Hirdina, Jahrgang 1942, war Designtheoretiker, Designhistoriker. In den Siebzigern hatte er etliche Jahre die Redaktion der Zweimonatsschrift form+zweck geleitet, Herausgeber war das Amt für industrielle Formgestaltung (AiF). Sein Büro dort nahe der Friedrichstraße behielt er auch, als er 1980 zum Dresdener Verlag der Kunst wechselte. Im gleichen Jahr hatte ich begonnen, für die Bibliothek des AiF aus dem Russischen zu übersetzen; angestellt war ich damals noch am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaft (ZIW) der Akademie der Wissenschaften. Ein gewisses Maß an Apologetik wurde hier wohl allen abverlangt; mein Forschungsthema, die Geschichte der politischen Ökonomie des Sozialismus, schloss kritische Auseinandersetzung jedoch völlig aus.
Im Februar 1980 fuhr ich als Ferienhelfer an die Ostsee, hatte fern von Berlin Zeit nachzudenken. Die Akademie, so sagte ich mir schließlich, ist nicht die Welt, irgendwann würde ich sie verlassen. Aber was dann? Wenn ich von meinen Fähigkeiten, Neigungen und Abneigungen ausging, blieb nur das freiberufliche Übersetzen. Die Arbeit für das AiF war für mich ein Übungsfeld. Aus dem ZIW bin ich zwei Jahre darauf eher unfreiwillig ausgeschieden.
Damals, in den frühen Achtzigern, hatte Hirdina für den erwähnten Verlag Lothar Kühnes Gegenstand und Raum lektoriert, Untertitel: Zur Historizität des Ästhetischen. Genauer getroffen hätte es vielleicht ein Titel wie Gegenstand und Gesellschaft, aber von Gesellschaft war damals schon mehr als genug die Rede. Kühne, Philosophie-Professor an der Berliner Humboldt-Universität, war aus meiner Sicht der wichtigste hiesige Gesellschaftstheoretiker jener Zeit; 1985 hat er sich, von schweren Problemen bedrängt, das Leben genommen. Die Herrschaftsverhältnisse im Lande stellte er in seinen Schriften nicht in Frage, jedenfalls nicht ausdrücklich, dennoch hielt und halte ich sein Denken für revolutionär: Er war einer der ganz wenigen, die noch nach Möglichkeiten sozialistischer Entwicklung suchten, die also mehr wollten als die von der Staatspartei betriebene Fortschreibung des Bestehenden. Das war auch in meinem Sinne. 1981 war Gegenstand und Raum i n der Fundus-Reihe erschienen; über dieses Buch kam ich mit Hirdina ins Gespräch. Ich weiß noch, dass ich nach dem Echo auf das Werk gefragt hatte und von ihm hörte, es sei fast gleich Null; alles übrige habe ich vergessen. In Erinnerung geblieben ist mir aber die – um mal einen ganz aus der Mode gekommenen Begriff zu verwenden – vornehme Zurückhaltung, mit der er auftrat; es war jene Vornehmheit, die aus dem Intellekt kommt.
Zettelwirtschaft
1983, nun schon freiberuflich tätig, fand ich eines Tages bei der Rückkehr nach Hause hinter meiner Wohnungstür einen Zettel: Hirdina bat mich dringend, ihn im Amt anzurufen, es gehe um eine Übersetzung. Am Münzfernsprecher gleich um die Ecke hatte ich Glück: Kein Dauertelefonierer blockierte den Apparat. Das AiF, so erfuhr ich, veranstalte eine internationale Funktionalismus-Tagung; ein Moskauer Professor, der dort hatte vortragen wollen, aber verhindert sei, habe ihm den Originaltext nebst Übersetzung gesandt: Er solle statt seiner sprechen. Doch scheine die Übersetzung nichts zu taugen – ob ich mich der Sache annehmen könne? Ich sagte zu, hatte bis weit in die Nacht hinein mit der Arbeit zu tun und kam damit, wie verabredet, tags darauf früh um Acht zur Markthalle am Alexanderplatz. Von weitem schon sah ich Hirdina unruhig auf und ab gehen. Später sagte er mir, die Zeit sei derart knapp gewesen, dass er den Text vor dem Verlesen nicht einmal meh r habe durchsehen können, doch sei er nirgendwo ins Stolpern geraten. Der Beitrag erschien dann in form+zweck 1/1984.
Vor ein paar Tagen habe ich aus einem meiner Kartons das Heft mit der Übersetzung herausgesucht: Sie ist nicht in der Nummer 1/84, sondern in der Nummer 1/83 erschienen. Eine Karteikarte A5 lag bei: Sehr geehrter Herr Dr. Weinholz, wäre es eine zu große Zumutung für Sie … – es war jener Zettel, den Hirdina vor mehr als vierzig Jahren durch den Briefschlitz meiner Wohnungstür gesteckt hatte. Das kurze Schreiben korrigierte noch einiges mehr von meinen Erinnerungen: Und vielen Dank nochmal für die ausgezeichnete Magomedow-Übersetzung hieß es zum Beispiel zuletzt – er kannte mich also schon als Übersetzer, das Risiko war für ihn nicht so groß, wie die Erinnerung es mir vorgespiegelt hatte. Mit der Nummer 1/1983 aber hatte es eine besondere Bewandtnis.
