Die Krankheit der anderen?

Krebsprävention braucht Industriekritik

Zum Leben gehören nicht nur Geburt und Wachstum, sondern auch Krankheit und Tod. Schnell lässt sich Einigkeit darüber herstellen, dass alles getan werden sollte, menschliches Leben – im Sinne eines körperlichen, sozialen und geistigen Wohlbefindens – so lange gesund zu erhalten wie möglich. Dies kann durch Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebens- und Arbeitswelten erreicht werden. Der Schutz und die Förderung unserer Gesundheit gehören zum Recht auf Unversehrtheit und Menschenwürde. Doch bleibt dieser Konsens schöner Schein, wenn sich dahinter gnadenlose kapitalistische Dynamik und ihre Umdeutung der Werte verbergen.

Mit Gesundheit wird Leistungsfähigkeit und mit Prävention das an Leistung orientierte Verhalten gemeint. Das Recht auf Gesundheit mutiert unter der Hand in eine Pflicht zur Gesundheit. Hinter dem Faktum der säkular gestiegenen Lebenserwartung zeigen sich Konturen einer massiven sozialen und gesundheitlichen Polarisierung: Geringes Einkommen und schlechte Wohn- und Arbeitsbedingungen führen in Deutschland – gemessen am gehobenen Bürgertum – zu einer um 10 Jahre verkürzten Lebenserwartung.

1981 erschien ein Buch des Investigativjournalisten Egmont R. Koch: Krebswelt: Krankheit als Industrieprodukt. Es zeigte auf, dass in der Arbeitswelt erhebliche Krebsrisiken zu finden sind: Asbestfaserstäube, Schwermetalle, Vinylchlorid, Azofarben und vieles mehr. In den 1980er Jahren gab es im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg noch mehrere Abteilungen für Toxikologie, in denen über industrielle Krebsursachen intensiv geforscht wurde: Nitrosamine, Chlorchemikalien, Dioxine, Pestizide, Weichmacher in Kunststoffen usw. waren die Themen. Forschungsgruppen und die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) der WHO befassten sich mit vielen weiteren Stoffgruppen und Einflüssen, so auch mit Dieselabgasen, deren krebserzeugende Wirkung sich letztlich als eindeutig herausstellte. Sollten die Risiken gemindert werden, so musste sich in der Industriepolitik etwas grundlegend ändern, so z.B. Verzicht auf bestimmte Stoffe oder Stoffgruppen, vor allem: ein baldig es Verbot von dieselbetriebenen Fahrzeugen. Selbstverständlich wurden auch Risiken durch Tabakrauch und andere Lebensstileinflüsse thematisiert. Unter Prävention verstand man, all diesen Einflüssen entgegenzutreten, um zumindest einen Teil der Krebserkrankungen, d.h. die vermeidbaren Krebserkrankungen, zu verhüten.

Mit der Jahrtausendwende erfolgte eine Zeitenwende in der Gesundheitspolitik, zumindest in Deutschland. Im DKFZ und in anderen deutschen Forschungseinrichtungen wird industriellen Risiken nicht mehr nachgegangen. Sie werden gleichsam als unvermeidbar angesehen. Man konzentriert sich nur noch auf Lebensstileinflüsse: Rauchen, Trinken, Essen, Bewegung usw. Inzwischen werden auch alte erbbiologische Denkmodelle aus der Mottenkiste geholt. Ende Mai 2024 erklärte das DKFZ: »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und vom European Bioinformatics Institute EMBL-EBI, Hinxton, UK, nutzen die dänischen Gesundheitsregister, um die individuellen Risiken für 20 verschiedene Krebsarten mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Das Vorhersagemodell lässt sich auch auf andere Gesundheitssysteme übertragen. Es könnte helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, für die man gezielt individuelle Früherkennungsangebo te im Rahmen von Studien erproben könnte.« Nötig sei eine große und systematische Datenerfassung, in die von allen Personen die grundlegenden Körperdaten, Vorerkrankungen, personale Risikofaktoren sowie Krebserkrankungen bei Familienmitgliedern einfließen. Auf diese Weise könne man mehr als 80 Prozent der Krebserkrankungen auch individualisiert vorhersagen, womit bei den identifizierten Personen frühzeitigere Diagnosen und Therapien möglich wären. Für größere Treffsicherheit schlugen die DKFZ-Forscher darüber hinaus noch Blut-Tests vor, mit Hilfe derer auch genanalytische Daten zu generieren wären. Ein solche irrwitzige Konzeption firmiert unter dem Begriff »Prävention«, was eine völlige Sinnverschiebung, wenn nicht gar Sinnentleerung bedeutet.

Krebserkrankungen sind zumeist Folge multifaktorieller Einflüsse: Ein großer Teil der Krebserkrankungen sind zufallsbedingte Erscheinungen des Alterungsprozesses unseres biologischen Körpers, verbunden mit der teilweise unvermeidlichen Mischexposition gegenüber natürlichen und industriellen Lebensmitteln und vielen weiteren Umweltbedingungen. Auch Viren, Spätfolgen viraler Infektionen sowie Stress und Spätfolgen von Stresseinwirkungen können sich krebserzeugend oder krebsförderlich auswirken. In verschiedenen Bereichen unseres Körpers, die gegenüber Schadstoffen oder deren Stoffwechselprodukten exponiert sind, werden sogenannte Stammzellen in ihrem genetischen Material verändert. Auch wenn es Reparaturprozesse gibt: Die Stammzellen »vergessen« nichts. Irgendwann ist die kritische Schwelle überschritten, und die geschädigten Zellen beginnen, aggressiv zu wachsen. Selbst wenn wir es schaffen würden, schädliche Faktoren in unseren Le bensmitteln und Lebensbedingungen zu reduzieren, würden Krebserkrankungen auftreten. Sie gehören zum Leben dazu wie das Altern und Sterben. Die Frage aber, die sich jede zivilisierte und aufgeklärte Gesellschaft stellen sollte, ist die: Gibt es einen Anteil von Krebserkrankungen, der durch eine konsequente Prävention zu verhindern wäre? Was müsste sich strukturell ändern und welches Wissen brauchen die einzelnen Menschen, um in ihrem eigenen Leben präventiv zu handeln?

