Gedanken zum Zustand einer Disziplin im Krisenmodus
Es gab schon bessere Zeiten für die Arbeits- und Industriesoziologie (AIS). Damals in den späten 60er, den 70er und sogar noch den 80er Jahren. Da war die Soziologie die Leitwissenschaft und ihr arbeitssoziologischer Zweig die Königsdisziplin der Soziologie.
Die Gesellschaft war in Bewegung, der Konservatismus der Nachkriegszeit war im Rückzug begriffen. Der reformerische Aufbruch erfasste die bislang recht biedere AIS mit Macht, sie avancierte zur Avantgarde im Wissenschaftsbetrieb, weil sie eine ›große Erzählung‹ anzubieten hatte: die durch die Studentenrevolte wieder hoffähig gewordene marxistische Gesellschaftstheorie, die sie über ihren Gegenstand, die Industriearbeit, legte. Während dieser stürmischen Zeit schossen zahlreiche sozialwissenschaftliche Institute, die sich auf die industrielle Arbeitswelt stürzten, wie Pilze aus dem Boden – in München, Frankfurt am Main, Berlin, Göttingen, Tübingen, Dortmund, ja selbst auf Schalke –, konkurrierten theoretische Ansätze und Paradigmen miteinander (etwa das Subsumtions- und das Produktionsmodell), wurden neue Lehrstühle für AIS eingerichtet und mit ausgewiesenen Marxisten besetzt.
Damals
Die AIS hatte einen hohen Anspruch, sie wollte über die Analyse der kapitalistischen Produktion das Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft entschlüsseln. Von der ›Werturteilsfreiheit‹, die das Credo der Nachkriegssoziologie war, war in dieser Periode nicht mehr die Rede. Wer AIS studierte und in die neu gegründeten Institute strebte, tat dies meist aus politischen Gründen und um die Gesellschaft zu verändern. Mit der marxistischen Theorie war vermeintlich ein Kompass zur Hand, der die Richtung anzeigte und die Träger des gewollten Wandels identifizierte. Von daher war die AIS-Forschung Forschung für die Arbeiterklasse (Arbeitnehmerorientierung) und für die Überwindung des Kapitalismus.
Erste Risse in den theoretischen Konstrukten zeigten sich, als die ambitionierte Theorie auf die profane Empirie stieß. Die AIS, die immer mehr sein wollte als eine Bindestrich-Soziologie, die sich aufgrund ihres Gegenstandes – die industrielle Arbeitswelt – auf der richtigen Seite der Geschichte wähnte, wurde zum einen ernüchtert durch den Konservatismus ihrer hauptsächlichen Adressaten – der Stammbelegschaften in den großen Betrieben und ihrer Schutzmacht, der Gewerkschaft. Untersuchungen zum Arbeiterbewusstsein zeigten keinerlei revolutionären Funken bei Facharbeitern, Ingenieuren und Angestellten. Zum anderen wurden viele Arbeitsforscher durch die Mühen der Projektarbeit desillusioniert, deren Ergebnisse im Einklang mit den kapitalistischen Erfordernissen stehen mussten. Das herrschende Wissenschaftssystem und die herrschende Wissenschaftsorganisation ließen wohl steile Thesen zu, aber keine revolutionäre Praxis. Im Zweifelsfall war da nicht di e bestechende Analyse wichtig, sondern das Produkt der Forschung, das sowohl den Kriterien der Humanität als auch den Imperativen der Kapitalverwertung zu genügen hatte. An dieser Antinomie sind etliche Forscher zerbrochen und haben sich in den theorielosen Pragmatismus, der die BWL und die Unternehmensberatung auszeichnet, oder die Systemtheorie geflüchtet.
Die großen empirischen Themen jener Zeit hatten trotz aller systemkritischen Emphase reformistischen Charakter. Sie leiteten sich ab von einer Kritik des Taylorismus/Fordismus, und sie mündeten in zahllose Vorhaben zur ›Humanisierung des Arbeitslebens‹ (HdA). Die restriktive Arbeit, ihre Organisation und ihre Folgen standen im Blickpunkt und nicht das Ganze des kapitalistischen Arbeitsprozesses, wozu die Steuerung und Gestaltung der Arbeit, aber auch Prozesse von Macht und Herrschaft gehören. Indem sich die AIS zu einem Hauptakteur der HdA entwickelte, nahm sie freiwillig oder unfreiwillig den Standpunkt des Staates ein, der die Unternehmen zu einem pfleglichen Umgang mit der Arbeitskraft anhält.
