begrenzt, als Notversorgung. Deshalb ist es an den doch nicht mehr so ganz seltenen Gutwilligen, ihren Geschlechtsgenossen Dampf zu machen.

Rechtsnationale Frauen-Power

Statt einer Massenbewegung selbstreflektierender Männer aber wird mit der Zeitenrückwende gerade wieder die echte Männlichkeit hervorgekramt.

Zwar dürfte sowas wie das Trump’sche Schmierentheater mit seinen Tech-Groupies im hochkultur-verwöhnten Europa – noch – die Massen nicht in Jubel versetzen, jedenfalls solange die spaßorientierte Jugend nicht mitwählt. Aber das Patriarchat ist beharrlich, auch in weiblicher Gestalt. Denn während in USA noch der offene Machismo zelebriert wird, steigen in den drei großen EU-Ländern Frauen in den Ring für einen rechtsnational-antifeministischen Kurs. Dabei machen sie nicht den Eindruck, als würden sie von ihren Parteien vorgeschickt, um das weibliche Wählenden-Potenzial besser auszuschöpfen oder das Image der Parteien zu polieren – was sie gleichwohl auf raffinierte Weise tun. Allerdings auf eigenen Impuls, denn die aufstrebenden rechtsextremen Powersisters sind Überzeugungstäterinnen. Aber überzeugt wovon? Angenommen, sie sind schlicht an der Macht interessiert, ist dann die ideologische Basis zweitrangig? Giorgia Melonis Hauptbest reben einer Verfassungsänderung etwa, die durch Direktwahl die Position der Ministerpräsidentin an der parlamentarischen Kontrolle vorbei erheblich stärken würde, würde diese These stützen.

Zu dumm, dass Marine Le Pen sich womöglich die Chancen, die erste Präsidentin Frankreichs zu werden, fast vermasselt hat mit einer drohenden Verurteilung wegen missbräuchlicher Verwendung von Europa-Geldern. Und Frankreich ist nicht USA. Derweil die Zeit ob der Meloni‘schen EU-Politik hofft: Warum sollte das nicht auch mit Le Pen gehen, punktet Alice Weidel angeblich mit ihrer bürgerlichen Anmutung, die zwar dem neuen Unterstützer Elon Musk schon bald zu dröge sein könnte, dafür ebnen ihr die Merz-Strategien womöglich den Weg zur Kanzlerschaft noch vor ‹33.

Pikanterweise sind die drei der lebende Widerspruch zwischen ihren proklamierten Zielen und ihrer Persönlichkeit. Sie sind in ganzer Person etwas anderes, als sie für die Masse der Bürgerinnen bereithalten. Mutter beziehungsweise Co-Mutter ändert das nicht. Wozu aber brauchen sie Männern unterwürfige Frauen? Weil sie die Männer brauchen und die ihre Pfründen erhalten wollen? Nehmen wir mal an, Frauen seien ihnen eigentlich relativ egal. Sie brauchen – anders als ein Trump oder Merz – die ganze Anti-Gender-Chose nur als Teil ihrer Ermächtigung, zu dem das vereindeutigte Geschlechterbild samt der Frau als Mutter en paquet dazugehört, etwa zum Ausländer-raus-Kurs. Wenn Weidel da mal nicht in Verlegenheiten kommt mit ihrer Regenbogenfamilie.

Bei ihrem Alleingang an die Macht – nix mehr Sisterhood is powerful – könnten die Donne früher oder später stolpern, weil sie auf die, seit jeher sorgsam gepflegten patriarchalen Netzwerke verzichten müssen. Es sei denn, sie werden von den Männern ihrer Parteien ohnehin nicht als Frauen gesehen und nur so dort geduldet, wie so manche Karrierefrau, die es ohne sexualisierte Spielchen nach oben schafft. Aber warum suchen sie ihren Erfolg ausgerechnet ganz rechts? Weil die Mitte schon besetzt ist und die Linken mit ihrem proklamierten Egalitarismus, ihrer Hierarchiefreiheit, mit der sie selbst nicht fertigwerden, solchem Ehrgeiz keine Bühne bieten? Darauf hat ja die linke Powerfrau – auch sie eine Verächterin von Gender-Themen – reagiert, der zwar keine rechtsradikalen, gleichwohl aber gewisse autoritäre Tendenzen zu unterstellen, nicht ganz abwegig ist.

Gleich also, ob sie tatsächlich überzeugt sind und sich damit als empathie- und skrupellos erweisen, oder ob sie um des Aufstiegs Willen eine besondere Form der Mittäterschaft entwickeln, es ist ein Supergau des Feminismus. Um das Patriarchat auszuhebeln reicht es nicht, dass die starken Frauen aus dem Schatten großer Männer treten und ihr eigenes Ding machen. Es kommt schon auf das Ding an. Es gibt also noch eine Menge zu tun – für alle Geschlechter.

