Die Entwicklung des Existenzminimums im Sozialrecht
Was braucht der Mensch? Wer im deutschen Sozialstaat auf Unterstützung angewiesen ist, bekommt darauf eine präzise Antwort – in Euro und Cent. Dabei wird im sogenannten Regelsatz nur ein Teil des soziokulturellen Existenzminimums abgebildet: Er soll die staatlichen Leistungen für den notwendigen Lebensunterhalt außerhalb von stationären Einrichtungen abdecken. Im Zentrum steht der Eck-Regelsatz (des Familienvorstands bzw. Vorstands der heutigen Bedarfsgemeinschaft), von dem mit Abschlägen die Leistungen für sonstige Haushalts-Zugehörige abgeleitet werden.

Dieser faktische Mindeststandard umfasst insbesondere die für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne die Anteile für Heizung und Erzeugung von Warmwasser) anfallenden lebensnotwendigen geldlichen Aufwendungen, sowie Bedarfe für ein Mindestmaß der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nicht zum Regelsatz gehören die Kosten der Unterkunft (KdU) sowie die einmaligen Beihilfen für besondere Bedarfe und weitere Mehrbedarfe, die hier nicht dargestellt werden können.
Erstmals eingeführt wurden solche Leistungen mit dem am 01.06.62 in Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz (§ 3 BSHG, individuelle Hilfen). Basis der Leistungsbemessung war ein Warenkorb. Höhe und Einzelheiten der Sozialleistungen regelten die Bundesländer in Regelsatzverordnungen; finanzielle Leistungsträger waren letztlich die Kommunen. Im Zuge der Massenarbeitslosigkeit in der BRD der 70er Jahre waren die Kommunen mit den Kosten zunehmend überfordert.
Mit der deutschen Vereinigung erfolgte seit den 90er Jahren die Umstellung auf das sogenannte Statistikmodell. Grundlage war nun das Ausgabe- und Verbraucherverhalten unterer Einkommensschichten, ermittelt durch das Statistische Bundesamt. Im Jahr 1991 lagen die Regelsätze im Westen zwischen 457 DM in Bayern und 483 DM in Berlin (West), im Osten zwischen 435 DM in Sachsen und 468 DM in Berlin (Ost).
Als Teil des Föderalen Konsolidierungsprogramms wurde im Juli 1993 die Anpassung der Regelsätze ab 1995 auf höchstens drei Prozent gedeckelt – reale Erhöhungen blieben darunter. 1998 erreicht der Durchschnitt der Regelsätze West knapp 539 DM, der Durchschnitt Ost 520 DM. Dann erfolgte im Juni 1999 die Ankoppelung an den aktuellen Rentenwert, wodurch die prozentuale Anpassung faktisch ausgesetzt bzw. verschoben wurde. Zwingend festgeschrieben wird das Lohnabstandsgebot.
Bereits im rot-grünen Koalitionsvertrag im Herbst 1998 war die Umstellung auf eine „bedarfsorientierte soziale Grundsicherung“ vorgesehen. Unter maßgeblicher Beteiligung der Bertelsmann-Stiftung wurden ab 1999 Umsetzungskonzepte erarbeitet. Im zuständigen Bundesministerium für Arbeit waren die treibenden Kräfte weniger der Minister selbst (Riester), sondern Staatssekretär Gerd Andres sowie dessen Abteilungsleiter Bernd Buchheit, im Bundeskanzleramt der Staatsminister Frank Walter Steinmeier. Doch erst nach der nächsten Bundestagswahl 2002 folgte unter dem Arbeitsminister Wolfgang Clement die Agenda 2010. Erstmalig wurde hier offen formuliert, dass die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem finanziellen Niveau der letzteren erfolgen soll.
Zum Jahresanfang 2005 wurde mit Hartz IV die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, deren Leistungen sich auf einen pauschalierten Prozentsatz des letzten Arbeitsentgelts belaufen hatten. Auch diese als erwerbsfähig eingestuften Menschen erhielten nun den Regelsatz und wurden mit der erwerbsfähigen Klientel des bisherigen BSHG im SGB-II zusammengefasst (Arbeitslosengeld II). Zweck war explizit die Senkung der zu tragenden Kosten. Die „Bewirtschaftung“ der so produzierten erwerbsfähigen Klientel aus einer Hand war den Aufbau einer komplett neuen Behörde wert, der seitens der Bundesanstalt für Arbeit und den Kommunen gemeinsam getragenen Einrichtungen bzw. der Jobcenter. Damit verbunden war eine spürbare Entlastung der Kommunen von Sozialausgaben. Die sonstige nicht-erwerbsfähige Klientel landete über Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit im SGB-XII, 4. Kapitel.