Unbesehen davon bleibt als Fazit, dass die AIS hochlebendig war, dass sie arbeitspolitische Konzepte entwickelte, die für die darauffolgende kulturelle Hegemonie des Managements eine wahre Fundgrube waren und dass sie ein respektierter Ansprechpartner für Fragen der Arbeitswelt war. Erstaunlich ist, dass diese Vitalität in einer Phase der ökonomischen Entwicklung auftrat, die man als nicht krisenhaft charakterisieren kann. Der Kapitalismus war gezähmt, wohlfahrtsstaatlich eingehegt, den Arbeitern ging es bei weitgehender Vollbeschäftigung so gut wie später nie mehr.
Heute…
… ist es um die AIS still geworden. Leitwissenschaft ist die Soziologie schon lange nicht mehr; sie musste zunächst der Nichtwissenschaft BWL und dann der allmächtigen Informatik mit ihrer KI-Fokussierung weichen. Und noch weniger ist die AIS die Schlüsseldisziplin der Soziologie; an ihr hat sich die Organisationssoziologie vorbeigeschoben. Es ist nicht so, dass die AIS völlig zum Schweigen gekommen ist. Die meisten in den 70er Jahren gegründeten unabhängigen Institute existieren noch und finden sich im Akquisitionsstress, die Projektmaschinerie läuft wie ehedem, nur die Professorenstellen sind mehr und mehr verwaist und Neuberufungen selten. Es ist sogar, verglichen mit damals, eine Professionalisierung im Gang, die Untersuchungsfelder werden differenzierter, der Fokus auf die Industriearbeit weicht auf, Gruppen wie Migrant:innen, die Solo- und Scheinselbständigen, die prekär Beschäftigten, die Pflegekräfte, die Clickworker, die Low-tech-Arbeiter g eraten in den Blick; Managementkonzepte wie Agilität, New Work, Purpose, Resilienz werden soziologisiert; der Rechtsdrall der Kernbelegschaften reanimiert die Bewusstseinsforschung. Die AIS lebt, aber sie lebt vor sich hin und sie wirkt nicht mehr in die Gesellschaft hinein. Das mag auch damit zu tun haben, dass sich die Gesellschaft und die Politik nicht mehr für die Arbeit, sondern nur noch für die Beschäftigung interessieren. Aber mehr noch liegt es daran, dass die vielen Detailstudien nichts mehr zusammenhält, dass kein theoretisches Band das ›Kleinklein‹ verbindet. Es gibt keine Versuche mehr, die Häutungen des Kapitalismus – Neoliberalismus, Globalisierung, Finanzialisierung – und dessen Wirkungen auf den Arbeits- und Produktionsprozess theoretisch zu durchdringen. Die spannenderen Deutungen dieser Transformationen kommen inzwischen von der Wirtschaftssoziologie. Die AIS ist zu einer normalen Spezialdisziplin geworden, die durchaus noch gebraucht wird, so etwa bei der forcierten Informatisierung, wenn auch nur als Anhängsel der übermächtigen KI. Manche begrüßen dies als allfällige Normalisierung einer Disziplin, die sich selbst überschätzt hat, andere sehen darin eine Selbstpreisgabe eines gesellschaftstheoretischen Anspruchs.
Die Zurückhaltung der AIS heute verwundert. Die Zahl der Industriearbeitsplätze ist stark rückläufig, der Exportweltmeister schwächelt. Der sozialökologische Umbau der Industrie stockt. Auch das ›Modell Deutschland‹ samt Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen und den spezifischen Beziehungen in Form der Sozialpartnerschaft gerät ins Wanken. Die Angriffe auf Arbeitnehmerrechte häufen sich, betriebliche Bündnisse zwischen Kapital und Arbeit werden aufgekündigt – wie bei VW und beim Autozulieferer ZF – und die früher geübte innerbetriebliche ›Good Governance‹ steht auf dem Spiel.
Es ist zu hoffen, dass die AIS ihre Askese aufgibt und über den Tellerrand ihrer Partialarbeiten hinausguckt.