Eveline Linke ist Diplom-Ingenieurin, Feministin, freie Autorin. Sie lebt in Hamburg und Berlin.

Anmerkungen:

1 Die Executive Order Donald Trumps zum Schutz von Frauen gegen Gender-Ideologie findet sich unter: https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/01/defending-women-from-gender-ideology-extremism-and-restoring-biological-truth-to-the-federal-government/

2 Die Mittäter-These wurde von Christina Thürmer-Rohr entwickelt. Der ausgezeichnete Film »The Zone of Interest« zeichnet diese anhand von Hedwig Höß nach.

Bloß Frauensachen?

SPD, Grüne und FDP haben die Chance vertan, Schwangerschaftsabbrüche vernünftig zu regeln

Das vollständige Verbot von Abtreibungen ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Zu diesem Ergebnis kam die von der Ampelkoalition eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und zur Fortpflanzungsmedizin in ihrem Abschlussbericht vom März vergangenen Jahres.

Der resultierende Gesetzentwurf zur Streichung des § 218 kam jedoch nicht ins parlamentarische Verfahren. Weiterhin gilt: Auch der Abbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche ist ein rechtswidriger Akt, müsse aber nicht strafrechtlich verfolgt werden. Lunapark21 berichtete.*

Nach dem Bruch der Ampelkoalition formulierte eine überfraktionelle Gruppe einen weiteren Gesetzentwurf zur Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch unter Beibehaltung einer Beratungspflicht.

Am 5. Dezember schließlich, einen Monat nach dem Ampel-Aus, debattierte der Bundestag über eine Neuregelung und schaffte es, den Kommissionsbericht dabei zu ignorieren.

Es wurden die bekannten Argumente vorgetragen. Die CDU beschwor den gesellschaftlichen Frieden und den Schutz des Lebens, die strafrechtliche Bewertung müsse bestehen bleiben. Die FDP wollte jetzt nicht entscheiden, stattdessen schnell Eizellspende und Leihmutterschaft liberalisieren. »Wenn Sie immer noch keine Meinung zu dem Thema haben, dann ist vielleicht Politik nicht das Richtige für Sie«, kommentierte die Abgeordnete der Linkspartei Heidi Reichinnek.

Das Thema wurde in den Rechtsausschuss überwiesen, der die Anhörung auf den 10. Februar terminierte, einen Tag vor der letzten Sitzung des Bundestages in dieser Legislaturperiode. Für die Anhörung im Rechtsausschuss hatten die Fraktionen von SPD und Grünen Expertinnen aus der Kommission berufen. CDU und AfD fuhren bekennende Lebensschützer auf.

Die von der CDU benannten Expert:innen beriefen sich auf die Verfassungsgerichtsurteile von 1975 und 1992. Die Jurist:innen der anderen Seite verneinten eine Bindungspflicht an diese Urteile unter einer neuen Bewertung der Rechte der Schwangeren und zeigten die Widersprüchlichkeit der geltenden Regelungen auf: Wenn das Recht des Ungeborenen immer Vorrang hätte, dürfte es keine Ausnahmen wie die kriminologische oder medizinische Indikation geben. Ferner widerspräche es jeder Systematik, das Strafgesetz zu bemühen um gleichzeitig die Nichtstrafbarkeit zu regeln. Somit diene die geltende Regelung nur der Stigmatisierung aller Beteiligten.

Und wie gewohnt sprachen die Gegner einer Liberalisierung den Schwangeren ab, die Tragweite ihrer Entscheidungen erfassen zu können.

Das Ergebnis: Keine Rückverweisung in den Bundestag, der auf einer außerordentlichen Sitzung noch über den Gesetzentwurf hätte abstimmen können. Ende der Debatte.

80 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechtes aus. Die Streichung des § 218 hätte zumindest die Voraussetzung geschaffen, dass die medizinische Behandlung Teil der von den Kassen zu zahlenden Gesundheitsversorgung würde und Schwangere und Behandelnde nicht eine eigentlich strafbare Handlung begehen.

Die Koalitionsregierung aber hat den Kommissionsbericht nicht genutzt und das Ganze verschleppt bis zum Bruch der Koalition. Es fehlte schlicht der Mut zur Umsetzung. Zumindest die Führungen der Koalitionspartner hatten es sich mit einem zukünftigen potenziellen Koalitionspartner wohl nicht verscherzen wollen.