Materialökonomie
Schon unter Hirdinas Leitung ging es in form+zweck nicht mehr nur um Gestaltungsfragen im engeren Sinne, um Ergonomie, um Formen, die den Funktionen folgen und dergleichen. Ein Beispiel damaliger thematischer Erweiterung ist Lothar Kühnes Text Ökonomisches Verhalten und Weltanschauung in der Nummer 5/1975: Materialökonomie war für ihn nicht nur Mittel der Ressourcenersparnis, sondern Teil eines humanistischen Konzepts, des achtungsvollen, behutsamen Umgangs mit der Natur und der Arbeit anderer. Von einem solchen Umgang waren wir in der DDR jedoch weit entfernt. Hirdinas Nachfolger Hein Köster setzte dessen Kurs fort, vielleicht mit anderer Akzentuierung, vielleicht entschiedener noch als dieser. Das Heft 1/1983 war, mit Ausnahme der Übersetzung, der innerstädtischen Rekonstruktion gewidmet, Beispiel Prenzlauer Berg. Autoren waren unter anderem er selbst sowie Wolfgang Kil, neben Bruno Flierl und Simone Hain später einer der wichtigsten Architekturkritiker hier im Osten, und der Grafiker Manfred Butzmann. Von ihm stammte auch der Entwurf für das in Kursbuch-Tradition beigelegte kleine Plakat. Die Absicht, der Schönhauser Allee, dem wichtigsten Straßenzug des Stadtbezirks, durch Markisen, Pflanzkübel und ähnliche Standardelemente Boulevardcharakter aufzuzwingen, wurde, um nur zwei Beispiele zu nennen, ebenso kritisiert wie die Behinderung, die Lenkung der Fußgänger durch Ampeln und Absperrungen; beides konnte man auch als grundsätzliche Kritik an Bevormundung seitens der Obrigkeit lesen. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Konrad Naumann, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, ein versoffener Hardliner, dem Honecker viel zu lasch war, empfand das alles tatsächlich als Affront, Köster erhielt eine Parteistrafe und verlor sein Amt als Chefredakteur. Sein Nachfolger Günther Höhne, in den neunziger Jahren für die CDU-Presse tätig, brachte das Blatt wieder auf Linie.
Gestalten für die Serie
1988, Hirdina war inzwischen Dozent an der Weißenseer Kunsthochschule, erschien sein umfängliches, reich illustriertes Buch Gestalten für die Serie – Design in der DDR 1949 bis 1985. Es war das erste und zugleich letzte Werk dieser Art. Hätte die DDR noch längere Zeit fortbestanden, wäre es sicherlich zum Standardwerk avanciert, hätte er es drei, vier Jahre später geschrieben, wäre sein Blick auf die Geschichte, auf Möglichkeiten und Versäumnisse vielleicht ein anderer gewesen – doch ist fraglich, ob sich dann noch ein Verlag dafür gefunden hätte. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass es nicht hinreichend gewürdigt wurde.
Kurz nach der Jahrhundertwende zogen meine Frau und ich in eine kleine Straße in Prenzlauer Berg, im Bötzowviertel. Ein paar Mal sah ich Hirdina dort, immer schien er in Eile zu sein. Er war inzwischen Professor, seine Frau, von Hause aus Germanistin, war es schon lange, sie wohnten ein paar Häuser weiter, ich überlegte, ob ich ihn ansprechen solle, doch es kam mir aufdringlich vor. Dann erlitt er – im Wikipedia-Eintrag wird es nicht erwähnt – einen schweren Schlaganfall, war gelähmt, konnte wohl auch nicht mehr sprechen; ich sah ihn verkrümmt im Rollstuhl sitzen, den eine junge Frau durch die Gegend schob. Auf einem Fenstersims fand ich einen Stapel älterer Hefte einer Design-Zeitschrift, jede zweite Nummer enthielt einen Essay von ihm, aber ich habe mir die Inhalte nicht merken können, es war für mich ein allzu fremdes Land. Trotz seiner schweren Behinderung hat er seine Frau überlebt, kam nach ihrem Tod in ein Heim, wo er im Dezember 2013 ges torben ist.
Erhard Weinholz, Hochschul-Ökonom, Dr. phil., geboren 1949 in Brandenburg an der Havel, lebt seit 1969 im Ostteil Berlins. 1982 aus politischen Gründen Verlust des Arbeitsplatzes an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Von 2001 bis 2007 als Redaktionsmitglied für die historisch-literarische Zeitschrift Horch und Guck tätig.