Auf den zweiten Blick ist die Reserve der AIS nicht verwunderlich. Krisenzeiten sind keine guten Zeiten für theoretischen Mut. Statt des Aufbruchs zu neuen Ufern steht auch für die Sozialwissenschaft die Anpassung an die sich wandelnden Umstände im Vordergrund.
Wann und warum?
Der Umbruch der AIS von einer theoretisch ehrgeizigen zu einer weitgehend theoriearmen fleißigen Disziplin begann in den 90er Jahren mit der Implosion des realen Sozialismus und der Heraufkunft von Globalisierung und Neoliberalismus. In diese Zeit fällt auch die Revolution der Unternehmensorganisation. Die AIS musste zusehen, wie ihr vergeblicher Kampf gegen den Taylorismus vom Management vollendet wurde, das all die Konzepte, welche die AIS in ihrem pragmatischen Forschungs- und Gestaltungshandeln ausgearbeitet hatte, kaperte: Gruppenarbeit, Autonomie, Dezentralisierung, Selbstverantwortung, Hierarchieabbau, Vergrößerung des Handlungsspielraums, Rotation et cetera. Eine neue Leistungspolitik, die nicht mehr auf Befehl und Gehorsam, sondern auf die Freiheit und Indienstnahme des Arbeitssubjekts für den Unternehmenszweck setzt, entwickelte sich, der die AIS wenig entgegenzusetzen hatte. Sie reagierte mit der Theorie der Subjektivierung und Entgrenzung, dem Theorem der i ndirekten Steuerung und mit Kritik der Scheinfreiheit, welche die neuen Arbeitsformen hervorbringe. Dennoch geriet die AIS in die Defensive, sie assimilierte sich an das neue Produktionsdispositiv, wenn auch mit kritischem Zungenschlag.
Die Gründe für den Bedeutungsverlust der AIS sind vielfältig, sie liegen in äußeren Einflüssen und in hausgemachten Problemen. Zu den äußeren Faktoren zählen die Zeitläufte, die dem AIS-Projekt Anschub geben oder es ausbremsen können. Es macht einen Unterschied für die Entwicklung interessanter Fragestellungen, ob, wie in den 70er Jahren, ein Reformklima herrscht (›Mehr Demokratie wagen‹, ‹Mitbestimmung‹, ›Humanisierung des Arbeitslebens‹) oder ob wie heute Wettbewerbsfähigkeit und Innovation die Catch-Words im gesellschaftlichen Diskurs sind. Weiterhin beeinträchtigen die Organisation des Forschungsbetriebs und die von der Politik angestoßenen Themenkonjunkturen (Digitalisierung, demographischer Wandel, Fachkräftemangel, Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Dekarbonisierung etc.) eine organische Fortentwicklung des Fachs.
Solch präjudizierte Themensetzungen werden durch bizarre Projektausschreibungen, eine kafkaeske Projektbürokratie, in der naturwissenschaftlich orientierte Projektträger über sozialwissenschaftliche Vorhaben wachen, und durch begleitende Ethikverträge (Datenschutz) in Forschungsaufträge verwandelt, welche die AIS zu grotesken Verrenkungen ihrer inhaltlichen Ausrichtung zwingen. Sie lenken von der eigentlichen Aufgabe der AIS ab, nämlich das Los der Beschäftigten zu verbessern (psychische Belastungen), die Herrschaft über sie zu mildern (Demokratisierung) und die Produktpolitik der Unternehmen zu reflektieren, eine Aufgabe, die sich angesichts des heraufziehenden Militär-Keynesianismus mit Dringlichkeit stellt.