Eine neue Regelsatzstruktur und -höhe sollte auch einen großen Teil der bisherigen einmaligen Leistungen (z.B. für Bekleidung und Hausrat) enthalten. Der Eckregelsatz (West) wurde auf monatlich 345 Euro festgesetzt; in Ostdeutschland galt bis zum 1. Juli 2007 ein geringerer Regelsatz von nur 331 Euro. Ab 2011 folgte das Regelsatzermittlungsgesetz (RBEG). Sozialleistungen wie Kindergeld oder Kindesunterhalt werden angerechnet.
Die Entwicklung des Regelsatzes über die letzten 30 Jahre ermöglicht einen Vergleich zur Einkommensentwicklung anderer Schichten der Bevölkerung. Der Eckregelsatz ist mit unterschiedlichen Manövern von 526/506 DM (West/Ost) im Jahre 1995 auf 563 Euro im Jahr 2025 gestiegen. Was zunächst als nicht unbeträchtlich erscheint, stellt sich jedoch inflationsbereinigt bestenfalls als Stagnation dar und liegt noch unter der Entwicklung der Geringverdienerhaushalte insgesamt (Benjamin Held/Irene Becker, Sozial-ökologisches Existenzminimum, Februar 2025, S. 42; Grafik 1).
Kritik an der Regelsatz-Berechnung
Verschiedentlich gerieten die Berechnungsmodi des Regelbedarfes juristisch unter Druck. Entscheidend ist bis heute der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 23.07.2014. Die Regelbedarfsleistungen seien »derzeit noch verfassungsgemäß«. Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten jedoch zweifelhaft sei (etwa bei den Kosten für Haushaltsstrom, Mobilität und die Anschaffung von langlebigen Gütern wie Kühlschrank und Waschmaschine), habe der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.
Die Regelbedarfsermittlung erfolgt auf Basis der alle fünf Jahre durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS), aktuell der von 2023. Doch zur Referenzgruppe (die 15 % der untersten Einkommen) gehören die erwerbstätigen Aufstocker, die selbst vom Regelsatz leben müssen, was zu Zirkelschlüssen führt. An den Ausgaben der Vergleichsgruppe werden willkürliche Streichungen von bis zu 180 Euro monatlich vorgenommen. Größere Anschaffungen (z.B. Waschmaschine), die angespart werden müssten, bleiben im Regelbedarf unberücksichtigt.
Die nachträgliche, auf die EVS gestützte Ermittlung des Regelbedarfes rief so lange wenig Kritik hervor, wie die Verbraucherpreise relativ konstant blieben. Das änderte sich drastisch ab 2022: »Die derzeitige Methode laut § 28a SGB XII wird als nicht mehr angemessen erachtet. Denn sie bezieht sich auf einen Zwölfmonatszeitraum, der bereits ein halbes Jahr vor dem Zeitpunkt der Anpassung endet, im Vergleich zum davor liegenden Zwölfmonatszeitraum.« (Dr. Irene Becker)
Ausgehend von solchen Kritikpunkten berechnete der Paritätische Gesamtverband für das Jahr 2024 berechtigte Eckregelbedarfe bis zu 813,- Euro monatlich (Grafik 2).
Eine Aussicht auf baldige Verwirklichung haben diese Reformvorschläge nicht. Im Gegenteil: Die Bundesregierung will den Druck auf Erwerbslose noch erhöhen und durch Sozialkürzungen Spielraum im Haushalt schaffen, obwohl das wenig Aussicht auf Erfolg hat. Die nachhaltige Entsolidarisierung in der Gesellschaft hat die Sozialpolitik zu einem Verliererthema gemacht, das in Parteien wie Gewerkschaften gerne gemieden wird. Was bleibt? Einerseits die Verteidigung von unabhängigen Sozialberatungen und der Versuch, auf juristischen Wegen Verschlechterungen abzuwehren und Verbesserungen einzuklagen. Andererseits der Protest gegen die Ausgrenzung von Erwerbslosen und die Lüge von der Chancengleichheit.
Michael Breitkopf war aktiv in den Recherchen zum Berliner Bankenskandal und der Sozialberatung im Stadtteilbüro Berlin-Friedrichshain.