Aber der § 218 wird weiter in der Diskussion bleiben. Eine Aktivistin sagte: »Wir sind nicht so weit gekommen, als dass wir jetzt aufhören.«

Silke Koppermann war bis vor zwei Jahren praktizierende Frauenärztin und Psychotherapeutin in Hamburg und ist im Arbeitskreis Frauengesundheit aktiv.

* »Und doch: Etwas Neues zum Paragraphen 218« in Lunapark21, Heft 63 vom Winter 2024, Seite 28. https://www.luna
park21.net/und-doch-etwas-neues-zum-218/

Krieg

In dieser Rubrik bringt Lunapark21 jeweils einen Eintrag aus dem Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM). Das HKWM erschien mit seinem ersten Band 1994, begründet und herausgegeben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Anlässlich der Herausgabe des Bandes 9 II im Dezember 2023 schrieb Haug: »Die Vorgeschichte von 1989 hat es vorgeführt: Lange kaum merklich, kann der geschichtliche Prozess zum unwiderstehlichen Strom sich steigern, der Standpunkte und Perspektiven mit sich reißt. (…) Wer das HKWM nicht nur als Nachschlagewerk nutzt, sondern auch oder sogar primär als ›Vorschlagwerk‹, in dem man auf Erkundung gehen kann, wird die Erfahrung machen, dass Vergangenheitserkenntnis der Gegenwart auf eine Weise zu begegnen vermag, die ihr bei aller Differenz ein Licht aufsteckt.«

Krieg (K) ist nach Energie, Krieg und Frieden, Lüge, Finanzkrise, Kurzarbeit, Mensch-Naturverhältnis, Kubanische Revolution, Misogynie, Landnahme, Klimapolitik, militärisch-industrieller Komplex, Finanzmärkte und Handel das 14. ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung des HKWM, das wir hier auszugsweise zitieren.

Dieser wiedergegebene Ausschnitt enthält den Textanfang, den Suchende bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=k:krieg  zum Stichwort Krieg finden, also wesentlich weniger als im Original. Das ist in mehrere Abschnitte gegliedert und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen. Der Bestellvorgang wird auf der Website des InkriT erläutert. (JHS)

E: war – F: guerre – S: guerra

Autor: Étienne Balibar. HKWM 7/II, 2010, Spalten 2006-2026

K ist für den Marxismus nicht eigentlich ein Begriff, aber gewiss ein Problem. Tatsächlich gibt es in den Sozialwissenschaften oder in der politischen Philosophie kaum einen allgemeinen Begriff des K, nur eine auf unterschiedliche Erfahrungen und historische Situationen projizierte ›regulative Idee‹ (im kantschen Sinn): das Gegenteil von ›Frieden‹. Es gibt allenfalls einen juristischen (d.h. restringierten) Begriff des K – und der Marxismus ist zutiefst antijuristisch. So konnte er allenfalls Vorstellungen des K übernehmen und sich mit dessen philosophischer Idee auseinandersetzen, doch sind ihm diese Quellen mehr noch als in anderen Fällen äußerlich.

Der Marxismus konnte also keinen Begriff des K prägen, ihn aber sozusagen ›wiedererschaffen‹, d.h. die Frage in seine eigene Problematik einführen und eine marxistische Kritik des K oder eine kritische Theorie der Kriegführung oder der K-Konstellationen und -Prozesse hervorbringen, die einen ganz neuen Inhalt hat. Man könnte (und konnte) darin gewissermaßen eine Probe aufs Exempel sehen, ob er sich als wirklich selbständiger Diskurs zu behaupten vermag. In der Geschichte marxistischen Denkens findet sich viel Eigenständiges und ein großer Reichtum an erhellenden Analysen, was den K im Allgemeinen und seine besonderen Formen betrifft. Das Problem des K hat aber nicht dazu beigetragen, das Feld des Marxismus zu erweitern und seinen Zusammenhang zu festigen, es hat vielmehr eine zutiefst dekonstruktive Wirkung gezeitigt, indem es ihn an seine Grenzen führte und gleichzeitig aufgezeigt hat, dass er sich dieser Grenzen nicht wirklich bewusst werden konnte.  So blieb der K für marxistische Denker eine beständige Quelle der Inspiration, doch je stärker er ins Zentrum gegenwärtiger Geschichte und Politik rückte, desto mehr wurde der Marxismus selbst – gleich jeder anderen politischen Theorie – zwischen gegensätzlichen Diskursen zerrieben, ja trotz seiner charakteristischen Betonung der Klassenkämpfe, der Antithesis von Staat und Revolution oder der globalen Auswirkungen des Kapitalismus von anderen politisch-theoretischen Diskursen ununterscheidbar.