Was macht aber die Epidemiologie in Deutschland? Wir haben mehrere große Institute, doch sie sparen den Faktor Beruf und Arbeitswelt aus. Ich sehe hierzulande keinen Epidemiologen, keine Epidemiologin, der oder die von der Politik fordert, ein Berufsregister einzuführen, sodass zumindest ein Ansatz für eine arbeitsweltbezogene Forschung möglich wird. Fast überflüssig zu erwähnen, dass epidemiologisch-statistische Abschätzungen zu Krebsursachen in dem Maße verzerrt werden, wie mögliche Faktoren nicht berücksichtigt werden, zum Teil, weil sie nicht oder nur schlecht messbar sind, zum Teil, weil sie bewusst ausgespart werden.

Forschungslandschaften sind komplexe Systeme. Es gibt keine zentrale Steuerung, die in jeden Winkel hineinreicht. Doch bestimmte Trends werden durch die Schwerpunktsetzung staatlicher Programme gesetzt, in die bekanntlich großindustrielle Interessen eingehen. So hat die deutsche Automobilindustrie erreicht, dass Dieselmotoremissionen hierzulande nicht als krebserzeugend eingestuft wurden. Dem stehen die Einschätzungen und Einstufungen der IARC und weiterer internationaler Forschungsgruppen entgegen.

Im vergangenen Jahr schrieb ich der SZ einen Leserbrief, der hier zitiert werden soll: »Neueren Schätzungen führender epidemiologischer Forscher/innen zufolge sind 18 bis 25 Prozent der Lungenkrebserkrankungen bei Männern und generell 5 bis 8 Prozent aller Krebserkrankungen schädlichen Arbeitsstoffen, d.h. beruflich bedingten kanzerogenen Expositionen zuzuordnen (Takala 2015; Ohlsson/Kromhout 2021). Weltweit sterben allein durch die Exposition gegenüber tödlichen Asbestfasern mehr als 100.000 Menschen. Viele weitere Krebserzeuger wurden identifiziert, so u.a. quarzhaltige Stäube, wie sie in der Bauwirtschaft vorkommen, Schweißrauche und vor allem Dieselabgas- und verkehrsbedingte Feinstaub-Expositionen, die auch hierzulande ein großes Problem darstellen. Warum befasst sich unser Journalismus damit nicht? Zu vermuten sind hier mehrere Faktoren: Zum einen betrifft dies das Mittelklassepublikum nicht ganz so stark wie die körperlich und eher prekär Ar beitenden, zum anderen rührt das Diesel-Thema an den Grundfesten unserer Automobil-Nation und unseres Mobilitätsverständnisses. Allzu viel stünde auf dem Spiel, wenn endlich eine wirksame Krebsprävention arbeits- und umweltpolitisch durchgesetzt werden würde. Festzustellen ist, um es einmal krass auszudrücken: Der Wohlstand der einen wird mit der Krankheit der anderen erkauft. Kein gutes Vorzeichen für eine menschliche Gesellschaft.« Die SZ druckte meinen Leserbrief nicht ab. Die Zeiten von Egmont R. Koch sind vorbei. Krebspolitik war vor 40 Jahren noch ansatzweise industriekritische Politik, heute ist sie eine Politik, die zur Anpassung an die herrschenden Verhältnisse längst überwunden gedachte erbbiologische Konzepte neu auflegt.

Wolfgang Hien, Jahrgang 1949, ist promovierter Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler. Er leitet das Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen.

Wohnfläche

Zu viel und zu wenig. Umverteilung im Bestand ist nötig.

Der Wohnraum, der Haushalten zur Verfügung steht, gilt als wichtiges Maß zur Beurteilung der Wohnverhältnisse und hat sich im letzten Jahrhundert als Indikator für den gesellschaftlichen Wohlstand etabliert. Die Frage nach der ausreichenden Größe der Wohnungen wurde spätestens mit dem schnellen Wachstum der Städte zum Thema der Wohnforschung und Sozialpolitik. Die Wohnfläche ist aber ein relativ junger Indikator.

Frühe Sozialreformer kritisierten die Überbelegung, die im 19. Jahrhundert vor allem in der Zahl der Personen pro Wohnraum und am Rauminhalt pro Person in Kubikmetern erfasst wurde. Die ersten systematischen Stadtstatistiken wurden vom Verein für Socialpolitik in den 1880er Jahren zusammengetragen und etablierten die Kategorie der »Wohnungsüberfüllung« in den Statistiken. Als »überfüllt« galt eine Belegung von sechs und mehr Personen pro beheizbarem Zimmer. Der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch zur Jahrhundertwende wurde auf 10 und 15 Quadratmeter pro Person geschätzt.

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