Die internen Faktoren, also die im Fach selbst liegenden Gründe für die Lähmung der AIS, haben einen Vorlauf bis in ihre glorreiche Zeit zurück. Die AIS hatte immer einen verengten Blick auf die Arbeitswelt. Sie hat ihn im Großbetrieb und am dort herrschenden Taylorismus/Fordismus geschärft. Ja, man muss von einer obsessiven Befassung mit dem Taylorismus sprechen, so als ob er die Materialisierung der Marxschen Ausbeutungstheorie wäre. Anderen Arbeitsregimen wie dem ›Werkstattprinzip‹ oder der ›verantwortlichen Autonomie‹ wurde ebenso wie den Klein- und Mittelbetrieben, in denen das Gros der Beschäftigten zu finden ist, kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die Hilflosigkeit der AIS angesichts der Managementoffensive hat auch mit diesen Bornierungen zu tun. Weiterhin hat die AIS in ihren Forschungen die kulturelle Sphäre zunächst vollständig und später weitgehend ausgespart. Dass es nicht nur in der Gesellschaft Basis und Überbau gibt, sond ern auch im Unternehmen, hat sie ausgeblendet. Sie hat einem ökonomischen Reduktionismus gefrönt und vergessen, dass Unternehmen auch Gebilde der sozialen Integration sind. Selbst die Subjektivierungstheorie interessiert sich für die Arbeitssubjekte in erster Linie als Objekte unternehmerischer Strategien und kaum für deren Eigenleben im Betrieb. Schließlich hat es die Disziplin versäumt, ihr Marxsches Erbe weiterzuentwickeln und auf die verschiedenen Stadien des Kapitalismus – vom Fordismus über die japanische Offensive (lean production), die Globalisierung, die Finanzialisierung der Industrie bis hin zur Plattformökonomie – anzuwenden.
Weiter?
Gewiss wird der AIS die Arbeit nicht ausgehen. Die KI verlangt nach einer Technologiefolgenabschätzung, worin die Disziplin stark ist. Die KI gefährdet massenhaft Arbeitsplätze und Berufe. Sie übt aber ebenso gehörigen Druck auf die verbleibenden Arbeitskräfte aus. Von daher steht zu erwarten, dass die inzwischen wieder eingeschlafene Forschung zu den psychischen Belastungen moderner Arbeit reaktiviert wird – diesmal allerdings unter dem Vorzeichen der Resilienz, des Aushaltens von Druck und Veränderung. Gleichermaßen wird die arbeitssoziologische Expertise in der Frage der Arbeitszeit, die durch die Forderung nach ihrer Verlängerung und weiteren Flexibilisierung wieder virulent geworden ist, gebraucht.
Dennoch, ob das für eine langfristige Perspektive der AIS reichen wird, bleibt ungewiss. Die Zeiten werden härter, die finanziellen Spielräume enger, die Republik der Zeitenwende ist dabei, sich neu – wehrhaft und robust – zu formieren. Dass jetzt ein anderer Wind weht, zeigt sich deutlich an den Einlassungen zweier ehemals linksliberaler Berliner Institute. Das DIW fordert für Rentner (nicht für Pensionäre) einen Boomer-Soli und ein soziales Pflichtjahr, das WZB die Aufweichung der Mitbestimmung und des Kündigungsschutzes. Solches wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen, für den Abbau der Arbeitnehmer:innenrechte waren andere zuständig.
Um sich in dieser krisenhaften Neuformierung der Wirtschaft zu behaupten, um dabei überhaupt wahrgenommen zu werden, bräuchte die AIS zwei neue Forschungsstrategien. Die erste bestünde in einer gesellschaftstheoretischen Refundierung ihres empirischen Handelns. Sie müsste dazu beitragen, dass wir wieder verstehen, in welch einer Arbeits- und Wirtschaftswelt wir leben, was ihre Antriebskräfte und ihre Widersprüche sind. Die zweite Strategie bestünde in der Entwicklung eines überzeugenden Konzepts, das Ökonomie und Kultur des Betriebes zusammendenkt. Auf der ökonomischen Ebene gilt es, zu untersuchen, wie im Betrieb Arbeitskraft, die der Unternehmer gekauft hat, in Arbeit, die er vom Beschäftigten will und braucht, verwandelt wird (sog. Transformationsproblem). Auf der kulturellen Ebene wäre zu untersuchen, wie der Unternehmer seinen Betrieb sozial konstruiert und lebt und wie sich die Beschäftigten darauf einlassen (Sozialordnung des Betriebs). D ie Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen brächte eine spannende AIS hervor.
Ich danke den vielen Soziologen, die mir auf meine Fragen zur Zukunft der AIS geantwortet haben und deren Ansichten Eingang in diesen Artikel gefunden haben.
Josef Reindl, Jahrgang 1953, ist Diplom-Soziologe und hat zeit seines Berufslebens in sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten gearbeitet, die sich mit der Arbeitswelt beschäftigt haben: zunächst 35 Jahre beim Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft in Saarbrücken und danach beim Cogito-Institut für Autonomieforschung in Köln.