Mehr noch: Das Eingreifen des Marxismus in die Debatten um K, daher auch um K und Frieden, hat diesen traditionellen Gegensatz von Grund auf in Frage gestellt und als zusätzliches Element die Revolution eingeführt. Die ›Klassenkämpfe‹ bilden dabei zum großen Teil nur den Hintergrund für die Idee der Revolution: der Revolution als einer Form des K, einer Alternative zum K, die nicht die des Friedens ist, oder dem Weg zu einem Frieden, der nicht durch K entsteht. Die verwirrenden Folgen für den Begriff des Politischen sind nicht nur im Marxismus zu finden, sondern auch in der ›bürgerlichen‹ Wissenschaft. Vom marxistischen Standpunkt, wie er von Marx ursprünglich formuliert wurde (Elend, Manifest), sind aber die Begriffe vom Klassenkampf und der Revolution apolitisch; sie antizipieren das ›Ende des politischen Staates‹ oder beseitigen die Autonomie der Politik. Umgekehrt stellt sich in der Kombination von ›Krieg‹ und ›Revolution‹ ein e Kombination von Realisierungen und Hindernissen des Klassenkampfs dar, die sich im Endeffekt als zutiefst apolitisch erweist. Der Umgang mit K und dessen Verständnis bleibt also für Marxisten nicht nur ein Problem, eine (womöglich konstitutive) Grenze des historischen Materialismus; auch der apolitische Charakter des K tritt durch die Konfrontation mit dem Marxismus zutage. Das zeugt von dessen Bedeutung als einem der tiefgründigsten neuzeitlichen Theorisierungsversuche der Politik und des Politischen, deutet aber auch darauf hin, dass eine ›marxistische‹ Lösung bzw. überhaupt eine Auflösung der Rätsel, die jede Politik des Krieges aufgibt, unerreichbar bleibt.

Die Bearbeitung dieser Probleme orientiert sich an drei Leitfragen, die sich zwar überschneiden, aber dennoch separate Untersuchungen erfordern: Erstens das Problem, den Klassenkampf metaphorisch oder im Wortsinne als ›Bürgerkrieg‹ oder ›sozialen K‹ zu begreifen – ein Problem, das schon durch den ständigen Gebrauch von Begriffen wie ›Lager‹, ›Feinde‹ oder ›Gegner‹, ›Strategie‹ und ›Taktik‹ oder ›Schlachten‹, ›Siege‹ und ›Niederlagen‹ ungeheuren Einfluss auf die politische Organisation des Klassenkampfs hatte und auch die Rezeption des Marxismus in der politischen Theorie stark bestimmte.

Zweitens ist zu fragen nach dem Verhältnis von K und Kapitalismus und den ›kapitalistischen K.en‹ oder den spezifischen Formen, Zielen und politischen Konsequenzen von K.en im Kapitalismus. Dies bildet zusammen mit damit verbundenen Fragen wie z.B. nach der Nationform und der nationalen Frage in der modernen Geschichte oder nach der Konstruktion des bürgerlichen Staates und seiner Militarisierung, aber auch nach seiner zunehmenden Stützung auf Volksarmeen und schließlich nach der Transformation des Kapitalismus zum Imperialismus den Kern jenes beständigen Versuchs, den historischen Materialismus auf das Problem des K anzuwenden, der in den 1850er Jahren mit Engels begann. Besonders hier müssen wir auf das clausewitzsche Erbe im Marxismus hinweisen. Drittens muss das historische Verhältnis von K und Revolution erörtert werden, d.h. das zentrale Problem der ›revolutionären K.e‹, d.h. die Dialektik von Militärischem und Politischem in revolution ären Prozessen oder Situationen, was gleichzeitig verunsichernde – und per definitionem ›apolitische‹ – Fragen bezüglich der Umkehrung revolutionärer in konterrevolutionäre Politik aufgrund der Militarisierung der Revolutionen aufwirft. Obwohl sich dieser Punkt nicht ohne die beiden anderen behandeln lässt, ist eine besondere Darstellung und Diskussion der Frage von K und Revolution notwendig zum Verständnis der gegenwärtigen Situation des Marxismus. Abschließend werden die ethischen und anthropologischen Dimensionen dieser politischen Debatten angesprochen, die eigentlich ein eigenes Thema wären. Selbstverständlich ist das Thema K auch durch andere Zugänge erschließbar. Das vorliegende Stichwort beansprucht gewiss nicht Vollständigkeit, lässt es doch Namen und Fakten beiseite, die wichtig sein mögen. Es artikuliert jedoch Hypothesen, deren Diskussion dazu beitragen soll, einen kritischen Zugang zur Geschichte und zum aktuelle n Potenzial des Marxismus zu finden.